Die hier versammelten Texte Rahels zeugen von intimer Vertrautheit mit Geistesgrößen ihrer Zeit. Schleiermacher, Fichte, Fouqué, Chamisso, die Brüder Schlegel, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Heine und viele andere fanden in Rahel eine ebenbürtige Brief- und Gesprächspartnerin. Die Briefe und Aufzeichnungen zeugen nicht nur von einem im wahrsten Sinne des Wortes 'wissenden' Geist, sondern auch von einer um Selbstfindung bemühten und doch mitfühlenden Persönlichkeit. Im "Buch des Andenkens" offenbart sich Rahel als eine der großen Schriftstellerinnen Deutschlands. Der Zeit und dem Rang nach ist sie die erste Jüdin der deutschen Literatur.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2012Eine Frau von verblüffender Modernität
Auf frischen, abstrakten Wegen: Endlich liegt die Korrespondent von Rahel Varnhagen vor. Die Briefe zeigen die Schriftstellerin und Salonnière als Frau, die sich selbstverwirklichte - zu einer Zeit, als es das Wort noch nicht gab.
Eine wunderbare Neuausgabe der Briefe Rahel von Varnhagens verwirklicht einen Plan, der vor hundertfünfzig Jahren stockte. Sie bietet nun die Gelegenheit, sich mit einem der eigenartigsten und wichtigsten Werke der Goethezeit auseinanderzusetzen. Es ist nicht einfach, sich diesem OEuvre zu nähern. Die immer noch bedeutendste Studie über Rahel von Varnhagen, die von Hannah Arendt (1959), enthält schneidend Ablehnendes; das ist die Reaktion einer deutschjüdischen Emigrantin auf das, was ihr als das Illusionäre, Inszenierte am Leben der Jüdin Rahel in Deutschland erschien. Und doch erkennt man ihre tiefe Sympathie für das "rebellische Herz". Auch wegen dieser tief in die deutsche Geschichte hinabführenden Widersprüchlichkeit verdienen die Briefe größte Aufmerksamkeit. Doch lohnen die sechs Bände die begeisterte Mühe des genauen, schweifenden, blätternden, hin und her gehenden Lesens vor allem deswegen, weil man hier einer unerhört radikalen Konstruktion von Subjektivität begegnet.
Rahel Levin, eine Berlinerin, wurde 1771 in die Kaufmannsfamilie Levin geboren; 1810 nahm sie den Namen Rahel Robert an. Ihre hohe Bildung war autodidaktisch, ihr erster Salon in der bescheidenen elterlichen Wohnung in der Jägerstraße hatte eine singuläre, den Hof und das Bürgertum einen historischen Augenblick lang wie mühelos vereinende Ausstrahlungskraft - seit 1790 verkehrten hier Prinz Louis Ferdinand, Friedrich Schlegel, die Brüder Humboldt, Gentz, Brentano, Jean Paul und viele andere. Mit dem Tod von Louis Ferdinand 1806 in der Schlacht bei Saalfeld (vier Tage vor Jena und Auerstedt) kommt das Ende dieses ersten Salons; die Katastrophe des alten Preußens beendet auch die hier herrschende Aufbruchstimmung.
