Kurz vor seinem Tod erzählte Plenty Coups, der letzte große Häuptling der Crow, seine Geschichte - bis zu einem gewissen Punkt: »Als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist nichts mehr geschehen.« Diese verstörende Äußerung über ein Volk, das vor dem Ende seiner Lebensweise steht, ist Ausgangspunkt für Jonathan Lears bewegende philosophische Untersuchung. Ihm zufolge wirft die Geschichte von Plenty Coups eine tiefgreifende ethische Frage auf, die uns alle angeht: Wie sollen wir mit der Möglichkeit umgehen, dass unsere eigene Kultur zusammenbrechen könnte, wie mit dieser Verwundbarkeit leben? Ist es sinnvoll, sich einer solchen Herausforderung mutig zu stellen?
Auf Grundlage der Anthropologie und Geschichte der nordamerikanischen Ureinwohner und mittels Philosophie und psychoanalytischer Theorie erforscht Lear die Geschichte der Crow im Angesicht der kulturellen Zerstörung. Sein Buch ist eine tiefschürfende und höchst originelle philosophische Studie über eine eigentümliche Verletzlichkeit, die den Kern der conditio humana betrifft.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Auf Grundlage der Anthropologie und Geschichte der nordamerikanischen Ureinwohner und mittels Philosophie und psychoanalytischer Theorie erforscht Lear die Geschichte der Crow im Angesicht der kulturellen Zerstörung. Sein Buch ist eine tiefschürfende und höchst originelle philosophische Studie über eine eigentümliche Verletzlichkeit, die den Kern der conditio humana betrifft.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2020Die Lehre des Häuptlings
Wie weiterleben, wenn die eigene Kultur untergegangen ist? Jonathan Lears großartiges Buch "Radikale Hoffnung"
Plenty Coups war ein Häuptling der Crow. Kurz vor seinem Tod 1932 erzählte er einem weißen Mann sein Leben. Er sagte: "Ich kann mich zurückerinnern und dir vieles mehr vom Krieg und vom Pferdestehlen berichten. Aber als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist nichts mehr geschehen." Der letzte Satz markierte eine Grenze in der Geschichte der Crow. Sie hatten ihr traditionelles Lebens aufgegeben und waren zwischen 1882 und 1885 in ein Reservat gezogen.
In den späten Achtzigern hörte der in Chicago lehrende Philosoph Jonathan Lear einen Vortrag des Historikers William Cronon in der Yale University, in dem auch dieser dunkle Satz fiel. Lear ließ er nicht mehr los. Sein Buch ist ein Gedankenexperiment darüber, was Plenty Coups mit diesem Satz gemeint haben könnte und was er für alle Menschen bedeuten kann. Der Leser ist gut beraten, dieses Buch langsam und aufmerksam zu lesen. Es ist in seinerArt einzigartig.
Die Crow waren ein nomadischer Stamm, sie mussten ihr Gebiet gegenüber anderen Stämmen verteidigen. Ihre Feinde waren die Sioux. In den Jahren von Plenty Coups Kindheit geriet der Stamm in große Bedrängnis. Die Sioux waren übermächtig geworden, und es sah so aus, als würden sie die Crow auslöschen. In dieser verzweifelten Lage beschlossen die Crow, sich mit den Weißen, die gekommen waren, um sich das Land der Indianer zu nehmen, zu verbünden und mit ihnen in den Kampf gegen die Sioux zu ziehen.
Plenty Coups wurde 1848 geboren. Im Alter von acht und neun Jahren hatte er zwei besondere Träume. Die Träume spielen für Lear eine wichtige Rolle bei der Deutung jenes dunklen letzten Satzes des Häuptlings. Seit seinem Einzug ins Reservat ließ sich das Leben des Stammes nicht mehr nach der üblichen Auffassung dessen gestalten, was es hieß, ein Crow zu sein. Mit der traditionellen Lebensweise waren auch die Begriffe untergegangen, die mit ihr verbunden waren. Die Crow verstanden sich selbst nicht mehr. Jeder, der eine Epoche kulturellen Wandels erlebt hat, durch die er sich entwurzelt vorkam, kann sich eine Vorstellung davon machen, was diese Leere für die Crow bedeutete.
