In der Diskussion um Urteilsgrundlagen und Geltungsansprüche moderner Wissenschaften verweisen die Geisteswissenschaften häufig auf den sogenannten hermeneutischen Zirkel, der besagt, daß man immer nur nach den Mustern seiner Kultur zu denken vermag. Aber auch die Naturwissenschaften sind Teil unserer Kultur, und deren Objektivität wäre demnach ebenfalls historisch zu relativieren. Wie innerhalb dieser Relativierung dennoch Positionen bezogen und Orientierungen gefunden werden können, zeigt Olaf Breidbach in seinem neuen Buch. Er plädiert für eine konsequente, radikale Historisierung, die einen Weg weist, wie wir uns in unserer Geschichte selbst vergewissern und im Relativen zurechtfinden können.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.01.2012Machtvoller Fluss
mit Seitenarmen
Olaf Breidbach über die „radikale
Historisierung“ des Wissens
Wir steigen niemals in denselben Fluss hinein. Seit Heraklit diese Einsicht formuliert hat, sorgt sie in der philosophischen Reflexion des Abendlands für Unruhe: Ist unser Wissen am Ende bloß relativ? Können wir überhaupt Kriterien für die Wahrheit finden, wenn sich die Gegenstände und Bedingungen unseres Erkennens ständig ändern? Zerrinnt uns nicht jede Form von Geltung, wenn „alles fließt“?
Olaf Breidbach stellt sich der Provokation der heraklitischen These als Wissenschaftshistoriker und macht den Fluss zur Leitmetapher seines neuen Buches „Radikale Historisierung“. So schreibt er: „Unsere Erfahrung vollzieht sich im Rahmen der ihr vorgegebenen Dispositionen. Diese sind nicht fest, sondern werden durch die fortlaufende Integration von Neuem und die damit einhergehende Reintegration von Altem in Fluss gesetzt.“ Und ganz im Sinne Heraklits unterstreicht er: „Dabei müssen wir uns vor trügerischem Grund hüten, schließlich ist auch in der Natur alles im Fluss.“
Die Flussmetapher ist allerdings mehr als einfach ein wohlfeiler Ausdruck. Bemerkenswerterweise wird sie in diesem Buch immer wieder durch Terminologisierungen überlagert oder in Termini transformiert – als ob Breidbach seine Begriffe im Blick auf jenes vorsokratische Bild generierte: „Dennoch hat dieser Fluss seine Strukturen, er hat auch im Moment eine Richtung, er hat Größen und er hat Bestimmungen, die zumindest in Relation zu dem bisher Bekannten Positionierungen möglich machen.“ Trotz derartiger terminologischer Einholungen der fluvialen Metapher bleibt die darin konservierte philosophische Herausforderung Anlass und Ausgangspunkt des Buches.
„Radikal zu historisieren“ heißt nicht nur zu akzeptieren, dass wir „unsere Wertvorstellungen und Geltungsbestimmungen nur für eine bestimmte Zeit zu sichern vermögen“, sondern auch, dass wir nur in der konsequenten Relativierung der eigenen Position überhaupt erst Sicherheiten gewinnen können. Erst wenn wir als unbeirrte Herakliteer Abschied vom Absoluten nehmen, können wir uns unserer selbst und unseres Erkenntnishorizonts versichern. Ausgehend von diesem anthropologischen Kern des sich selbst historisierenden Wesens, spinnt Breidbach ein Netz von methodologischen Überlegungen, in denen er sowohl die hermeneutische Tradition von Wilhelm Dilthey bis Hans-Georg Gadamer als auch Vertreter der historischen Epistemologie wie Bruno Latour und Hans-Jörg Rheinberger sowie Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses auf seine Frage nach der Selbstversicherung angesichts ständig wechselnder „Objektivitäten“ hin zu Rate zieht.