Rahel Varnhagen litt zeit ihres Lebens an dem, was sie als das "Ungraziöse" ihrer Person empfand. Grillparzer beschrieb den ersten Eindruck seiner Begegnung 1826 mit den Worten: "die alternde, vielleicht nie hübsche, von Krankheit zusammengekrümmte, etwas einer Fee, um nicht zu sagen einer Hexe ähnliche Frau" - und war doch sogleich von ihr bezaubert. Sie wollte frei leben. Nach zwei unglücklichen, grausam endenden Liebschaften heiratete sie 1814 den Schriftsteller und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense: eine Verbindung auf der Grundlage großer Zuneigung, aber ohne Liebe Rahels - und der ungewöhnliche Fall der Heirat eines wesentlich jüngeren Mannes mit einer Älteren, die er in schwärmerischer Verehrung umsorgte. Ein recht typischer Bericht, den Therese Schlesinger über einen Abend bei Mendelssohns hinterlassen hat, schildert den Auftritt des Ehepaars: "Dann trat der verehrerische Gatte hinter ihren Stuhl und zog leise sein Taschenbuch hervor, um jede ihrer Reden gleich niederzuschreiben." Nichts ist leichter, als die wunderlichen Züge dieses Zusammenlebens spöttisch auszustellen, doch hat dies alles - der zweite Salon seit 1820, die Goethebegeisterung, die Freundschaften, für die der Goethesche Schlüsselbegriff der "Gleichgesinnten" gilt - auch einen großen, auf dem Hintergrund der scheiternden politischen Hoffnungen fast tragischen Ernst. Ein heute zur Phrase verkommenes Wort wie "Selbstverwirklichung" hatte in diesem Leben noch seine ganze verzweifelte Würde. Sie starb 1833; die Grabstätte liegt auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde, einem der berühmten "Friedhöfe vor dem Hallischen Tor". Ihre Briefe erschienen zuerst im Todesjahr als Privatdruck des Gatten: "Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde", dann in einer erweiterten Ausgabe in drei Bänden 1834. Bis zu seinem Tode 1858 plante Varnhagen eine erweiterte dritte Ausgabe, die nicht mehr zustande kam - unter anderem wegen der veränderten politischen Stimmung. Die politische Brisanz der von den Varnhagens repräsentierten kritisch-bürgerlichen Geselligkeitskultur zeigt sich an dem Umstand, dass Ludmilla Assing, die Nichte Varnhagens, die den Nachlass erbte und 1861 die Tagebücher des Onkels herausgab, daraufhin wegen Majestätsbeleidigung verfolgt wurde und nach Italien fliehen musste. Varnhagen wie Rahel hatten an den später, 1848, niedergeschlagenen Forderungen festgehalten.
In diesen Zusammenhang gehört auch die Hoffnung auf eine Emanzipation der Juden. Das "deutsch-jüdische Gespräch", gegen dessen Beschwörung sich Gershom Scholem 1964 mit solcher Schärfe wandte, hätte vielleicht als eines der wenigen genuinen Belegstücke Rahels ersten Salon vorzuweisen; dann wird das Verhältnis zusehends hässlicher. "Denk dir, dass einem hier die Domestiken erzählen, zwei Juden hätten hier! die Brunnen vergiftet", schreibt sie am 13. August 1831 während der Berliner Choleraepidemie an den Bruder Ludwig Robert; es ist nicht ihr einziges Zeugnis für den immer bedrohlicher und infamer werdenden Antisemitismus, das sie registriert. Und die empörte Betonung des "hier", in Berlin, zeigt, wie sie zunehmend an der eigenen Begeisterung für die friderizianische Toleranz des alten Preußens und für das Gleichberechtigungsversprechen der Hardenbergschen Reformen irre wird.
Varnhagens Plan der erweiterten Ausgabe blieb unausgeführt, bis er nun mit dieser sechsbändigen Edition, in der jahrelange Arbeit steckt, verwirklicht wurde. Das Material, das Varnhagen für die dritte Ausgabe gesammelt hatte, kam mit seiner ganzen umfangreichen und kostbaren Autographensammlung an die Preußische Staatsbibliothek, wurde im Zweiten Weltkrieg ausgelagert und befindet sich heute mit vielen anderen Kostbarkeiten des Hauses in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau. Dass bisher alle Versuche gescheitert sind, Polen zu einer Rückgabe des Bestands zu bewegen, ist vor dem Hintergrund der Erinnerung an die nationalsozialistischen Anstrengungen, Polen als Kulturnation systematisch auszulöschen, nicht ganz unbegreiflich. Dass die Forschung in Krakau schon seit längerem keinen Hindernissen mehr begegnet, beweist diese Ausgabe.
Keineswegs sind alle Briefe von gleichem Rang, aber nahezu alle sind von bemerkenswerter emotionaler Strategie der Freundschaft durchdrungen, die einer Haltung entspringt und auf eine Lebensform zielt. Der Leser erkennt eine couragierte, sehnsüchtige Subjektivität, erfährt das "zuckende Linienspiel" ihrer Rede (mit Uwe Schweikerts schöner Formulierung), ihre erstaunliche Offenheit, auch im Erotischen, ihre Originalität "auf frischen, kleinen, abstrakten Wegen" (an Astolphe de Custine, 24. August 1816), ihre Eigenart, die sich um den Mangel eines großen Stils nicht bekümmert. Was sie einmal zu Karl Gustav von Brinckmann sagte, zeigt diesen Mangel als Stolz: "Ich bin keine Schriftstellerin, und wozu? Wer meine Abkürzungen ... nicht versteht, meine Kreuz- und Quersprünge nicht mag, für den spreche und schreibe ich eben nicht. Meine Briefe, oder Zettelchen an Sie, und wirkliche Vertraute, sind nur - ein Stückchen Leben mit Euch; Papier und Federn sind nur ein Reisebehelf, damit wir schneller zusammenkommen. Dann plaudern wir bei verschlossenen Türen."
