Dieser Band stellt die Zeitspanne von 1500-1508 aus dem Blickwinkel des jungen Raffael dar. Das erste Kapitel präzisiert die Rolle der Auftraggeber, behandelt das kulturelle Klima am urbinatischen Hof und stellt die ersten größeren Arbeiten Raffaels vor. Das zweite Kapitel ist dem allgemein künstlerischen Geschehen in Florenz um 1500 gewidmet und behandelt die Beiträge Leonardos und Michelangelos. In den nachfolgenden Kapiteln werden in chronologischer Abfolge die wichtigsten Andachtsbilder Raffaels in seiner Florentiner Zeit analysiert. Abschließend wird am Beispiel von drei großen Altarbildern Raffaels künstlerischer Diskurs sowie seine Wirkungen auf die Zeitgenossen erörtert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.1997Wo ist sie nur, die schöne Frau
Jürg Meyer zur Capellen folgt Raffael durch Florenz
Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky befand, daß Raffael auf die Frage nach den Ursprüngen seiner künstlerischen Eingebungen vermutlich mit einem seufzenden io non so, "ich weiß nicht", geantwortet hätte. Metaphysik war des Künstlers Sache nicht, weshalb er die näherliegende Version derselben Frage, die ihm der berühmte Hofmann und Verfasser des "Il Cortegiano", Baldassare di Castiglione, brieflich vorgelegt hatte, galanter beantwortete: "Um eine schöne Frau zu malen, müßte ich mehr schöne Frauen sehen, und zwar unter der Bedingung, daß Ihr mir bei der Auswahl behilflich wäret; aber da es so wenig schöne Frauen und gültige Richter gibt, so bediene ich mich einer gewissen Idee, die mir in den Sinn kommt. Ob die von künstlerischem Wert ist, weiß ich nicht zu sagen; ich bemühe mich schon sehr, sie zu haben."
Welch ein Abstand zwischen dem am Musenhof von Urbino erzogenen Maler Raffaelo Santi und dem von seinem Biographen Vasari verklärten Raffael der Kunstgeschichte: Genau siebenunddreißig Jahre nach seiner "Geburt am Karfreitag des Jahres 1483" sei er auch an einem Karfreitag gestorben, woraufhin man den "toten Körper" vor dem "lebenden Gemälde" des zuletzt vollendeten Werks, der "Transfiguration", aufgebahrt habe. Seither sind Raffaels Persönlichkeit und Werk unter der Patina eines vier Jahrhunderte überdauernden Akademismus begraben. Kein Künstler war je präsenter, zugleich entrückter und bot sich weniger einer postum gesuchten Zeitgenossenschaft an. Aus der personalen Dreifaltigkeit der sogenannten Hochrenaissance haben sowohl Leonardo als auch Michelangelo einem fortlebenden Künstlerhabit Modell gestanden, nur Raffael nicht, den man sich als reinen Künstlergeist, gewissermaßen "ohne Hände" vorzustellen hatte.
Den kunstfrommen Mythos, wonach Raffael der Menschheit vom Himmel geschenkt und vom Himmel wieder genommen worden sei, hat die moderne Kunstgeschichte gründlich entzaubert. Sogar den Verdacht seines zänkischen Rivalen Michelangelo - "alles, was er in der Kunst verstand, hatte er von mir" - hat sie teilweise bestätigt, um die gerechterdings gedrittelten Partien daneben gleichrangig auf Leonardo und das Ensemble der Vorläufer und Zeitgenossen des Urbinaten zu verteilen. Nicht die im sechzehnten Jahrhundert zur universalen Leitwährung aufgestiegene "Gnade", sondern allein die Gunst der Stunde, den Genius loci und das frühzeitig erworbene Talent nutzte der junge Maler aus der Provinz, um durch zähe Arbeit zur Meisterschaft zu gelangen. Über Raffael hinaus sollte es in der Malerei keinen "Fortschritt" mehr geben, sondern einzig ein "Zurück" zu den - "präraffaelitischen" - Anfängen der Kunst und zu anderen, neuen Bildauffassungen.
Aber wie wurde Raffael möglich? Das Buch des Kunsthistorikers Jürg Meyer zur Capellen versetzt den erst in Rom zu Ruhm gelangten Maler zurück in die um 1500 noch unbestrittene Kunstmetropole Florenz. Zum denkbar günstigsten historischen Moment hatte sich auch Raffael einer der letzten Künstlerkarawanen angeschlossen, die dahin aufgebrochen war, wo sich nach Auffassung des Bildhauers Benvenuto Cellini "die Schule der Welt" befand. Hier ließ sich der lernbegierige Jüngling im Herbst des Jahres 1504 für vier mehr oder minder seßhafte Jahre nieder.