Zentral ist dabei der Begriff der Kultur als ein Kommunikationsgefüge, das auch Handlungsräume und Praktiken bestimmt. Um die jeweilige Wissenschaftskultur beschreiben und analysieren zu können, arbeitet Breidbach vor allem mit der Rekonstruktion von Rezeptionsformen, seien es Rezeptionsidentitäten (Personen und Gruppen) oder Rezeptionsschichtungen. Bei der konkreten Darstellung der Kommunikationsvernetzungen kann Breidbach auf seine wissenschaftshistorischen und wissenschaftstheoretischen Arbeiten und nicht zuletzt auf seine Mikrostudien im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Ereignis Weimar Jena um 1800“, dessen Sprecher er war, zurückgreifen. So zeigt er etwa am Beispiel des Naturphilosophen Lorenz Oken, wie die Rezeption und frühe Einschätzung seines Werkes den wissenschaftlichen „Diskurs“ seiner Zeit maßgeblich bestimmte, weil es um die grundsätzliche Ausprägung der Naturphilosophie der Zeit ging. Jacob Friedrich Fries hat Oken gezielt in Abgrenzung von der Naturphilosophie Schelling’schen Typs verstehen wollen, gerade weil Oken als „Statthalter“ Schellings galt. Solche Rezeptionsstrategien lassen sich nicht auf Animositäten oder personelles Klein-Klein reduzieren, sondern sie dienen der Konturierung und Durchsetzung von Theoriegefügen. Solche Mikrostudien bestätigen Breidbach in seiner These, dass wir Sicherheiten über Wissensstrukturen gerade aus der Einsicht in das historisch Relative gewinnen können.
Am intensivsten setzt der Autor sich in seiner methodischen Grundlegung mit Michel Foucault auseinander. Doch auch wenn sich Breidbach der Diskursanalyse gern und konstruktiv bedient, kritisiert das Foucault’sche Machtkonzept. Und als guter Herakliteer greift er in seiner Korrektur an Foucault wieder auf das Bild des Flusses zurück: In seiner Fixierung auf die Macht vergesse dieser, „dass solch ein Strom in seinen Wirbeln, seinen Seitenarmen und im Strombett verschiedene ineinandergreifende Flusslinien kennt“. Neben der eingangs erwähnten Terminologisierung der Fluss-Metapher kann man hier die Metaphorisierung der Methodologie beobachten. Und dies keinesfalls zum Schaden des Autors: Metaphern sind nie einfach hübsche Epitheta, sondern geben Aufschluss, so würde es Hans Blumenberg ausdrücken, über die Substrukturen des Denkens.
OLIVER MÜLLER
OLAF BREIDBACH: Radikale Historisierung. Kulturelle Selbstversicherung im Postdarwinismus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 274 Seiten, 11 Euro.
Erst die konsequente Relativierung
der eigenen Position lässt
uns Sicherheiten gewinnen
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
mit Seitenarmen
Olaf Breidbach über die „radikale
Historisierung“ des Wissens
Wir steigen niemals in denselben Fluss hinein. Seit Heraklit diese Einsicht formuliert hat, sorgt sie in der philosophischen Reflexion des Abendlands für Unruhe: Ist unser Wissen am Ende bloß relativ? Können wir überhaupt Kriterien für die Wahrheit finden, wenn sich die Gegenstände und Bedingungen unseres Erkennens ständig ändern? Zerrinnt uns nicht jede Form von Geltung, wenn „alles fließt“?
Olaf Breidbach stellt sich der Provokation der heraklitischen These als Wissenschaftshistoriker und macht den Fluss zur Leitmetapher seines neuen Buches „Radikale Historisierung“. So schreibt er: „Unsere Erfahrung vollzieht sich im Rahmen der ihr vorgegebenen Dispositionen. Diese sind nicht fest, sondern werden durch die fortlaufende Integration von Neuem und die damit einhergehende Reintegration von Altem in Fluss gesetzt.“ Und ganz im Sinne Heraklits unterstreicht er: „Dabei müssen wir uns vor trügerischem Grund hüten, schließlich ist auch in der Natur alles im Fluss.“
Die Flussmetapher ist allerdings mehr als einfach ein wohlfeiler Ausdruck. Bemerkenswerterweise wird sie in diesem Buch immer wieder durch Terminologisierungen überlagert oder in Termini transformiert – als ob Breidbach seine Begriffe im Blick auf jenes vorsokratische Bild generierte: „Dennoch hat dieser Fluss seine Strukturen, er hat auch im Moment eine Richtung, er hat Größen und er hat Bestimmungen, die zumindest in Relation zu dem bisher Bekannten Positionierungen möglich machen.“ Trotz derartiger terminologischer Einholungen der fluvialen Metapher bleibt die darin konservierte philosophische Herausforderung Anlass und Ausgangspunkt des Buches.