Robert Minder schrieb vor Jahrzehnten, dass in Frankreich solche Briefe längst im Bewusstsein der Nation lebendig wären, "in Deutschland kennt sie nur ein versprengtes Häuflein von Literaturfreunden". Die Diagnose trifft immer noch zu, trotz der bedeutenden Ausgaben der einzelnen Briefwechsel durch Friedhelm Kemp. Wird diese glanzvolle Edition daran etwas ändern? Die Voraussetzungen sind gegeben. Im ersten Band findet sich ein kluges Vorwort voll kritischer Sympathie von Brigitte Kronauer, der sechste Band enthält Darlegungen der Herausgeberin Barbara Hahn sowie Schlüsseldokumente, ein Verzeichnis der Korrespondenten, oft mit ausführlichen biographischen Angaben, Abbildungen, Briefverzeichnis und Register. Die Stiftung Wüstenrot hat das monumentale Unternehmen zusammen mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ermöglicht; es ist nach den Werkausgaben von Peter Altenberg, August von Knigge und Oskar Loerke die vierte Edition, die aus dieser Zusammenarbeit entstanden ist. Noch mehr als im Falle Altenberg kann man bei diesem Ineditum des neunzehnten Jahrhunderts von einer genuinen philologischen Bereicherung des Literaturkanons sprechen. Das große Werk sollte gelesen werden: damit sich seine verblüffende Modernität erweisen kann.
Das Motto, das den drei Ausgaben vorangestellt ist, stammt aus dem wohl größten Briefroman der deutschen Literatur, Hölderlins "Hyperion". Es lautet: "Still und bewegt". In diesem lakonischen Zitat muss man eine ungeheure Spannung der Gefühlszustände entziffern, des gegensätzlich Wünschbaren.
JOACHIM KALKA
Rahel Levin Varnhagen: "Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde".
Hrsg. Barbara Hahn. Essay von Brigitte Kronauer. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 6 Bd., zs. 3310 S., geb., 69.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf frischen, abstrakten Wegen: Endlich liegt die Korrespondent von Rahel Varnhagen vor. Die Briefe zeigen die Schriftstellerin und Salonnière als Frau, die sich selbstverwirklichte - zu einer Zeit, als es das Wort noch nicht gab.
Eine wunderbare Neuausgabe der Briefe Rahel von Varnhagens verwirklicht einen Plan, der vor hundertfünfzig Jahren stockte. Sie bietet nun die Gelegenheit, sich mit einem der eigenartigsten und wichtigsten Werke der Goethezeit auseinanderzusetzen. Es ist nicht einfach, sich diesem OEuvre zu nähern. Die immer noch bedeutendste Studie über Rahel von Varnhagen, die von Hannah Arendt (1959), enthält schneidend Ablehnendes; das ist die Reaktion einer deutschjüdischen Emigrantin auf das, was ihr als das Illusionäre, Inszenierte am Leben der Jüdin Rahel in Deutschland erschien. Und doch erkennt man ihre tiefe Sympathie für das "rebellische Herz". Auch wegen dieser tief in die deutsche Geschichte hinabführenden Widersprüchlichkeit verdienen die Briefe größte Aufmerksamkeit. Doch lohnen die sechs Bände die begeisterte Mühe des genauen, schweifenden, blätternden, hin und her gehenden Lesens vor allem deswegen, weil man hier einer unerhört radikalen Konstruktion von Subjektivität begegnet.