Als Raffael nach Florenz kam, war vor dem Palast der wiederhergestellten Republik, die zehn Jahre zuvor die Medici entmachtet und aus der Stadt vertrieben hatte, gerade der "David" des Michelangelo aufgestellt worden. Im Innern des Palastes, im neugeschaffenen Versammlungssaal des souveränen Rats der Bürger, wetteiferten Michelangelo und Leonardo um die Bemalung der Wände mit monumentalen Darstellungen siegreicher Schlachten der Vergangenheit. Im selben Jahr 1504 nahm auch Fra Bartolommeo, der als Anhänger des 1498 auf der Piazza Signoria verbrannten Bußpredigers Savonarola seiner Kunst abgeschworen hatte, das Malerhandwerk wieder auf. Und wie dieser malte Raffael vorzugsweise Andachts- und Altarbilder mit halb-, ganz- oder mehrfigurigen Heiligendarstellungen, vor allem aber Madonnen mit Jesusknaben, denen sich häufig eine weitere Knabenfigur hinzugesellte: der heilige Johannes der Täufer. Der war auch Patron von Florenz und Hausherr des ihm geweihten Baptisteriums, des zivilreligiösen und rituellen Mittelpunkts der Stadt.
Wo, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kathedrale Santa Maria del Fiore, Leben und Tod so nahe beieinanderlagen, hatte das Publikum keine Schwierigkeiten, Raffaels Dreieckskompositionen als die Zeichen und Attribute der künftigen Passion des Erlösers anzusehen. Manchmal genügte nur ein zarter Wink des Johannesknaben, um das Christuskind in Unruhe und in eine plötzliche Bewegung zu versetzen, die es dem Leib der liebenden, aber wissenden Mutter zu entreißen drohte. Raffaels Originalität lag darin, dergleichen spannungsvollen Momenten nicht nur lebendige Anschaulichkeit zu verleihen, sondern sie im leidenschaftlich bewegten Bild sogleich wieder stillzustellen. Dabei nutzte der Maler alle, insbesondere von Leonardo und Michelangelo auf jeweils konträre Weise bewirkten technischen, kompositorischen und psychologischen Neuerungen des Mediums, ohne sich doch deren extremen und bisweilen exzentrischen Positionen anzunähern. Raffael kopierte nicht, sondern zitierte, paraphrasierte, interpretierte, kritisierte und überbot - allerdings in Richtung einer komplexere Ausdrucksweise vereinfachenden Bildsprache - seine Vorbilder.
Diesen formalen Teil von Raffaels Kunst zeichnet Meyer zur Capellen mit bewundernswerter Akribie, bisweilen auch mit ermüdender Pedanterie nach. Auch erhält der Leser, der den entscheidenden Abschnitt von Raffaels vorrömischen Wanderjahren nunmehr in räumlicher, zeitlicher wie - durch die opulente Illustration - visueller Verdichtung nachvollziehen könnte, keine neue Antwort darauf, was eigentlich die - durch millionenfache Reproduktion vielleicht verblaßte und verbrauchte, heute zumindest restaurationstechnisch wiederhergestellte - Leuchtkraft von Raffaels Gemälden ausmachte. Allzu ausschließlich vertraut Meyer zur Capellen der Rigorosität der Stilkritik und einer sich in personalen Individualisierungen und in Familiengenealogien erschöpfenden Bestimmung von Raffaels florentinischen Auftraggebern. Das Publikum, das florentinische wie das nachlesende, kommt dabei leider zu kurz. Da hilft auch die gleich eingangs beschworene "eigene Argumentation" der Abbildungen nicht weiter, denn die Bilder schweigen, solange sie nicht befragt werden.
Vielleicht ist Raffaels Geheimnis ja auch das Geheimnis von Florenz. Die einfachen körperlichen Gesten und Gebärden des Gebens, Nehmens und Empfangens, des Trennens und Verbindens sind die zentralen Themen der florentinischen und auch von Raffaels Kunst. "Civitas", verkündete einst der Prediger Fra Giordano da Rivalto in der Kirche von Santa Maria Novella zu Florenz, das klänge doch wie "Caritas" - Raffaels Hauptthema, die Liebe -, und "aus Liebe" würden auch "die Städte erbaut". Meyer zur Capellen hat Raffael zwar die Hände zurückgegeben, noch immer fehlen ihm aber die Füße, auf denen er sich durch Florenz bewegte. VOLKER BREIDECKER
Jürg Meyer zur Capellen: "Raffael in Florenz". Hirmer Verlag, München, Azimuth Editions London 1996. 262 S., 143 Abb., geb., 98,- DM.
