Bis an die Grenzen des Denk- und Erfahrbaren zu gehen - das hat Künstler und Philosophen seit der Antike immer wieder herausgefordert. Rainer Marten skizziert drei Weisen der Radikalität des Geistes, die auf philosophischen, theologischen und schriftstellerischen Wegen Grundfragen menschlicher Existenz ausloten. Bei Heidegger, Paulus und Proust werden drei gewaltige Entwürfe vorgestellt, in denen Phänomenbereiche wie Leben und Tod, Glück und Zeit, Glaube und Wahrheit pointiert zur Sprache kommen. Im Sinne einer erhellenden, nicht entzaubernden Aufklärung dessen, was der Geist in seinen Grenzgängen und Grenzüberschreitungen vermag, tritt eine doppelte Poesie auf: Alles, was Philosophie und Theologie als gesichertes Wissen, als erfasste Wirklichkeit und als begründete Wahrheit formulieren, weist einen poetischen Charakter auf. Diesen aber suchen sie - erneut mit poetischen Mitteln - zu verdecken. So kommt auf den freigestellten Geist, der ganz auf sich selbst setzt, der "Härtetest"zu, die Poesie, die sich auf poetische Weise als Poesie verdeckt, als solche anzuerkennen. Indem Poesie sich als Poesie überschreitet, eröffnet sich dem Menschen die Möglichkeit, das Verhüllte, Verborgene, Unzugängliche, ja letztlich das Geheimnis und das Wunder des Lebens Wirklichkeit werden zu lassen und in sein vielfältig geteiltes Leben und sein praktiziertes Selbstsein aufzunehmen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rainer Martens Untersuchung der "Radikalität des Geistes" bei Heidegger, Paulus und Proust hat Ralf Konersmann sichtlich beeindruckt. Die Interpretationen des Freiburger Philosophen scheinen ihm nah am Text, detailliert und von großer Sorgfalt. Überzeugend zeigt der Autor ihm auf, wie Radikalität in verschiedenen Themenfeldern - dem Denken, dem Glauben und der Kunst funktioniert. Besonders im Blick auf das Philosophieren Heideggers, auf dessen radikale Weise Fragen zu stellen und den Ursprung zu denken, gelingen Marten nach Ansicht von Konersmann immer wieder brillante philosophische Interpretationen. Mit Martens Kritik der Radikalität ist er durchaus einverstanden, macht aber geltend, dass es in der Welt des Geistes - nicht in der der Realpolitik - Bereiche geben muss, die unreguliert und frei vom Verwertungszwang sind.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.08.2012Im Reich des
unregulierten Geistes
Rainer Marten untersucht das Sprachspiel der Radikalität
Nach den historischen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts ist der politische Radikalismus den meisten Zeitgenossen ein Gräuel, und nicht nur auf Jüngere wirkt das RAF-Getue von Medien, die Todesschützen mit der Aura gestrauchelter Rockstars umgeben, befremdlich. Ganz anders aber reagieren wir auf radikale Kunst, radikales Kino oder radikale Theorie. Hier bestaunen wir als Konsequenz und Kompromisslosigkeit, was auf dem Feld der Politik in den Tiefen der Vergangenheit verschlossen bleiben darf oder sollte.
Wie also halten wir es mit der Radikalität? Worin besteht das Führungs- und Verführungspotenzial eines Denkens und Handelns, das, statt sich mit dem Geläufigen abzufinden, die Dinge direkt an der Wurzel packt? Der Freiburger Philosoph Rainer Marten hat in seinem gerade erschienenen Buch „Radikalität des Geistes“ die ideengeschichtlichen Quellgebiete des Syndroms aufgesucht und die Begründungswege erschlossen, die machtvoll genug sind, um Bedenken hintanzustellen und „ohne Rücksicht auf lebenspraktisches Miteinander“ für die eine und einzige Sache einzutreten.
Rainer Marten geht das kulturelle Syndrom induktiv an und baut die Einzelteile vor den Augen des Lesers Schritt für Schritt zusammen. Der Vorteil dieses textnah operierenden Verfahrens liegt darin, den Gegenstand in seiner ganzen sperrigen Fülle aufzunehmen und Empfindlichkeiten, die der Zeitgeist diktiert, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Um die Übersicht zu behalten und die Gültigkeit seiner Erträge zu sichern, unterteilt Marten die „Radikalität des Geistes“ in drei thematische Felder: die Radikalität des Denkens (Martin Heidegger), des Glaubens (Paulus, Blaise Pascal) und der Kunst (Marcel Proust).