Rahel Levin, eine Berlinerin, wurde 1771 in die Kaufmannsfamilie Levin geboren; 1810 nahm sie den Namen Rahel Robert an. Ihre hohe Bildung war autodidaktisch, ihr erster Salon in der bescheidenen elterlichen Wohnung in der Jägerstraße hatte eine singuläre, den Hof und das Bürgertum einen historischen Augenblick lang wie mühelos vereinende Ausstrahlungskraft - seit 1790 verkehrten hier Prinz Louis Ferdinand, Friedrich Schlegel, die Brüder Humboldt, Gentz, Brentano, Jean Paul und viele andere. Mit dem Tod von Louis Ferdinand 1806 in der Schlacht bei Saalfeld (vier Tage vor Jena und Auerstedt) kommt das Ende dieses ersten Salons; die Katastrophe des alten Preußens beendet auch die hier herrschende Aufbruchstimmung.
Rahel Varnhagen litt zeit ihres Lebens an dem, was sie als das "Ungraziöse" ihrer Person empfand. Grillparzer beschrieb den ersten Eindruck seiner Begegnung 1826 mit den Worten: "die alternde, vielleicht nie hübsche, von Krankheit zusammengekrümmte, etwas einer Fee, um nicht zu sagen einer Hexe ähnliche Frau" - und war doch sogleich von ihr bezaubert. Sie wollte frei leben. Nach zwei unglücklichen, grausam endenden Liebschaften heiratete sie 1814 den Schriftsteller und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense: eine Verbindung auf der Grundlage großer Zuneigung, aber ohne Liebe Rahels - und der ungewöhnliche Fall der Heirat eines wesentlich jüngeren Mannes mit einer Älteren, die er in schwärmerischer Verehrung umsorgte. Ein recht typischer Bericht, den Therese Schlesinger über einen Abend bei Mendelssohns hinterlassen hat, schildert den Auftritt des Ehepaars: "Dann trat der verehrerische Gatte hinter ihren Stuhl und zog leise sein Taschenbuch hervor, um jede ihrer Reden gleich niederzuschreiben." Nichts ist leichter, als die wunderlichen Züge dieses Zusammenlebens spöttisch auszustellen, doch hat dies alles - der zweite Salon seit 1820, die Goethebegeisterung, die Freundschaften, für die der Goethesche Schlüsselbegriff der "Gleichgesinnten" gilt - auch einen großen, auf dem Hintergrund der scheiternden politischen Hoffnungen fast tragischen Ernst. Ein heute zur Phrase verkommenes Wort wie "Selbstverwirklichung" hatte in diesem Leben noch seine ganze verzweifelte Würde. Sie starb 1833; die Grabstätte liegt auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde, einem der berühmten "Friedhöfe vor dem Hallischen Tor". Ihre Briefe erschienen zuerst im Todesjahr als Privatdruck des Gatten: "Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde", dann in einer erweiterten Ausgabe in drei Bänden 1834. Bis zu seinem Tode 1858 plante Varnhagen eine erweiterte dritte Ausgabe, die nicht mehr zustande kam - unter anderem wegen der veränderten politischen Stimmung. Die politische Brisanz der von den Varnhagens repräsentierten kritisch-bürgerlichen Geselligkeitskultur zeigt sich an dem Umstand, dass Ludmilla Assing, die Nichte Varnhagens, die den Nachlass erbte und 1861 die Tagebücher des Onkels herausgab, daraufhin wegen Majestätsbeleidigung verfolgt wurde und nach Italien fliehen musste. Varnhagen wie Rahel hatten an den später, 1848, niedergeschlagenen Forderungen festgehalten.
In diesen Zusammenhang gehört auch die Hoffnung auf eine Emanzipation der Juden. Das "deutsch-jüdische Gespräch", gegen dessen Beschwörung sich Gershom Scholem 1964 mit solcher Schärfe wandte, hätte vielleicht als eines der wenigen genuinen Belegstücke Rahels ersten Salon vorzuweisen; dann wird das Verhältnis zusehends hässlicher. "Denk dir, dass einem hier die Domestiken erzählen, zwei Juden hätten hier! die Brunnen vergiftet", schreibt sie am 13. August 1831 während der Berliner Choleraepidemie an den Bruder Ludwig Robert; es ist nicht ihr einziges Zeugnis für den immer bedrohlicher und infamer werdenden Antisemitismus, das sie registriert. Und die empörte Betonung des "hier", in Berlin, zeigt, wie sie zunehmend an der eigenen Begeisterung für die friderizianische Toleranz des alten Preußens und für das Gleichberechtigungsversprechen der Hardenbergschen Reformen irre wird.