Als die Crow noch ein Stamm waren, der in Freiheit lebte, definierten sie sich durch die Jagd und den Krieg und durch alles, was damit zusammenhing. Mut spielte in ihrem Leben als Jäger und Krieger eine ausschlaggebende Rolle. Im Reservat aber war kein Platz für diese Art Mut. Die Crow waren hier keine Jäger und keine Krieger mehr, sie durften es nicht sein. Ihr Häuptling Plenty Coups hielt trotz dieser Entwicklung, auf die manche Mitglieder des Stammes mit Verzweiflung und Rebellion reagierten, daran fest, dass die Entscheidung richtig gewesen war, sich der Lebensweise der Weißen anzupassen. Er selbst ließ sich kirchlich taufen und trauen, erlernte die Landwirtschaft und suchte den Kontakt mit der Regierung in Washington.
Lear sieht in dem Häuptling einen exemplarischen Menschen, der Zeuge einer besonderen Form menschlicher Verletzlichkeit wurde. Das Gefühl dafür, sagt Lear, sei uns auch in unserer Kultur nicht fremd: Wir werden von ihm überwältigt, sobald uns Terrorangriffe, Naturkatastrophen und soziale Umwälzungen bedrohen. Wir reagieren auf solche großen Herausforderungen mit Intoleranz gegenüber allem, was uns fremd und nicht geheuer ist. Offenbar sind wir gerade unter Druck der Ansicht, dass die Perspektive, wie wir die Welt sehen, zusammenbrechen wird, wenn wir nicht daran festhalten, dass allein wir es sind, die die Welt richtig sehen. Gibt es nicht, fragt Lear, bessere, klügere Wege, mit dem Gefühl der Verletzlichkeit zu leben? Sein Buch versteht er als eine ethische Untersuchung darüber, wie wir mit der Möglichkeit leben sollen, dass die eigene Lebensweise zerstört wird.
Plenty Coups hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich die Dinge für die Crow zum Guten entwickeln würden. Lear nennt jene Hoffnung radikal, die sich vor der, wie er sagt, ontologischen Verletzlichkeit des Menschen behaupten kann. Sie beharrt darauf, dass noch etwas Gutes hervortreten wird, auch wenn das traditionelle Verständnis von Welt und Selbst untergeht und keine neuen Begriffe vorhanden sind, mit denen sich das zukünftige Gute verständlich machen lässt.
Plenty Coups Name leitete sich ab von einer besonderen Handlung der Crow, bei der ein Stab, der Coup-Stab, eine Rolle spielte. Ein Crow markierte mit ihm eine Grenze und machte seinem Feind dadurch deutlich, dass er alles tun werde, diese Linie und den dahinter liegenden Raum zu verteidigen. Den Stab setzen bedeutete, Anerkennung vom Feind zu fordern, bevor der Kampf begonnen hatte. In der Kultur der Crow gab es nur Siegen oder Sterben, etwas Drittes gab es nicht. Der Einzug ins Reservat widersprach dieser Lebenseinstellung. Es gab keinen Kampf mehr, so wie es im Reservat keine Krieger mehr gab. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten als Fundament des traditionellen Verständnisses von Welt und Selbst war hinfällig geworden, und mit ihm löste sich auf, was ein Ereignis in der alten Kultur gewesen war. Damals hatte sich alle Zeitlichkeit in den Taten erfüllt, die mit Jagd, Kampf und den entsprechenden Vorbereitungen verbunden gewesen waren. Ohne diese Taten ging den Crow die Zeit verloren. Deswegen konnte Plenty Coups sagen: "Danach ist nichts mehr geschehen." Mit diesem Satz legte er Zeugnis ab von einem einschneidenden Verlust, der nicht zu den üblichen Ereignissen gezählt werden konnte, da die Lebensweise nicht mehr existierte, in deren Rahmen Ereignisse überhaupt möglich waren. Indem er darauf beharrte, dass der Zusammenbruch der Zeitlichkeit selber nicht als ein Ereignis verstanden werden konnte, bewies er seine Treue zur alten Kultur.