Nehmen wir also Martin Heidegger – Heidegger, der schon deshalb in diese Geschichte hineingehört, weil er sein Philosophieren, und damit das Philosophieren überhaupt, als „absoluten Radikalismus des Fragens“ bestimmt hat. Beim ersten Hören mag man sich an Heideggers Lehrer Edmund Husserl erinnert fühlen, der im Anschluss an Descartes ganz ähnliche Worte zur Charakterisierung der phänomenologischen Arbeitsweise gefunden hat, als er vom „radikalen Anfang des Philosophierens“ sprach.
Aber dieser Eindruck ist oberflächlich, die Übereinstimmung irreführend. Wie Marten schlüssig darlegt, will Heidegger mit der radikalen Frage nicht zu einem intellektuellen Sprachspiel einladen, in dem Frage und Antwort einander vorantreiben. Heideggers radikale Frage ist eine Intervention. Statt an den Diskurs anzuknüpfen, will sie ihn unterbrechen. Sie ist ein Stoppzeichen. Die radikale Frage will an das herankommen, was, wie sie unterstellt, der herkömmliche Diskurs der Wissenschaften und großer Teile der Philosophie nicht nur nicht erreicht, sondern in seiner selbstvergessenen Geschwätzigkeit verkennt und verdeckt: den Ursprung.
Damit wird klar, worin hier, weit über das gewöhnliche Fragen hinaus, die Besonderheit des Anspruchs besteht. Radikal ist diese Frage insofern, als sie sich allein aus sich selbst rechtfertigt und in diesem Sinne „gründendes“, nicht aber – und gerade nicht – „begründetes Fragen“ ist. Heidegger geht so weit, das Fragen als Erleben zu bestimmen und die Vorstellung eines fragenden, wollenden und begehrenden Ich überhaupt abzuweisen. Im „Humanismusbrief“ kann er verkünden, dass es „auf den Menschen, lediglich als solchen“, nicht ankomme. In besonderer Weise gilt das für denjenigen, der fragt.
Die radikale Frage ist also reiner Vollzug, sie stellt sich selbst. Martin Heidegger nennt dies den übersubjektiven „Einsatz“ des Denkens. Um dieses Einsatzes willen scheut die radikale Frage das Gespräch und – an dieser Stelle werden bei Rainer Marten kritische Nebentöne unüberhörbar – isoliert sich willentlich selbst. Die Radikalität ist eine Abwehrgeste – die Garantie dafür, nicht und niemals mit sich reden lassen zu müssen. Einmal radikal geworden, wird das Fragen zum Startpunkt eines monologischen, für Zweifel oder Skrupel unempfänglichen Durchmarschierens.
Marten spricht von poetischer Verselbständigung. Die Radikalität ist eine Verschärfung, die zugleich eine Freisetzung ist, die Entbindung einer großen, ausschließlich aus dem eigenen Wurzelgrund schöpfenden Erzählung: einer Poesie des Schicksals (Heidegger), einer Poesie des Absoluten (Paulus, Pascal), einer Poesie der reinen Kunst (Proust). Die Verheißung der Radikalität, entdeckt Marten, ist dieser Umschlagspunkt, an dem die Poesie eine wirklichere Wirklichkeit hervorbringt, vor deren Anspruch der Alltag auf immer neue Weise versagen muss.
Marten gelingen hier Glanzstücke philosophischer Interpretation. In sorgfältigen Einzelschritten zeigt er auf, wie das Sprachspiel der Radikalität funktioniert: wie es die Bindungen an das Geläufige und Gefällige durchtrennt, wie es Traditionslinien und Gesprächsfäden kappt, wie es sich – auch das! – an seiner eigenen Großartigkeit berauscht und das Mittelmaß dem Gespött preisgibt. Die Radikalität, urteilt Marten mit einiger Schärfe, entbinde eine „zur Verantwortung ihrer Gedanken weder fähige noch willige Philosophie“.
Das mag so sein. Und zweifellos ist richtig, dass die Radikalität nicht das letzte Wort behalten darf. Aber ist jede Übertreibung, ist jede Einseitigkeit schon eine Übertretung? Marten selbst führt eindrucksvoll vor Augen, wie die radikale Poetologie die Transzendenz hervorbringt, wie sie der Abweichung die Bahn bricht, dem Unverhofften und Überraschenden. Was die Radikalität angeht, muss offenbar die Praxis geistiger Freiheit von den Bedingungen der Realpolitik strikt unterschieden werden. Wer, wie es deutschen Intellektuellen damals einfiel, die Anschläge vom 11. September 2001 in New York als Kunstwerk adelt, verwischt kategoriale Unterschiede und liegt moralisch, vor allem aber sachlich falsch.
Das Recht zur Radikalität wird von solchen Entgleisungen aber gar nicht berührt, geschweige denn geschmälert. In der Welt des Geistes muss es unregulierte Bereiche geben, wo wir, befreit von den Dringlichkeiten der Verwertung, etwas wagen und wo wir außer Kraft setzen dürfen, wovon alle anderen überzeugt sind. Wer die Radikalität des Geistes aus dem Spiel nimmt, der verewigt diesen seltsamen Zustand, den die Forschungspolitik der letzten Jahre herbeigeführt hat: das geschäftsmäßige Einerlei unserer täglichen Exzellenz.
RALF KONERSMANN
Dem Autor dieses Buches
gelingen Glanzstücke
philosophischer Interpretation
Rainer Marten: Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust.
Karl Alber Verlag, Freiburg im Breisgau 2012. 326 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
unregulierten Geistes
Rainer Marten untersucht das Sprachspiel der Radikalität
Nach den historischen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts ist der politische Radikalismus den meisten Zeitgenossen ein Gräuel, und nicht nur auf Jüngere wirkt das RAF-Getue von Medien, die Todesschützen mit der Aura gestrauchelter Rockstars umgeben, befremdlich. Ganz anders aber reagieren wir auf radikale Kunst, radikales Kino oder radikale Theorie. Hier bestaunen wir als Konsequenz und Kompromisslosigkeit, was auf dem Feld der Politik in den Tiefen der Vergangenheit verschlossen bleiben darf oder sollte.
Wie also halten wir es mit der Radikalität? Worin besteht das Führungs- und Verführungspotenzial eines Denkens und Handelns, das, statt sich mit dem Geläufigen abzufinden, die Dinge direkt an der Wurzel packt? Der Freiburger Philosoph Rainer Marten hat in seinem gerade erschienenen Buch „Radikalität des Geistes“ die ideengeschichtlichen Quellgebiete des Syndroms aufgesucht und die Begründungswege erschlossen, die machtvoll genug sind, um Bedenken hintanzustellen und „ohne Rücksicht auf lebenspraktisches Miteinander“ für die eine und einzige Sache einzutreten.
Rainer Marten geht das kulturelle Syndrom induktiv an und baut die Einzelteile vor den Augen des Lesers Schritt für Schritt zusammen. Der Vorteil dieses textnah operierenden Verfahrens liegt darin, den Gegenstand in seiner ganzen sperrigen Fülle aufzunehmen und Empfindlichkeiten, die der Zeitgeist diktiert, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Um die Übersicht zu behalten und die Gültigkeit seiner Erträge zu sichern, unterteilt Marten die „Radikalität des Geistes“ in drei thematische Felder: die Radikalität des Denkens (Martin Heidegger), des Glaubens (Paulus, Blaise Pascal) und der Kunst (Marcel Proust).
Nehmen wir also Martin Heidegger – Heidegger, der schon deshalb in diese Geschichte hineingehört, weil er sein Philosophieren, und damit das Philosophieren überhaupt, als „absoluten Radikalismus des Fragens“ bestimmt hat. Beim ersten Hören mag man sich an Heideggers Lehrer Edmund Husserl erinnert fühlen, der im Anschluss an Descartes ganz ähnliche Worte zur Charakterisierung der phänomenologischen Arbeitsweise gefunden hat, als er vom „radikalen Anfang des Philosophierens“ sprach.
Aber dieser Eindruck ist oberflächlich, die Übereinstimmung irreführend. Wie Marten schlüssig darlegt, will Heidegger mit der radikalen Frage nicht zu einem intellektuellen Sprachspiel einladen, in dem Frage und Antwort einander vorantreiben. Heideggers radikale Frage ist eine Intervention. Statt an den Diskurs anzuknüpfen, will sie ihn unterbrechen. Sie ist ein Stoppzeichen. Die radikale Frage will an das herankommen, was, wie sie unterstellt, der herkömmliche Diskurs der Wissenschaften und großer Teile der Philosophie nicht nur nicht erreicht, sondern in seiner selbstvergessenen Geschwätzigkeit verkennt und verdeckt: den Ursprung.
Damit wird klar, worin hier, weit über das gewöhnliche Fragen hinaus, die Besonderheit des Anspruchs besteht. Radikal ist diese Frage insofern, als sie sich allein aus sich selbst rechtfertigt und in diesem Sinne „gründendes“, nicht aber – und gerade nicht – „begründetes Fragen“ ist. Heidegger geht so weit, das Fragen als Erleben zu bestimmen und die Vorstellung eines fragenden, wollenden und begehrenden Ich überhaupt abzuweisen. Im „Humanismusbrief“ kann er verkünden, dass es „auf den Menschen, lediglich als solchen“, nicht ankomme. In besonderer Weise gilt das für denjenigen, der fragt.
Die radikale Frage ist also reiner Vollzug, sie stellt sich selbst. Martin Heidegger nennt dies den übersubjektiven „Einsatz“ des Denkens. Um dieses Einsatzes willen scheut die radikale Frage das Gespräch und – an dieser Stelle werden bei Rainer Marten kritische Nebentöne unüberhörbar – isoliert sich willentlich selbst. Die Radikalität ist eine Abwehrgeste – die Garantie dafür, nicht und niemals mit sich reden lassen zu müssen. Einmal radikal geworden, wird das Fragen zum Startpunkt eines monologischen, für Zweifel oder Skrupel unempfänglichen Durchmarschierens.
Marten spricht von poetischer Verselbständigung. Die Radikalität ist eine Verschärfung, die zugleich eine Freisetzung ist, die Entbindung einer großen, ausschließlich aus dem eigenen Wurzelgrund schöpfenden Erzählung: einer Poesie des Schicksals (Heidegger), einer Poesie des Absoluten (Paulus, Pascal), einer Poesie der reinen Kunst (Proust). Die Verheißung der Radikalität, entdeckt Marten, ist dieser Umschlagspunkt, an dem die Poesie eine wirklichere Wirklichkeit hervorbringt, vor deren Anspruch der Alltag auf immer neue Weise versagen muss.
Marten gelingen hier Glanzstücke philosophischer Interpretation. In sorgfältigen Einzelschritten zeigt er auf, wie das Sprachspiel der Radikalität funktioniert: wie es die Bindungen an das Geläufige und Gefällige durchtrennt, wie es Traditionslinien und Gesprächsfäden kappt, wie es sich – auch das! – an seiner eigenen Großartigkeit berauscht und das Mittelmaß dem Gespött preisgibt. Die Radikalität, urteilt Marten mit einiger Schärfe, entbinde eine „zur Verantwortung ihrer Gedanken weder fähige noch willige Philosophie“.
Das mag so sein. Und zweifellos ist richtig, dass die Radikalität nicht das letzte Wort behalten darf. Aber ist jede Übertreibung, ist jede Einseitigkeit schon eine Übertretung? Marten selbst führt eindrucksvoll vor Augen, wie die radikale Poetologie die Transzendenz hervorbringt, wie sie der Abweichung die Bahn bricht, dem Unverhofften und Überraschenden. Was die Radikalität angeht, muss offenbar die Praxis geistiger Freiheit von den Bedingungen der Realpolitik strikt unterschieden werden. Wer, wie es deutschen Intellektuellen damals einfiel, die Anschläge vom 11. September 2001 in New York als Kunstwerk adelt, verwischt kategoriale Unterschiede und liegt moralisch, vor allem aber sachlich falsch.
Das Recht zur Radikalität wird von solchen Entgleisungen aber gar nicht berührt, geschweige denn geschmälert. In der Welt des Geistes muss es unregulierte Bereiche geben, wo wir, befreit von den Dringlichkeiten der Verwertung, etwas wagen und wo wir außer Kraft setzen dürfen, wovon alle anderen überzeugt sind. Wer die Radikalität des Geistes aus dem Spiel nimmt, der verewigt diesen seltsamen Zustand, den die Forschungspolitik der letzten Jahre herbeigeführt hat: das geschäftsmäßige Einerlei unserer täglichen Exzellenz.
RALF KONERSMANN
Dem Autor dieses Buches
gelingen Glanzstücke
philosophischer Interpretation
Rainer Marten: Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust.
Karl Alber Verlag, Freiburg im Breisgau 2012. 326 Seiten, 24 Euro.
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