Varnhagens Plan der erweiterten Ausgabe blieb unausgeführt, bis er nun mit dieser sechsbändigen Edition, in der jahrelange Arbeit steckt, verwirklicht wurde. Das Material, das Varnhagen für die dritte Ausgabe gesammelt hatte, kam mit seiner ganzen umfangreichen und kostbaren Autographensammlung an die Preußische Staatsbibliothek, wurde im Zweiten Weltkrieg ausgelagert und befindet sich heute mit vielen anderen Kostbarkeiten des Hauses in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau. Dass bisher alle Versuche gescheitert sind, Polen zu einer Rückgabe des Bestands zu bewegen, ist vor dem Hintergrund der Erinnerung an die nationalsozialistischen Anstrengungen, Polen als Kulturnation systematisch auszulöschen, nicht ganz unbegreiflich. Dass die Forschung in Krakau schon seit längerem keinen Hindernissen mehr begegnet, beweist diese Ausgabe.
Keineswegs sind alle Briefe von gleichem Rang, aber nahezu alle sind von bemerkenswerter emotionaler Strategie der Freundschaft durchdrungen, die einer Haltung entspringt und auf eine Lebensform zielt. Der Leser erkennt eine couragierte, sehnsüchtige Subjektivität, erfährt das "zuckende Linienspiel" ihrer Rede (mit Uwe Schweikerts schöner Formulierung), ihre erstaunliche Offenheit, auch im Erotischen, ihre Originalität "auf frischen, kleinen, abstrakten Wegen" (an Astolphe de Custine, 24. August 1816), ihre Eigenart, die sich um den Mangel eines großen Stils nicht bekümmert. Was sie einmal zu Karl Gustav von Brinckmann sagte, zeigt diesen Mangel als Stolz: "Ich bin keine Schriftstellerin, und wozu? Wer meine Abkürzungen ... nicht versteht, meine Kreuz- und Quersprünge nicht mag, für den spreche und schreibe ich eben nicht. Meine Briefe, oder Zettelchen an Sie, und wirkliche Vertraute, sind nur - ein Stückchen Leben mit Euch; Papier und Federn sind nur ein Reisebehelf, damit wir schneller zusammenkommen. Dann plaudern wir bei verschlossenen Türen."
Robert Minder schrieb vor Jahrzehnten, dass in Frankreich solche Briefe längst im Bewusstsein der Nation lebendig wären, "in Deutschland kennt sie nur ein versprengtes Häuflein von Literaturfreunden". Die Diagnose trifft immer noch zu, trotz der bedeutenden Ausgaben der einzelnen Briefwechsel durch Friedhelm Kemp. Wird diese glanzvolle Edition daran etwas ändern? Die Voraussetzungen sind gegeben. Im ersten Band findet sich ein kluges Vorwort voll kritischer Sympathie von Brigitte Kronauer, der sechste Band enthält Darlegungen der Herausgeberin Barbara Hahn sowie Schlüsseldokumente, ein Verzeichnis der Korrespondenten, oft mit ausführlichen biographischen Angaben, Abbildungen, Briefverzeichnis und Register. Die Stiftung Wüstenrot hat das monumentale Unternehmen zusammen mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ermöglicht; es ist nach den Werkausgaben von Peter Altenberg, August von Knigge und Oskar Loerke die vierte Edition, die aus dieser Zusammenarbeit entstanden ist. Noch mehr als im Falle Altenberg kann man bei diesem Ineditum des neunzehnten Jahrhunderts von einer genuinen philologischen Bereicherung des Literaturkanons sprechen. Das große Werk sollte gelesen werden: damit sich seine verblüffende Modernität erweisen kann.
Das Motto, das den drei Ausgaben vorangestellt ist, stammt aus dem wohl größten Briefroman der deutschen Literatur, Hölderlins "Hyperion". Es lautet: "Still und bewegt". In diesem lakonischen Zitat muss man eine ungeheure Spannung der Gefühlszustände entziffern, des gegensätzlich Wünschbaren.
JOACHIM KALKA
Rahel Levin Varnhagen: "Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde".
Hrsg. Barbara Hahn. Essay von Brigitte Kronauer. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 6 Bd., zs. 3310 S., geb., 69.- [Euro].
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