Produktdetails
  • Verlag: Btb
  • ISBN-13: 9783442723652
  • Artikelnr.: 24335349
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.1995

Sinnliche Kurve der Revolution
Objektiv, ohne Chance: Stefan Heym schickt Karl Radek aus

Dieses Buch kommt zehn Jahre zu spät. Damals, zu Beginn der Gorbatschow-Ära, hätte man es für politisch brisant halten können. In der DDR wäre es nicht erschienen. Trotzdem hätten es die Leute dort in die Finger bekommen. Mit einer Flasche sogenanntem Rotwein hätten sie sich über das Werk gebeugt und in emsiger Diskutierarbeit herauspräpariert, was in ihm steckt: die gutgemeinte Frage nämlich, wann denn nun der Sozialismus, der ursprünglich rechtschaffene, von seinen Idealen abwich.

Heute trinken die Menschen richtigen Rotwein, doch Stefan Heym läßt sich davon nicht beirren. Die Geschichte hat ihm einen Auftrag erteilt, und diesen erfüllt er konsequent. Er bleibt sich treu und macht, wie eh und je, das Nicht-Offizielle sichtbar, auch wenn das Offizielle längst verschwunden ist.

Hauptfigur seines neuen Romans "Radek" ist der Berufsrevolutionär Karl Radek, über den vierzig Jahre lang hinter der langen Mauer striktes Stillschweigen herrschte. Zweimal, in den Jahren 1919 und 1923, versuchte Radek als Entsandter der Kommunistischen Internationale eine Revolution in Deutschland anzuzetteln. Nachdem das mißlang, fiel er als Trotzkist in Ungnade. Er hatte der Idee der permanenten Weltrevolution angehangen, statt "dem Aufbau des Sozialismus in einem Lande" zu vertrauen. Im Jahr 1937 war er einer der Angeklagten bei den Moskauer Schauprozessen, wenig später kam er in einem sibirischen Arbeitslager ums Leben.

Doch der Titelheld ist nur scheinbar die wichtigste Person im Roman. Schnell beschleicht den Leser der Verdacht, daß Karl Radek nichts als ein willfähriges Medium seines Autors ist. Durch ihn möchte uns Stefan Heym seine Ansichten zum Scheitern der Linken im ersten Drittel dieses Jahrhunderts nahebringen.

Also beginnt das Buch nicht mit prägenden Kindheits- oder Jugenderinnerungen des Helden, sondern mit einem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie im Jahr 1913. Radek wird dort aus der Partei ausgeschlossen. Das ist für Heym ein willkommener Anlaß, die Beamtenmentalität der SPD-Spitze zu geißeln: Sie "glauben, daß sie, bequem zurückgelehnt im Sessel, nur abzuwarten brauchten, bis genug der Wählerstimmen zusammengekommen wären, damit sie ohne störende Erschütterungen, ohne die längst außer Mode gekommenen Barrikaden, hineingleiten könnten in den Sozialismus wie die wohl ausgestattete Jungfrau ins Ehebett."

Dieser bequeme Revisionismus mündet, so der Roman, später in der Burgfriedenspolitik und im endgültigen Verrat an den Idealen der Arbeiterbewegung. Vom mächtigen deutschen Proletariat im Stich gelassen, müssen die russischen Bolschewiki die Revolution alleine wagen. Als Lenin im April 1917 in Zürich gemeinsam mit Radek den plombierten Waggon besteigt, der sie beide zurück nach Rußland an die Spitze des Umsturzes expedieren soll, ahnt er die Unmöglichkeit des Vorhabens: "Auf jeden Fall wäre, schon weil Rußland ein Bauernland sei mit großem feudalen Grundbesitz, das Proletariat nicht in der Lage, mit eigenen Kräften allein eine sozialistische Revolution zu gewinnen."

In Petersburg angekommen und mit einem Zipfelchen Macht in der Hand, sieht die Sache ganz anders aus. Ein russischer Sozialismus erscheint auf einmal machbar. Doch muß er sich des Terrors bedienen und kann keine demokratischen Strukturen entwickeln. Weil Lenin zu früh stirbt, kommt Stalin zum Zuge, "die Verdrängung Europas aus der russischen Revolution durch die asiatische Despotie". Das geschichtsphilosophische Resümee Stefan Heyms: Der Sozialismus hatte objektiv keine Chance, er kam zu früh für die noch nicht erlösungsreife Menschheit.