Im Reservat war es den Crow nicht möglich, auf traditionelle Weise nach Glück zu streben, ja, ihre Auffassung davon, was Glück war, konnte sich nicht mehr in einer bestimmten Form des Lebens zeigen. Mit dem Untergang der Lebensweise wurde der Zweck, das Telos des Lebens zerstört. In dieser Lage konnte nur eine Vorstellung vom Guten weiterhelfen, die hinausging über das, was bisher als gut gegolten hatte. Lear weist in diesem Zusammenhang auf Kierkegaard hin und dessen Diktum von einer theologischen Suspension des Ethischen. Wer glaube, sagte Kierkegaard, habe die Welt des Ethischen mit einem Sprung hinter sich gelassen und sei, in einem neuen Leben, nur noch Gott verantwortlich.
Plenty Coups war davon überzeugt, dass in der Zukunft der Crow etwas Gutes hervortreten würde. Die Güte der Welt war in seinem Verständnis größer, als er zu wissen fähig sein konnte. Radikale Hoffnung, sagt Lear, antizipiere ein Gut, für das allen Menschen, die diese Hoffnung hegen, die angemessenen Begriffe zum Verständnis fehlen.
Im ersten seiner beiden entscheidenden Träume hatte der junge Plenty Coups geträumt, dass alle Bäume eines Walds von Winden zerstört würden bis auf einen einzigen. In seinem zweiten Traum wurde ihm gesagt, dass er sich verhalten solle wie die Meise. Der Vogel galt bei den Crow als weise, da er gut zuhörte und gut lernte. Durch die Treue, die Plenty Coups seinen Träumen bewahrte, gelang es ihm, die Zerstörung einer Lebensweise in eine, wie Lear in einer säkularisierten Abwandlung von Kierkegaards Diktum sagt, teleologische Suspension des Ethischen umzuwandeln. Was gut gewesen war, galt nicht mehr. Was gut sein könnte, würde sich noch zeigen. Für die Crow, hieß das, würden sich Formen des Glücks und des guten Lebens ergeben, sie müssten sich nur an die Tugenden der Meise halten, dem weißen Mann zuhören und von ihm lernen.
Plenty Coups öffnete den Crow auf diese Weise einen traditionellen Weg nach vorne, in die Zukunft, der sich von dem traditionellen Weg unterschied, den Häuptlinge anderer Stämme gingen, als sie den unerbittlichen Kampf gegen die Weißen einer Kooperation mit den Weißen vorzogen.
Mut zu haben und zu zeigen, sagt Lear, erfordere, dass ein Mensch sein Gefühl für Ehre und Scham kontrollieren kann. Mutig ist nicht, wer sich blind in den Kampf stürzt oder an alten Idealen stur festhält. Plenty Coups träumte von einem neuen Modell des Muts. Der Kultur der Weißen sollten die Crow mit der Bereitschaft, das neue Wissen sich anzueignen, begegnen. In einer Zeit kultureller Zerstörung, sagt Lear, bestehe die Wirklichkeit, der sich eine mutige Person stellen muss, darin, dass sie der Wirklichkeit auf eine neue Weise gegenübertritt. Mutig ist, wer gut mit den Risiken zu leben versteht, von denen das menschliche Dasein nicht frei sei. Radikale Hoffnung, die hilft, Mut zu fassen, wenn die eigene Lebensweise zerstört wird, schöpft selber Mut aus dem Wissen, dass die Güte der Welt unser gegenwärtiges Vermögen, sie zu erfassen, übersteigt.
Für die Crow, die an Geister und an einen Gott glaubten, waren Träume Ausdruck eines sinnvollen Universums. Wem, so Lear, dieser Glaube fremd sei, wird doch eingestehen müssen, dass wir nicht fähig sind, das zukünftige Gute der Welt zu erkennen. In dieser Einsicht liegt das Bekenntnis zu einer säkularen Transzendenz, die keine Religion braucht, um die Hoffnung am Leben zu erhalten, auch eine radikale Hoffnung, wie sie am Ende der eigenen Kultur und Lebensweise notwendig sein wird.
