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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2024

Die Lösung Isaaks

Nicht nur textkritisch zweifelhaft: Omri Boehms Genesis-Redigat opfert der Genealogie seines Universalismus den für die Juden entscheidenden Bund Gottes mit Moses.

Mit seinem Buch über den "Radikalen Universalismus" (siehe zuletzt F.A.Z. vom 10. April) hat Omri Boehm ein fulminantes Plädoyer für einen ethischen Universalismus vorgelegt. Boehms Universalismus steht als absolute und abstrakte Wahrheit, als "metaphysische Menschheitsidee", vor und über allen angemaßten Pseudowahrheiten - als da sind identitäre Bewegungen, Liberalismus, ethnischer Nationalismus und anderes mehr. In seiner philosophischen Ausprägung steht er auch über der Demokratie und in seiner theologischen Spielart über Gott.

Philosophisch sei der radikale Universalismus erstmals von Immanuel Kant in seiner berühmten Schrift "Was ist Aufklärung" von 1784 formuliert worden. Kant sei der erste moderne Denker gewesen, der die "Idee der Menschheit" als moralischen Begriff definierte. Wir akzeptieren die Autorität der moralischen Gesetze nach Boehms Kant-Deutung aber nicht deswegen, weil Gott sie uns befohlen hat, sondern weil wir diese im Vollzug unserer Mündigkeit als selbstbestimmte Menschen erkennen und anerkennen.

Tatsächlich habe Kant aber, das ist nun Boehms Beitrag zu dieser Diskussion, nur etwas säkular-philosophisch gefasst, was bereits in der Hebräischen Bibel oder im sogenannten Alten Testament vorgegeben ist. Das Paradebeispiel, an dem Boehm diese Erkenntnis demonstriert, ist die Perikope von der "Opferung Isaaks" in Genesis 22, die im Deutschen besser "Erprobung Isaaks" genannt wird und im Hebräischen "Bindung Isaaks". Es ist dies die bis heute zutiefst verstörende Erzählung von Gott, der Abraham "auf die Probe stellte", indem er ihm befahl, seinen einzigen Sohn Isaak als Brandopfer darzubringen. Abraham folgt dem Befehl Gottes, bindet Isaak, legt ihn auf einen Altar und streckt seine Hand aus, um seinen Sohn zu "schlachten", wie es in der Terminologie des (späteren) Tempelopfers heißt.

Indem er das Opfer aber im letzten Moment nicht vollzieht, folge Abraham dem Moralgesetz in seinem inneren Kompass und verweigere sich dem göttlichen Befehl zum Menschenopfer. Diese überraschende Deutung gewinnt Boehm durch den Kunstgriff, schlicht die beiden Verse im Bibeltext zu streichen, in denen der Engel Gottes interveniert und Abraham befiehlt, seinen Sohn zu verschonen und stattdessen einen plötzlich aufgetauchten Widder zu opfern. Dadurch ergebe sich ein sehr viel flüssigerer und verständlicherer Erzählduktus.

Dieses Vorgehen Boehms, das in den meisten Besprechungen seines Buches als brillante philologische Rekonstruktion gerühmt wird, steht aber textkritisch auf äußerst wackeligen Füssen. Es stützt sich auf die Anwendung einer Prämisse, wonach sich aufgrund der unterschiedlichen Verwendung der Gottesnamen Elohim (meist mit "Gott" übersetzt) und JHWH (meist mit "der Herr" übersetzt) verschiedene Schichten des Bibeltextes nachweisen lassen - eine Prämisse, die nicht nur dem jüdischen Bibelverständnis fundamental widerspricht, sondern heute auch in der biblischen Exegese mit Recht problematisiert wird und in diesem konkreten Fall bei genauerem Hinsehen in tiefe exegetische Abgründe führt.

Durch seinen willkürlichen Eingriff gewinnt Boehm einen Text, in dem die Rettung Isaaks nicht durch göttliche Intervention bewirkt wird, sondern auf Abrahams mündigen und freien Entschluss zurückgeht, die Autorität eines willkürlich handelnden Gottes nicht zu akzeptieren. Damit macht er Abraham zum wahren Stammvater einer abrahamitischen, universalistischen und vorisraelitischen Religion und entsorgt nicht nur Mose als größten jüdischen Propheten, sondern auch noch den absoluten Anspruch des Monotheismus.

Mit der Erhebung des Abrahamsbundes zum alles entscheidenden Bund blendet Boehm den dritten Bund Gottes in der Bibel völlig aus: Nach dem Bund mit Noah (Gottes Selbstverpflichtung, keine Sintflut mehr über die Erde zu bringen) und dem Bund mit Abraham (Verheißung von Land und Nachkommen) ist aber dieser dritte Bund, der Sinaibund (Bund Gottes mit Mose und dem Volk Israel), der für das Judentum maßgebende Bund. Erst mit der Gabe der Torah (als Inbegriff des Gottesgesetzes) durch Gott am Sinai und ihrer Annahme durch Israel konstituiert sich das Volk Israel als Gottes auserwähltes Volk. Erst mit dem Sinaibund existiert das Judentum im eigentlichen Sinne, der Abrahamsbund ist nur ein Vorspiel. Mit seiner Priorisierung des Abrahamsbundes stellt Boehm die gesamte Taxonomie der Hebräischen Bibel auf den Kopf.

In einem letzten Schritt hofft Boehm, mit dem unbedingten Universalismus, der sich erstmals im Abrahamsbund artikuliert habe, einen Ansatz für die Lösung der politischen Probleme im Nahen Osten gefunden zu haben. Denn wenn beide, Israel und die arabischen Staaten, auf den von ihm rekonstruierten Abrahamsbund und den diesem zugrunde liegenden ethischen Universalismus zurückgreifen würden, ließe sich eine gemeinsame Basis für den von Boehm propagierten binationalen Staat finden, der allein den Stellungskrieg der zwei sich unversöhnlich gegenüberstehenden Identitäten überwinden könne.

Das ist eine Illusion. Bekanntlich nimmt der Islam Abraham als Stammvater für seine alt-neue Religion in Anspruch, die wahre und eigentliche Religion vor Judentum und Christentum. Und dieser Islam setzte und setzt seine Überzeugungen, wie wir in der Geschichte und gerade jetzt in Gaza und in Iran wieder sehen, nicht mit moralischen Appellen durch, sondern mit brutaler Gewalt. Die schiitische Variante des Islams praktiziert in Iran eine auf dem Koran gründende islamische Theokratie als seine höchste Vollendung, die jedem Universalismus Hohn spricht. Und die seit Langem staatstragenden religiösen Parteien Israels streben, manche mehr, manche weniger unverhohlen, nach einer auf der Torah des Sinaibundes gründenden jüdischen Theokratie.

Die Verbindung zwischen Kant und der Bibel, an der Boehm so gelegen ist, lässt sich gewiss herstellen. Dass aber ausgerechnet die Bindung Isaaks dafür herhalten muss, ist fragwürdig. Diese Bibelerzählung ist und bleibt der Grundtext für Abrahams unbedingtes Vertrauen auf Gott. Mein Vorschlag an den Philosophen: Wie wäre es mit dem sogenannten Sündenfall in der Paradiesgeschichte? Auch dafür gibt es einen Vergleichstext bei Kant. PETER SCHÄFER

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