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Jürg Meyer zur Capellen folgt Raffael durch Florenz
Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky befand, daß Raffael auf die Frage nach den Ursprüngen seiner künstlerischen Eingebungen vermutlich mit einem seufzenden io non so, "ich weiß nicht", geantwortet hätte. Metaphysik war des Künstlers Sache nicht, weshalb er die näherliegende Version derselben Frage, die ihm der berühmte Hofmann und Verfasser des "Il Cortegiano", Baldassare di Castiglione, brieflich vorgelegt hatte, galanter beantwortete: "Um eine schöne Frau zu malen, müßte ich mehr schöne Frauen sehen, und zwar unter der Bedingung, daß Ihr mir bei der Auswahl behilflich wäret; aber da es so wenig schöne Frauen und gültige Richter gibt, so bediene ich mich einer gewissen Idee, die mir in den Sinn kommt. Ob die von künstlerischem Wert ist, weiß ich nicht zu sagen; ich bemühe mich schon sehr, sie zu haben."
Welch ein Abstand zwischen dem am Musenhof von Urbino erzogenen Maler Raffaelo Santi und dem von seinem Biographen Vasari verklärten Raffael der Kunstgeschichte: Genau siebenunddreißig Jahre nach seiner "Geburt am Karfreitag des Jahres 1483" sei er auch an einem Karfreitag gestorben, woraufhin man den "toten Körper" vor dem "lebenden Gemälde" des zuletzt vollendeten Werks, der "Transfiguration", aufgebahrt habe. Seither sind Raffaels Persönlichkeit und Werk unter der Patina eines vier Jahrhunderte überdauernden Akademismus begraben. Kein Künstler war je präsenter, zugleich entrückter und bot sich weniger einer postum gesuchten Zeitgenossenschaft an. Aus der personalen Dreifaltigkeit der sogenannten Hochrenaissance haben sowohl Leonardo als auch Michelangelo einem fortlebenden Künstlerhabit Modell gestanden, nur Raffael nicht, den man sich als reinen Künstlergeist, gewissermaßen "ohne Hände" vorzustellen hatte.
Den kunstfrommen Mythos, wonach Raffael der Menschheit vom Himmel geschenkt und vom Himmel wieder genommen worden sei, hat die moderne Kunstgeschichte gründlich entzaubert. Sogar den Verdacht seines zänkischen Rivalen Michelangelo - "alles, was er in der Kunst verstand, hatte er von mir" - hat sie teilweise bestätigt, um die gerechterdings gedrittelten Partien daneben gleichrangig auf Leonardo und das Ensemble der Vorläufer und Zeitgenossen des Urbinaten zu verteilen. Nicht die im sechzehnten Jahrhundert zur universalen Leitwährung aufgestiegene "Gnade", sondern allein die Gunst der Stunde, den Genius loci und das frühzeitig erworbene Talent nutzte der junge Maler aus der Provinz, um durch zähe Arbeit zur Meisterschaft zu gelangen. Über Raffael hinaus sollte es in der Malerei keinen "Fortschritt" mehr geben, sondern einzig ein "Zurück" zu den - "präraffaelitischen" - Anfängen der Kunst und zu anderen, neuen Bildauffassungen.
Aber wie wurde Raffael möglich? Das Buch des Kunsthistorikers Jürg Meyer zur Capellen versetzt den erst in Rom zu Ruhm gelangten Maler zurück in die um 1500 noch unbestrittene Kunstmetropole Florenz. Zum denkbar günstigsten historischen Moment hatte sich auch Raffael einer der letzten Künstlerkarawanen angeschlossen, die dahin aufgebrochen war, wo sich nach Auffassung des Bildhauers Benvenuto Cellini "die Schule der Welt" befand. Hier ließ sich der lernbegierige Jüngling im Herbst des Jahres 1504 für vier mehr oder minder seßhafte Jahre nieder.