Damit wäre der wesentliche Inhalt des Romans umrissen, der im Grunde genommen eine verkappte historische Studie ist. Das Schicksal des Helden dient nur der Illustration. Karl Radek ist immer dann zur Stelle, wenn die sozialistische Weltbewegung aufs falsche Gleis gerät. Er hat das zumeist vorher gewußt und quittiert es mit launigen Bemerkungen. Seine spezielle Begabung ist die Prophetie: Als in Petrograd die Revolution gerade richtig losgeht, raunt Radek bereits kassandrahaft: "Eines Tages wird man auch die Klügsten von uns wegwerfen wie unnützen Kehricht." Und als der Leningrader Parteichef Kirow 1933, ein Jahr vor seiner Ermordung, in der Sowjetunion den Höhepunkt seiner Popularität erreicht, gibt Karl Radek schon "keinen Pfifferling mehr für den Kopf des Genossen Kirow".

So genau Stefan Heym den biographischen Werdegang seines Protagonisten recherchiert hat, so wenig kümmert er sich um dessen literarische Gestaltung. Ideologie ersetzt bei ihm die Poesie. Radek ist ein fertiger Mann, als er das Buch betritt, und er ändert sich in seinem Verlauf keinen Deut. Intellektuell und witzig soll er sein, doch seine Beobachtungen sind von rührender Schlichtheit. Er begegnet Stalin und sieht "das harte Gesicht" und "den Mund, der keinen Widerspruch duldete". Er sitzt in seiner unzumutbaren Souterrainwohnung, die er "Loch" tauft, und hat "Aussicht auf die vorübereilenden Füße der Bevölkerung". Als er ins Gebäude der russischen Geheimpolizei verschleppt wird, empfindet er den Bau "allein schon durch die Wucht seiner Architektur furchterregend".

Es gibt kein Zeitkolorit in diesem Roman und nichts wirklich Privates. Alles ist dem Politischen untergeordnet. Wenn Revolutionäre flirten, klingt das so: ",Ich wiederum könnte einiges von Ihnen aufzählen, Karl Bernhardowitsch, wodurch ich gelernt habe: Präzision des Gedankens, Schärfe der Formulierung, Witz - Witz nicht im ordinären Sinne: Witz als Waffe und als ästhetisches Vergnügen. Auf meiner Wertskala sind Sie, und das ist einer der Gründe für mein Vertrauen zu Ihnen, ein ganz Großer.' So sehr ihre Worte ihm auch schmeichelten, sie klangen ihm zu beherrscht. ,Bei der Lektüre des meisten, was heute hierzulande gedruckt wird, Larissa Michailowna', sagte er, ,werde ich ebenso ungeduldig wie Sie. Welches Genre auch immer - die ewigen Worthülsen der Revolution!"

Die Frauen in "Radek" sind voller Nachsicht und Güte, wenn sie nicht gerade mit ihren "sinnlichen Kurven" oder "wogenden Busen" die Weltrevolution vorantreiben. Die Männer hingegen lümmeln sich im "Zentralstück" einer "höchst dekorativ plazierten Sitzgruppe", rauchen Zigarre oder Pfeife und politisieren in einem fort. Von Selbstzweifeln sind sie nicht geplagt, ebensowenig wie ihr Autor, der den Witz als Waffe und ästhetisches Vergnügen nicht zu kennen scheint. Dafür ist er auf ewig den Worthülsen der Konvention verpflichtet.

Kann man nach 1989 noch Stefan Heym lesen? Es ist eigentlich nur noch von archäologischem Interesse. Der Autor ist mit seinem Staat, dem er ein Leben lang kritisch die Treue hielt, untergegangen. Einst verband Heym scharfe Kritik an der sozialistischen Herrschaftspraxis mit einer unkündbaren Selbstverpflichtung auf die kommunistischen Ideale. Aus diesem Widerspruch bezog er seinen Stoff und seine literarische Legitimation. Der Vertreibung der Utopie aus der Wirklichkeit steht er nun distanz- und schutzlos gegenüber. Und plötzlich bleibt nichts mehr. MATTHIAS EHLERT

Stefan Heym: "Radek". Roman. C. Bertelsmann Verlag, München 1995. 569 S., geb., 49,80 DM.

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