EBERHARD RATHGEB.
Jonathan Lear: "Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung". Aus dem Amerikanischen von Jens Pier. Suhrkamp, 236 Seiten, 28 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie weiterleben, wenn die eigene Kultur untergegangen ist? Jonathan Lears großartiges Buch "Radikale Hoffnung"
Plenty Coups war ein Häuptling der Crow. Kurz vor seinem Tod 1932 erzählte er einem weißen Mann sein Leben. Er sagte: "Ich kann mich zurückerinnern und dir vieles mehr vom Krieg und vom Pferdestehlen berichten. Aber als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist nichts mehr geschehen." Der letzte Satz markierte eine Grenze in der Geschichte der Crow. Sie hatten ihr traditionelles Lebens aufgegeben und waren zwischen 1882 und 1885 in ein Reservat gezogen.
In den späten Achtzigern hörte der in Chicago lehrende Philosoph Jonathan Lear einen Vortrag des Historikers William Cronon in der Yale University, in dem auch dieser dunkle Satz fiel. Lear ließ er nicht mehr los. Sein Buch ist ein Gedankenexperiment darüber, was Plenty Coups mit diesem Satz gemeint haben könnte und was er für alle Menschen bedeuten kann. Der Leser ist gut beraten, dieses Buch langsam und aufmerksam zu lesen. Es ist in seinerArt einzigartig.
Die Crow waren ein nomadischer Stamm, sie mussten ihr Gebiet gegenüber anderen Stämmen verteidigen. Ihre Feinde waren die Sioux. In den Jahren von Plenty Coups Kindheit geriet der Stamm in große Bedrängnis. Die Sioux waren übermächtig geworden, und es sah so aus, als würden sie die Crow auslöschen. In dieser verzweifelten Lage beschlossen die Crow, sich mit den Weißen, die gekommen waren, um sich das Land der Indianer zu nehmen, zu verbünden und mit ihnen in den Kampf gegen die Sioux zu ziehen.
Plenty Coups wurde 1848 geboren. Im Alter von acht und neun Jahren hatte er zwei besondere Träume. Die Träume spielen für Lear eine wichtige Rolle bei der Deutung jenes dunklen letzten Satzes des Häuptlings. Seit seinem Einzug ins Reservat ließ sich das Leben des Stammes nicht mehr nach der üblichen Auffassung dessen gestalten, was es hieß, ein Crow zu sein. Mit der traditionellen Lebensweise waren auch die Begriffe untergegangen, die mit ihr verbunden waren. Die Crow verstanden sich selbst nicht mehr. Jeder, der eine Epoche kulturellen Wandels erlebt hat, durch die er sich entwurzelt vorkam, kann sich eine Vorstellung davon machen, was diese Leere für die Crow bedeutete.
Als die Crow noch ein Stamm waren, der in Freiheit lebte, definierten sie sich durch die Jagd und den Krieg und durch alles, was damit zusammenhing. Mut spielte in ihrem Leben als Jäger und Krieger eine ausschlaggebende Rolle. Im Reservat aber war kein Platz für diese Art Mut. Die Crow waren hier keine Jäger und keine Krieger mehr, sie durften es nicht sein. Ihr Häuptling Plenty Coups hielt trotz dieser Entwicklung, auf die manche Mitglieder des Stammes mit Verzweiflung und Rebellion reagierten, daran fest, dass die Entscheidung richtig gewesen war, sich der Lebensweise der Weißen anzupassen. Er selbst ließ sich kirchlich taufen und trauen, erlernte die Landwirtschaft und suchte den Kontakt mit der Regierung in Washington.
