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  • Verlag: Diogenes
  • ISBN-13: 9783257862171
  • Artikelnr.: 35319968
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2012

Inneres Räderwerk
Lukas Hartmanns historischer Roman "Räuberleben"

Schillers Plan, mit den "Räubern" große Bösewichte auf die Bühne zu stellen und so das "ganze innere Räderwerk" ihrer Laster zu entfalten, entpuppte sich als Erfolgsrezept. Wenig später verhalf es der psychologischen Kriminalerzählung "Verbrecher aus Infamie" zu großer Aufmerksamkeit. Das Publikum folgte auch Schillers Nachahmern in großer Zahl. Die populärste Wiederaufnahme des verbürgten Falls von Friedrich Schwan ist "Der Sonnenwirth" von Hermann Kurz - es ist zugleich ein Höhepunkt des historischen Romans.

Lukas Hartmann gelingt eine glänzende literarische Rehabilitierung dieses oft zur Geschichtsplauderei verkommenen Genres. In "Räuberleben" behandelt er den Fall des Jakob Reinhard (1742 bis 1787), des berüchtigten Hannikel, der zur Entstehungszeit von Schillers Erzählung hingerichtet wurde. Der Ehrenmord an einem herzoglichen Grenadier 1786 hatte den zahllosen Diebstählen, Überfällen und Gewaltverbrechen in der Pfalz und im Schwarzwald eine neue Qualität verliehen. Zunächst floh Hannikel in die Schweiz und konnte nach seiner Arretierung aus dem Gefängnis in Chur entkommen. Der Sulzer Oberamtmann Schäffer verfolgte ihn aber und brachte ihn zurück nach Sulz am Neckar, wo er am Galgen endete.

Im Unterschied zur bloß dokumentarischen Akribie eines Hermann Kurz oder neuerer historischer Romanciers entwickelt Hartmann das geschichtlich Besondere zum poetisch Allgemeinen. Erzählt wird nicht aus dem üblichen Blickwinkel eines die Archivalien chronologisch ordnenden und aufbereitenden Historikers, sondern verschiedene Figuren präsentieren ihre gegensätzlichen Perspektiven. Die wichtigste Stimme gehört dem Schreiber Wilhelm Grau, der die Tatmotivation vor der Tat ergründet, unwürdige Haftbedingungen beklagt, Folter verurteilt und die Beugung des noch undifferenzierten Rechts verhindern will. Besonders leidet er mit Hannikels verstocktem Sohn Dieterle, dem die drastische Hinrichtung des Vaters aus pädagogischen Gründen verordnet wird. Grau versucht das Weltbild der Sinti zu begreifen und zu verstehen, wie diese Menschen durch Bettelverbote, Jagddedikte und Aufenthaltsbeschränkungen ausgegrenzt und in die Kriminalität getrieben werden.

Graus Vorgesetzter Schäffer hingegen ist ein gnadenloser Ermittler und Strafverfolger. Er glaubt an die bessernde Härte des Gesetzes und verurteilt den für ihn unsittlichen Lebenswandel der Zigeuner. Hannikels letzte Bitte, mit seiner Gefährtin Käther nach katholischem Ritus getraut zu werden und die Nacht vor der Hinrichtung mit ihr verbringen zu dürfen, hält er für schändlich. Für die vielen Mätressen seines Herzogs Carl Eugen, der mit Franziska von Hohenheim in morganatischer Ehe lebte, hat er indes kein vergleichbares Prädikat zur Hand. Der urteilende Leser darf sich auch in die Perspektive dieses Herzogs versetzen, der hier das Todesurteil für Hannikel fast so arglos unterschreibt wie der Prinz in Lessings "Emilia Galotti". Sein höchstes Gebot bei der Fahndung nach Hannikel ist Sparsamkeit, schließlich ist er Schwabe. Dass er zugleich den Dichter Schubart gefangen hielt und den "gegen Tyrannei und Willkür" rebellierenden und außer Landes geflohenen Schiller bis über die Grenzen Württembergs verfolgen ließ, gehört zu dem historischen Panorama, das dem Buch hoch anzurechnen ist.

Die schwierigste Innensicht gilt der Hauptfigur. Hartmann unterliegt nie der Gefahr, in sozialrevolutionäre Klischees zu verfallen. Aufmerksam verfolgt er Hannikels Spiel, die eigene Identität zu verbergen und sich um die Familie zu sorgen. Dabei scheint Hartmann sich an Schiller zu halten, den Leser mit dem Helden erkalten zu lassen, sein Herz also nicht durch "hinreißenden Vortrag" zu bestechen. Nüchtern oder spröde wirkt das aber keineswegs, sondern lehrreich und spannend. Am Galgen zeigt Hannikel wie sein Vorgänger Friedrich Schwan christliche Reue. Seine letzten Worte richtet er auf Romani an seine Sippe und verkündet, er sterbe nicht unschuldig, "aber es würden in Württemberg größere Verbrechen begangen als seine, und seine Urheber sollten bestraft werden wie er".

ALEXANDER KOSENINA.

Lukas Hartmann: "Räuberleben". Roman.

Diogenes Verlag, Zürich 2012, geb., 352 S., geb., 22,90 [Euro].

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»Lukas Hartmann entfaltet eine große poetische Kraft, voller Sensibilität und beredter Stille.« Neue Zürcher Zeitung Neue Zürcher Zeitung