Produktdetails
- Verlag: Arena
- ISBN-13: 9783401026442
- ISBN-10: 3401026445
- Artikelnr.: 11963952
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Wieviel Chancen haben Adoptiveltern? Irma Krauß erzählt von einer "Rabentochter"
Die vierzehnjährige Corinna ist eine Rabentochter. Sie hat es nie verwinden können, daß ihre Mutter sie im Alter von fünf Jahren zur Adoption freigegeben hat. Die Erinnerung an die Frau mit den blonden Haaren und hohen Stiefeln ist übermächtig. Die Zeit heilt die Wunde nicht, und Corinna tut viel, um sie offen zu halten. Sie läßt nichts aus, um sich und ihre Familie immer wieder wissen zu lassen, daß sie eigentlich woanders hingehört. Indem sie die Liebe der Adoptiveltern nicht erwidert, kann sie ihnen den schwersten Schlag versetzen, verkennt aber, daß sie sich selbst mit jedem Hieb verletzt. Die leibliche Mutter ist für Corinna zur Obsession geworden - wenn sie die erst einmal findet, wird alles gut.
Damit hat die Adoptivfamilie vom ersten Augenblick an keine Chance. Corinna kann sich nicht einlassen auf das behagliche Reihenhaus-Idyll; vor allem nicht auf die Frau, die Mutter genannt werden möchte. Alles verstehen wollen die Adoptiveltern, alles verzeihen, Vertrauen gegen Vertrauen. So gut sind sie, daß sie sogar fast Verständnis aufbringen für das undankbare, egoistische Kind, das seine innere Chaoslandschaft nicht vereinbaren kann mit der Harmoniesucht dieser äußeren Lebenswelt. Immer stört Corinna, schert aus, klaut und ißt maßlos, gegen jede Abmachung, nur von dem Gedanken erfüllt, die verlorene Mutter wiederzufinden.
Dem Schicksal eines solchen Mädchens zu folgen ist aufregend, und Irma Krauß kann die tiefe Verzweiflung und die zarte Hoffnung feinfühlig beschreiben. In ihrer psychischen Qual und ihrem physischen Schmerz wird Corinna lebendig. Doch dabei bleibt es nicht. Immer mehr packt die Autorin auf Corinnas schwache Schultern. Man lauert schon auf das nächste Elend, das sich dann auch prompt einstellt. Es ist wie ein unkündbares Abonnement auf Unglück und Mißvergnügen. Einem einzigen Menschen widerfährt all das, was normalerweise den Katastrophenbedarf einer Mädchenklasse decken würde: Nach einer Vergewaltigung auf der Party ihres Bruders wird Corinna schwanger. Als sie endlich ihren Zustand erkennt, ist es zu spät für einen Abbruch. Die Familie versucht nach dem ersten Schock zu helfen, doch Corinna weist die Hilfe zurück. Schließlich stöbert sie ihre leibliche Mutter auf und wird bitter enttäuscht. Die Frau sieht ihre Karriere als Politikerin gefährdet durch die Tochter, die plötzlich mehr zu werden droht als eine lästige Erinnerung an eine Jugendsünde, und ist bemüht, den Eindringling so schnell wie möglich loszuwerden.
Auch formal versucht Irma Krauß soviel wie möglich unterzubringen. Doch selbst in den mit "Ich" überschriebenen Kapiteln, die neben "Rückblende" und "Film ab" unterschiedliche Blickrichtungen auf Corinnas Leben ermöglichen sollen, findet kein echter Perspektivwechsel statt. Es genügt nicht, "ich" zu schreiben, aber im gleichen Duktus fortzufahren. Die Chance, hier authentisch sein zu können, wird nur selten genutzt. An wen wendet sich Corinna eigentlich? Wahrscheinlich an den Leser, und damit an eine völlig fremden Person; so wirken ihre Mitteilungen aus dem inneren Krieg wie inszeniert, theatralisch zugespitzt, manchmal aber auch papieren. Da ist jemand, der, wenn auch gebeutelt, auf den Effekt hin erzählt. Insofern sind die drei Ebenen des Textes gar nicht nötig, weil es genau genommen nur eine gibt, egal, woher die Beleuchtung kommt.
Irma Krauß scheint der eigenen Geschichte und der Kraft ihrer Heldin zu mißtrauen. Dabei ist Corinna eine interessante, starke Figur. Wenn sie nur nicht für alles herhalten müßte. Die Addition von Schicksalsschlägen führt weder zwangsläufig zu mehr Wahrhaftigkeit der Geschichte noch zur Betroffenheit des Betrachters. Weniger wäre in diesem Fall viel mehr gewesen. Schade um Corinna.
GABRIELE LEJA.
Irma Krauß: "Rabentochter". Aare by Sauerländer, Frankfurt 2000. 200 S., geb., 19,95 DM. Ab 12 J.
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