Lear sieht in dem Häuptling einen exemplarischen Menschen, der Zeuge einer besonderen Form menschlicher Verletzlichkeit wurde. Das Gefühl dafür, sagt Lear, sei uns auch in unserer Kultur nicht fremd: Wir werden von ihm überwältigt, sobald uns Terrorangriffe, Naturkatastrophen und soziale Umwälzungen bedrohen. Wir reagieren auf solche großen Herausforderungen mit Intoleranz gegenüber allem, was uns fremd und nicht geheuer ist. Offenbar sind wir gerade unter Druck der Ansicht, dass die Perspektive, wie wir die Welt sehen, zusammenbrechen wird, wenn wir nicht daran festhalten, dass allein wir es sind, die die Welt richtig sehen. Gibt es nicht, fragt Lear, bessere, klügere Wege, mit dem Gefühl der Verletzlichkeit zu leben? Sein Buch versteht er als eine ethische Untersuchung darüber, wie wir mit der Möglichkeit leben sollen, dass die eigene Lebensweise zerstört wird.
Plenty Coups hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich die Dinge für die Crow zum Guten entwickeln würden. Lear nennt jene Hoffnung radikal, die sich vor der, wie er sagt, ontologischen Verletzlichkeit des Menschen behaupten kann. Sie beharrt darauf, dass noch etwas Gutes hervortreten wird, auch wenn das traditionelle Verständnis von Welt und Selbst untergeht und keine neuen Begriffe vorhanden sind, mit denen sich das zukünftige Gute verständlich machen lässt.
Plenty Coups Name leitete sich ab von einer besonderen Handlung der Crow, bei der ein Stab, der Coup-Stab, eine Rolle spielte. Ein Crow markierte mit ihm eine Grenze und machte seinem Feind dadurch deutlich, dass er alles tun werde, diese Linie und den dahinter liegenden Raum zu verteidigen. Den Stab setzen bedeutete, Anerkennung vom Feind zu fordern, bevor der Kampf begonnen hatte. In der Kultur der Crow gab es nur Siegen oder Sterben, etwas Drittes gab es nicht. Der Einzug ins Reservat widersprach dieser Lebenseinstellung. Es gab keinen Kampf mehr, so wie es im Reservat keine Krieger mehr gab. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten als Fundament des traditionellen Verständnisses von Welt und Selbst war hinfällig geworden, und mit ihm löste sich auf, was ein Ereignis in der alten Kultur gewesen war. Damals hatte sich alle Zeitlichkeit in den Taten erfüllt, die mit Jagd, Kampf und den entsprechenden Vorbereitungen verbunden gewesen waren. Ohne diese Taten ging den Crow die Zeit verloren. Deswegen konnte Plenty Coups sagen: "Danach ist nichts mehr geschehen." Mit diesem Satz legte er Zeugnis ab von einem einschneidenden Verlust, der nicht zu den üblichen Ereignissen gezählt werden konnte, da die Lebensweise nicht mehr existierte, in deren Rahmen Ereignisse überhaupt möglich waren. Indem er darauf beharrte, dass der Zusammenbruch der Zeitlichkeit selber nicht als ein Ereignis verstanden werden konnte, bewies er seine Treue zur alten Kultur.
Im Reservat war es den Crow nicht möglich, auf traditionelle Weise nach Glück zu streben, ja, ihre Auffassung davon, was Glück war, konnte sich nicht mehr in einer bestimmten Form des Lebens zeigen. Mit dem Untergang der Lebensweise wurde der Zweck, das Telos des Lebens zerstört. In dieser Lage konnte nur eine Vorstellung vom Guten weiterhelfen, die hinausging über das, was bisher als gut gegolten hatte. Lear weist in diesem Zusammenhang auf Kierkegaard hin und dessen Diktum von einer theologischen Suspension des Ethischen. Wer glaube, sagte Kierkegaard, habe die Welt des Ethischen mit einem Sprung hinter sich gelassen und sei, in einem neuen Leben, nur noch Gott verantwortlich.
Plenty Coups war davon überzeugt, dass in der Zukunft der Crow etwas Gutes hervortreten würde. Die Güte der Welt war in seinem Verständnis größer, als er zu wissen fähig sein konnte. Radikale Hoffnung, sagt Lear, antizipiere ein Gut, für das allen Menschen, die diese Hoffnung hegen, die angemessenen Begriffe zum Verständnis fehlen.
Im ersten seiner beiden entscheidenden Träume hatte der junge Plenty Coups geträumt, dass alle Bäume eines Walds von Winden zerstört würden bis auf einen einzigen. In seinem zweiten Traum wurde ihm gesagt, dass er sich verhalten solle wie die Meise. Der Vogel galt bei den Crow als weise, da er gut zuhörte und gut lernte. Durch die Treue, die Plenty Coups seinen Träumen bewahrte, gelang es ihm, die Zerstörung einer Lebensweise in eine, wie Lear in einer säkularisierten Abwandlung von Kierkegaards Diktum sagt, teleologische Suspension des Ethischen umzuwandeln. Was gut gewesen war, galt nicht mehr. Was gut sein könnte, würde sich noch zeigen. Für die Crow, hieß das, würden sich Formen des Glücks und des guten Lebens ergeben, sie müssten sich nur an die Tugenden der Meise halten, dem weißen Mann zuhören und von ihm lernen.
Plenty Coups öffnete den Crow auf diese Weise einen traditionellen Weg nach vorne, in die Zukunft, der sich von dem traditionellen Weg unterschied, den Häuptlinge anderer Stämme gingen, als sie den unerbittlichen Kampf gegen die Weißen einer Kooperation mit den Weißen vorzogen.
Mut zu haben und zu zeigen, sagt Lear, erfordere, dass ein Mensch sein Gefühl für Ehre und Scham kontrollieren kann. Mutig ist nicht, wer sich blind in den Kampf stürzt oder an alten Idealen stur festhält. Plenty Coups träumte von einem neuen Modell des Muts. Der Kultur der Weißen sollten die Crow mit der Bereitschaft, das neue Wissen sich anzueignen, begegnen. In einer Zeit kultureller Zerstörung, sagt Lear, bestehe die Wirklichkeit, der sich eine mutige Person stellen muss, darin, dass sie der Wirklichkeit auf eine neue Weise gegenübertritt. Mutig ist, wer gut mit den Risiken zu leben versteht, von denen das menschliche Dasein nicht frei sei. Radikale Hoffnung, die hilft, Mut zu fassen, wenn die eigene Lebensweise zerstört wird, schöpft selber Mut aus dem Wissen, dass die Güte der Welt unser gegenwärtiges Vermögen, sie zu erfassen, übersteigt.
Für die Crow, die an Geister und an einen Gott glaubten, waren Träume Ausdruck eines sinnvollen Universums. Wem, so Lear, dieser Glaube fremd sei, wird doch eingestehen müssen, dass wir nicht fähig sind, das zukünftige Gute der Welt zu erkennen. In dieser Einsicht liegt das Bekenntnis zu einer säkularen Transzendenz, die keine Religion braucht, um die Hoffnung am Leben zu erhalten, auch eine radikale Hoffnung, wie sie am Ende der eigenen Kultur und Lebensweise notwendig sein wird.
EBERHARD RATHGEB.
Jonathan Lear: "Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung". Aus dem Amerikanischen von Jens Pier. Suhrkamp, 236 Seiten, 28 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Das richtige Buch zur richtigen Zeit, findet Rezensent Carsten Hueck. Der amerikanische Philosoph Jonathan Lear erzählt am Beispiel der Crow-Indianer, wie eine Kultur untergeht, wie man sich an sie erinnert und wie man angesichts des Verlusts der eigenen kulturellen Identität dennoch die Hoffnung - radikale Hoffnung, nennt Lear das - bewahrt, so Hueck. Er fand das im Original bereits 2006 erschienene Buch nicht nur sehr gut lesbar, sondern auch sehr aktuell. Denn was Lear am Beispiel der Crow erzählt, könnte uns auch bald blühen, fürchtet der Rezensent. Und zum Teil ist es ja auch schon geschehen: Hueck hat beim Lesen immer wieder die untergegangene DDR oder arbeitslose Kumpel vor Augen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Hochergiebige Spekulation an der Hand des Crow-Häuptlings Plenty Coups.« Mark Siemons Frankfurter Allgemeine Zeitung 20201123