„Radikal zu historisieren“ heißt nicht nur zu akzeptieren, dass wir „unsere Wertvorstellungen und Geltungsbestimmungen nur für eine bestimmte Zeit zu sichern vermögen“, sondern auch, dass wir nur in der konsequenten Relativierung der eigenen Position überhaupt erst Sicherheiten gewinnen können. Erst wenn wir als unbeirrte Herakliteer Abschied vom Absoluten nehmen, können wir uns unserer selbst und unseres Erkenntnishorizonts versichern. Ausgehend von diesem anthropologischen Kern des sich selbst historisierenden Wesens, spinnt Breidbach ein Netz von methodologischen Überlegungen, in denen er sowohl die hermeneutische Tradition von Wilhelm Dilthey bis Hans-Georg Gadamer als auch Vertreter der historischen Epistemologie wie Bruno Latour und Hans-Jörg Rheinberger sowie Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses auf seine Frage nach der Selbstversicherung angesichts ständig wechselnder „Objektivitäten“ hin zu Rate zieht.
Zentral ist dabei der Begriff der Kultur als ein Kommunikationsgefüge, das auch Handlungsräume und Praktiken bestimmt. Um die jeweilige Wissenschaftskultur beschreiben und analysieren zu können, arbeitet Breidbach vor allem mit der Rekonstruktion von Rezeptionsformen, seien es Rezeptionsidentitäten (Personen und Gruppen) oder Rezeptionsschichtungen. Bei der konkreten Darstellung der Kommunikationsvernetzungen kann Breidbach auf seine wissenschaftshistorischen und wissenschaftstheoretischen Arbeiten und nicht zuletzt auf seine Mikrostudien im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Ereignis Weimar Jena um 1800“, dessen Sprecher er war, zurückgreifen. So zeigt er etwa am Beispiel des Naturphilosophen Lorenz Oken, wie die Rezeption und frühe Einschätzung seines Werkes den wissenschaftlichen „Diskurs“ seiner Zeit maßgeblich bestimmte, weil es um die grundsätzliche Ausprägung der Naturphilosophie der Zeit ging. Jacob Friedrich Fries hat Oken gezielt in Abgrenzung von der Naturphilosophie Schelling’schen Typs verstehen wollen, gerade weil Oken als „Statthalter“ Schellings galt. Solche Rezeptionsstrategien lassen sich nicht auf Animositäten oder personelles Klein-Klein reduzieren, sondern sie dienen der Konturierung und Durchsetzung von Theoriegefügen. Solche Mikrostudien bestätigen Breidbach in seiner These, dass wir Sicherheiten über Wissensstrukturen gerade aus der Einsicht in das historisch Relative gewinnen können.
Am intensivsten setzt der Autor sich in seiner methodischen Grundlegung mit Michel Foucault auseinander. Doch auch wenn sich Breidbach der Diskursanalyse gern und konstruktiv bedient, kritisiert das Foucault’sche Machtkonzept. Und als guter Herakliteer greift er in seiner Korrektur an Foucault wieder auf das Bild des Flusses zurück: In seiner Fixierung auf die Macht vergesse dieser, „dass solch ein Strom in seinen Wirbeln, seinen Seitenarmen und im Strombett verschiedene ineinandergreifende Flusslinien kennt“. Neben der eingangs erwähnten Terminologisierung der Fluss-Metapher kann man hier die Metaphorisierung der Methodologie beobachten. Und dies keinesfalls zum Schaden des Autors: Metaphern sind nie einfach hübsche Epitheta, sondern geben Aufschluss, so würde es Hans Blumenberg ausdrücken, über die Substrukturen des Denkens.
OLIVER MÜLLER
OLAF BREIDBACH: Radikale Historisierung. Kulturelle Selbstversicherung im Postdarwinismus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 274 Seiten, 11 Euro.
Erst die konsequente Relativierung
der eigenen Position lässt
uns Sicherheiten gewinnen
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Oliver Müller begrüßt diese Studie des Wissenschaftshistorikers Olaf Breidbach, der dafür plädiert, Wissen als relativ zu begreifen. Wie Müller in seiner etwas akademischen Kritik nachzeichnet, will Breidbach deutlich machen, dass Erkenntnisse niemals absolut sind, sondern eingebettet in ein Gefüge aus Rezeptionsstrategien, -formen und -identitäten. Dies macht der Autor unter anderem am Beispiel des Naturphilosophen Lorenz Oken dem Rezensenten deutlich. Die offenbar von Breidbach stark ausgereizte Metapher des Flusses, in den wir bekanntlich nur einmal steigen können, erinnert den Rezensenten an Blumenberg, der davon sprach, wie sehr auch Metaphern unser Denken strukturieren, womit er Breidbachs Grundgedanken offenbar bekräftigt sieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH