Wu Sung verlässt als junger Mann sein gutes Elternhaus, wo es mit den »Sternen und Wissenschaften« kaum ein Auskommen gibt. Eines Nachts schlägt er, trunken und furchtlos, einen menschenfressenden Tiger mit bloßen Händen tot. Mit einem Schlag wird er also berühmt und zum Offizier befördert. Der ungeschliffene, aber ehrliche Mann nutzt seine unversehens erlangte Macht, um Gerechtigkeit zu schaffen, wo er Unrecht sieht, um gegen korrupte Beamte, gierige Bonzen und intrigante Kupplerinnen vorzugehen, und nicht zuletzt, um den jähen Tod seiner armen Eltern und den Mord an seinem Bruder zu rächen. Auf diesem abenteuerlichen Weg ist er nie um eine List verlegen noch zimperlich. Am Ende gehen Wahn, Rausch, Traum und Wachen ineinander über, und der raue Held findet zu einer gleichsam buddhistischen Aussöhnung mit der Welt.
Albert Ehrenstein war einer der wichtigsten Vertreter des literarischen Expressionismus. Nach der großen Enttäuschung über das Scheitern der Revolution undder Bildung einer deutschen Räterepublik wandte er sich hoffnungsvoll der chinesischen Literatur zu, deren Stimmen für ihn nicht etwa Pfirsichblütenduft, sondern Auflehnung gegen Unterdrückung sowie Rebellion gegen die ausbeuterische Obrigkeit bedeuteten.
Albert Ehrenstein war einer der wichtigsten Vertreter des literarischen Expressionismus. Nach der großen Enttäuschung über das Scheitern der Revolution undder Bildung einer deutschen Räterepublik wandte er sich hoffnungsvoll der chinesischen Literatur zu, deren Stimmen für ihn nicht etwa Pfirsichblütenduft, sondern Auflehnung gegen Unterdrückung sowie Rebellion gegen die ausbeuterische Obrigkeit bedeuteten.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Fast hundert Jahre nach dem ersten Erscheinen legt die Friedenauer Presse diesen Roman des Expressionisten Albert Ehrenstein neu auf, dessen groben Handlungsrahmen dieser von einem chinesischen Epos aus dem 13. Jahrhundert entnommen hat, wie Rezensent Tilman Spreckelsen verrät. Die Handlung spinnt sich um den Protagonisten Wu Sung, Sohn eines erfolgreichen Beamten - und ziemlicher Säufer, erfahren wir. Im Suff erschlägt er einen Tiger, wird kurzfristig zum Helden und dann doch beinahe vergiftet. All das erzählt Ehrenstein mit expressionistischer Wucht und ohne die Missstände der chinesischen Version zu verschweigen, lobt der Kritiker. Für ihn ist diese Neuausgabe willkommener Anlass, diesen zu Unrecht vergessenen Schriftsteller wiederzuentdecken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2024Der Fährmann lacht Eis
Wo der Staat versagt, rollen Köpfe: Albert Ehrensteins Roman "Räuber und Soldaten" nach einer chinesischen Vorlage erscheint als Neuausgabe.
Das Abenteuer beginnt mit einigen Bechern Wein, die der Held - selbst nach Ansicht des Gastwirts - zu viel trinkt, und endet gut zweihundert Seiten später auch so: Der wüste Totschläger Wu Sung sieht aus der Ferne eine Fahne wehen, auf der die Worte stehen, die er schon damals, zu Anfang seiner Reise, gehört hatte: "Nach drei Bechern kann niemand über den Berg."
Werbung oder Warnung? Wu Sung spornt das nur an: "Windzerfetzt warf er sich unter das Wetterdach der leeren Bauernschenke, schrie: 'Wein! Wein!' Und trank, trank, bis er seine Einsamkeit übersang."
Wu Sung ist die zentrale Gestalt in Albert Ehrensteins Roman "Räuber und Soldaten" aus dem Jahr 1927, der nun in der Friedenauer Presse neu erschienen ist. "Frei erzählt nach dem alten Chinesischen" lautet der Untertitel des Werks, und das trifft es gut. Denn aus der Vorlage, dem chinesischen Roman "Shuihu zhuan", entstanden im dreizehnten Jahrhundert, übernimmt Ehrenstein nur einen der vielen Handlungsstränge und reduziert so das polyphone Bündel von Geschichten um mehr als hundert Outlaws auf das eine Porträt des starken Wu Sung - wenige Jahre nach Ehrensteins Fassung legte Franz Kuhn mit "Die Räuber vom Liang Schan Moor" 1934 eine Übersetzung des umfangreichen Romans ins Deutsche vor. Rezipiert wird er bis in die Gegenwart: In den Siebzigerjahren entstand eine japanische Fernsehserie in 26 Folgen, die auch hierzulande gesendet wurde; 2003 wurde aus dem Stoff eine Radioserie des WDR.
Albert Ehrensteins Zugriff auf den prächtigen Stoff zeigt sich schon in der von ihm hinzugefügten Einleitung der Geschichte Wu Sungs: "Zu Shantong, im Distrikt Tsian des Bezirks Tsang lebte ein verheirateter Magister namens Jao." In diesem sachlichen Ton hebt das Buch an. Vom Magister weiß der Erzähler nur Gutes zu sagen, er ist umfassend gebildet, kennt sich im "Staatsverfassungswesen" aus, ist treu, edel, ehrlich, offen und, so merkt man rasch, gerade deshalb bettelarm. Um seine Familie - außer der Frau noch die Tochter Munglan und die Söhne Wu Sung und Wu Ta - irgendwie durchzubringen, fleht er um Hilfe bei seinem reichen Verwandten Wang-kai-wei, der sich verleugnen lässt. Am Ende sucht sich Jao einen Baum und hängt sich auf.
Jaos Söhne könnten unterschiedlicher nicht sein. Der ältere, der schwache Wu Ta, verkauft Bohnenpuffer und wird von seiner Gattin Goldlotos mit wechselnden Liebhabern betrogen, ohne sich recht dagegen wehren zu können. Der jüngere, Wu Sung, tritt in die Geschichte ein, indem er statt der erlaubten drei Becher vor der Bergwanderung volle achtzehn in sich hineinkippt und auch die Warnung missachtet, die Berggegend sei mit gefährlichen Tigern verseucht. In seiner Trunkenheit erschlägt er einen von ihnen. Dafür wird er als Held gefeiert und steigt sozial auf, verliert diese Position aber wieder, als er bei einem langwierigen Schatztransport durch einen raffinierten Trick der Räuber seine Eskorte einbüßt - die Männer trinken mit Schlafmittel versehenen Wein und können sich nicht mehr wehren.
Erst dies führt Wu Sung, der für sein Versagen mit Konsequenzen rechnen muss, auf einen Weg, den er bis zum Schluss des Romans verfolgen wird: Er rächt seinen Bruder, der inzwischen durch seine Frau vergiftet worden ist, seine Schwester, die das Opfer eines Lüstlings wurde, und versucht es schließlich auch bei dem Verwandten, der dem Vater damals die Hilfe verweigert hatte. Ehrenstein, der sich in seinem Nachwort ausdrücklich gegen den harmonisierenden und soziale Missstände beschönigenden Duktus anderer chinesischer Romane wandte, die im frühen zwanzigsten Jahrhundert von deutschen Autoren als Inspiration entdeckt wurden, kostet aus, was er an Drastik verwenden kann: Wu Tas schwarze Knochen erzählen noch Monate später von seiner Vergiftung, in Wirtshäusern muss man immer damit rechnen, Menschenfleisch aufgetischt zu bekommen, und wenn Wu Sung zuschlägt, dann spritzt das Blut, und die Köpfe rollen.
Was treibt ihn an? Die Räuber, die sich in der Vorlage zusammenfinden, wenden sich gegen ein repressives System, in dem der Rechtsweg jeder Manipulation durch Geld und Macht unterworfen ist. Sichtbar ist das auch in "Räuber und Soldaten"; die Willkür, mit der einer der Liebhaber von Goldlotos agiert, findet ihr Echo in Wu Sungs maßlosem Zorn. Und als zwei Beamte, die den gefangenen Wu Sung vor ein entferntes Gericht bringen sollen, vor die Wahl gestellt werden, sich den Gesetzlosen anzuschließen, sagt einer von ihnen fatalistisch: "Kleine Räuber oder kleine Beamte - was ist der Unterschied?"
Dass Albert Ehrenstein (1886 bis 1950) ein bedeutender expressionistischer Dichter war, blitzt besonders im letzten Teil des Romans auf, wenn es etwa von einer besonders unheimlichen Gestalt heißt: "Der Fährmann lachte Eis." Der Autor der meisterlichen Erzählung "Tubutsch" ist trotz der verdienstvollen Werkausgabe im Verlag Boer heute beim Publikum kaum mehr präsent. Die Neuausgabe von "Räuber und Soldaten" bietet nun die Gelegenheit, einen der eigenwilligsten Schriftsteller seiner Generation zu entdecken. Und die chinesische Vorlage gleich mit. TILMAN SPRECKELSEN
Albert Ehrenstein: "Räuber und Soldaten". Frei erzählt nach dem alten Chinesischen.
Roman.
Friedenauer Presse, Berlin 2024. 267 S., geb.,
24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo der Staat versagt, rollen Köpfe: Albert Ehrensteins Roman "Räuber und Soldaten" nach einer chinesischen Vorlage erscheint als Neuausgabe.
Das Abenteuer beginnt mit einigen Bechern Wein, die der Held - selbst nach Ansicht des Gastwirts - zu viel trinkt, und endet gut zweihundert Seiten später auch so: Der wüste Totschläger Wu Sung sieht aus der Ferne eine Fahne wehen, auf der die Worte stehen, die er schon damals, zu Anfang seiner Reise, gehört hatte: "Nach drei Bechern kann niemand über den Berg."
Werbung oder Warnung? Wu Sung spornt das nur an: "Windzerfetzt warf er sich unter das Wetterdach der leeren Bauernschenke, schrie: 'Wein! Wein!' Und trank, trank, bis er seine Einsamkeit übersang."
Wu Sung ist die zentrale Gestalt in Albert Ehrensteins Roman "Räuber und Soldaten" aus dem Jahr 1927, der nun in der Friedenauer Presse neu erschienen ist. "Frei erzählt nach dem alten Chinesischen" lautet der Untertitel des Werks, und das trifft es gut. Denn aus der Vorlage, dem chinesischen Roman "Shuihu zhuan", entstanden im dreizehnten Jahrhundert, übernimmt Ehrenstein nur einen der vielen Handlungsstränge und reduziert so das polyphone Bündel von Geschichten um mehr als hundert Outlaws auf das eine Porträt des starken Wu Sung - wenige Jahre nach Ehrensteins Fassung legte Franz Kuhn mit "Die Räuber vom Liang Schan Moor" 1934 eine Übersetzung des umfangreichen Romans ins Deutsche vor. Rezipiert wird er bis in die Gegenwart: In den Siebzigerjahren entstand eine japanische Fernsehserie in 26 Folgen, die auch hierzulande gesendet wurde; 2003 wurde aus dem Stoff eine Radioserie des WDR.
Albert Ehrensteins Zugriff auf den prächtigen Stoff zeigt sich schon in der von ihm hinzugefügten Einleitung der Geschichte Wu Sungs: "Zu Shantong, im Distrikt Tsian des Bezirks Tsang lebte ein verheirateter Magister namens Jao." In diesem sachlichen Ton hebt das Buch an. Vom Magister weiß der Erzähler nur Gutes zu sagen, er ist umfassend gebildet, kennt sich im "Staatsverfassungswesen" aus, ist treu, edel, ehrlich, offen und, so merkt man rasch, gerade deshalb bettelarm. Um seine Familie - außer der Frau noch die Tochter Munglan und die Söhne Wu Sung und Wu Ta - irgendwie durchzubringen, fleht er um Hilfe bei seinem reichen Verwandten Wang-kai-wei, der sich verleugnen lässt. Am Ende sucht sich Jao einen Baum und hängt sich auf.
Jaos Söhne könnten unterschiedlicher nicht sein. Der ältere, der schwache Wu Ta, verkauft Bohnenpuffer und wird von seiner Gattin Goldlotos mit wechselnden Liebhabern betrogen, ohne sich recht dagegen wehren zu können. Der jüngere, Wu Sung, tritt in die Geschichte ein, indem er statt der erlaubten drei Becher vor der Bergwanderung volle achtzehn in sich hineinkippt und auch die Warnung missachtet, die Berggegend sei mit gefährlichen Tigern verseucht. In seiner Trunkenheit erschlägt er einen von ihnen. Dafür wird er als Held gefeiert und steigt sozial auf, verliert diese Position aber wieder, als er bei einem langwierigen Schatztransport durch einen raffinierten Trick der Räuber seine Eskorte einbüßt - die Männer trinken mit Schlafmittel versehenen Wein und können sich nicht mehr wehren.
Erst dies führt Wu Sung, der für sein Versagen mit Konsequenzen rechnen muss, auf einen Weg, den er bis zum Schluss des Romans verfolgen wird: Er rächt seinen Bruder, der inzwischen durch seine Frau vergiftet worden ist, seine Schwester, die das Opfer eines Lüstlings wurde, und versucht es schließlich auch bei dem Verwandten, der dem Vater damals die Hilfe verweigert hatte. Ehrenstein, der sich in seinem Nachwort ausdrücklich gegen den harmonisierenden und soziale Missstände beschönigenden Duktus anderer chinesischer Romane wandte, die im frühen zwanzigsten Jahrhundert von deutschen Autoren als Inspiration entdeckt wurden, kostet aus, was er an Drastik verwenden kann: Wu Tas schwarze Knochen erzählen noch Monate später von seiner Vergiftung, in Wirtshäusern muss man immer damit rechnen, Menschenfleisch aufgetischt zu bekommen, und wenn Wu Sung zuschlägt, dann spritzt das Blut, und die Köpfe rollen.
Was treibt ihn an? Die Räuber, die sich in der Vorlage zusammenfinden, wenden sich gegen ein repressives System, in dem der Rechtsweg jeder Manipulation durch Geld und Macht unterworfen ist. Sichtbar ist das auch in "Räuber und Soldaten"; die Willkür, mit der einer der Liebhaber von Goldlotos agiert, findet ihr Echo in Wu Sungs maßlosem Zorn. Und als zwei Beamte, die den gefangenen Wu Sung vor ein entferntes Gericht bringen sollen, vor die Wahl gestellt werden, sich den Gesetzlosen anzuschließen, sagt einer von ihnen fatalistisch: "Kleine Räuber oder kleine Beamte - was ist der Unterschied?"
Dass Albert Ehrenstein (1886 bis 1950) ein bedeutender expressionistischer Dichter war, blitzt besonders im letzten Teil des Romans auf, wenn es etwa von einer besonders unheimlichen Gestalt heißt: "Der Fährmann lachte Eis." Der Autor der meisterlichen Erzählung "Tubutsch" ist trotz der verdienstvollen Werkausgabe im Verlag Boer heute beim Publikum kaum mehr präsent. Die Neuausgabe von "Räuber und Soldaten" bietet nun die Gelegenheit, einen der eigenwilligsten Schriftsteller seiner Generation zu entdecken. Und die chinesische Vorlage gleich mit. TILMAN SPRECKELSEN
Albert Ehrenstein: "Räuber und Soldaten". Frei erzählt nach dem alten Chinesischen.
Roman.
Friedenauer Presse, Berlin 2024. 267 S., geb.,
24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main