Als Raffael nach Florenz kam, war vor dem Palast der wiederhergestellten Republik, die zehn Jahre zuvor die Medici entmachtet und aus der Stadt vertrieben hatte, gerade der "David" des Michelangelo aufgestellt worden. Im Innern des Palastes, im neugeschaffenen Versammlungssaal des souveränen Rats der Bürger, wetteiferten Michelangelo und Leonardo um die Bemalung der Wände mit monumentalen Darstellungen siegreicher Schlachten der Vergangenheit. Im selben Jahr 1504 nahm auch Fra Bartolommeo, der als Anhänger des 1498 auf der Piazza Signoria verbrannten Bußpredigers Savonarola seiner Kunst abgeschworen hatte, das Malerhandwerk wieder auf. Und wie dieser malte Raffael vorzugsweise Andachts- und Altarbilder mit halb-, ganz- oder mehrfigurigen Heiligendarstellungen, vor allem aber Madonnen mit Jesusknaben, denen sich häufig eine weitere Knabenfigur hinzugesellte: der heilige Johannes der Täufer. Der war auch Patron von Florenz und Hausherr des ihm geweihten Baptisteriums, des zivilreligiösen und rituellen Mittelpunkts der Stadt.
Wo, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kathedrale Santa Maria del Fiore, Leben und Tod so nahe beieinanderlagen, hatte das Publikum keine Schwierigkeiten, Raffaels Dreieckskompositionen als die Zeichen und Attribute der künftigen Passion des Erlösers anzusehen. Manchmal genügte nur ein zarter Wink des Johannesknaben, um das Christuskind in Unruhe und in eine plötzliche Bewegung zu versetzen, die es dem Leib der liebenden, aber wissenden Mutter zu entreißen drohte. Raffaels Originalität lag darin, dergleichen spannungsvollen Momenten nicht nur lebendige Anschaulichkeit zu verleihen, sondern sie im leidenschaftlich bewegten Bild sogleich wieder stillzustellen. Dabei nutzte der Maler alle, insbesondere von Leonardo und Michelangelo auf jeweils konträre Weise bewirkten technischen, kompositorischen und psychologischen Neuerungen des Mediums, ohne sich doch deren extremen und bisweilen exzentrischen Positionen anzunähern. Raffael kopierte nicht, sondern zitierte, paraphrasierte, interpretierte, kritisierte und überbot - allerdings in Richtung einer komplexere Ausdrucksweise vereinfachenden Bildsprache - seine Vorbilder.
Diesen formalen Teil von Raffaels Kunst zeichnet Meyer zur Capellen mit bewundernswerter Akribie, bisweilen auch mit ermüdender Pedanterie nach. Auch erhält der Leser, der den entscheidenden Abschnitt von Raffaels vorrömischen Wanderjahren nunmehr in räumlicher, zeitlicher wie - durch die opulente Illustration - visueller Verdichtung nachvollziehen könnte, keine neue Antwort darauf, was eigentlich die - durch millionenfache Reproduktion vielleicht verblaßte und verbrauchte, heute zumindest restaurationstechnisch wiederhergestellte - Leuchtkraft von Raffaels Gemälden ausmachte. Allzu ausschließlich vertraut Meyer zur Capellen der Rigorosität der Stilkritik und einer sich in personalen Individualisierungen und in Familiengenealogien erschöpfenden Bestimmung von Raffaels florentinischen Auftraggebern. Das Publikum, das florentinische wie das nachlesende, kommt dabei leider zu kurz. Da hilft auch die gleich eingangs beschworene "eigene Argumentation" der Abbildungen nicht weiter, denn die Bilder schweigen, solange sie nicht befragt werden.
Vielleicht ist Raffaels Geheimnis ja auch das Geheimnis von Florenz. Die einfachen körperlichen Gesten und Gebärden des Gebens, Nehmens und Empfangens, des Trennens und Verbindens sind die zentralen Themen der florentinischen und auch von Raffaels Kunst. "Civitas", verkündete einst der Prediger Fra Giordano da Rivalto in der Kirche von Santa Maria Novella zu Florenz, das klänge doch wie "Caritas" - Raffaels Hauptthema, die Liebe -, und "aus Liebe" würden auch "die Städte erbaut". Meyer zur Capellen hat Raffael zwar die Hände zurückgegeben, noch immer fehlen ihm aber die Füße, auf denen er sich durch Florenz bewegte. VOLKER BREIDECKER
Jürg Meyer zur Capellen: "Raffael in Florenz". Hirmer Verlag, München, Azimuth Editions London 1996. 262 S., 143 Abb., geb., 98,- DM.
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