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Die hier versammelten Texte Rahels zeugen von intimer Vertrautheit mit Geistesgrößen ihrer Zeit. Schleiermacher, Fichte, Fouqué, Chamisso, die Brüder Schlegel, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Heine und viele andere fanden in Rahel eine ebenbürtige Brief- und Gesprächspartnerin. Die Briefe und Aufzeichnungen zeugen nicht nur von einem im wahrsten Sinne des Wortes 'wissenden' Geist, sondern auch von einer um Selbstfindung bemühten und doch mitfühlenden Persönlichkeit. Im "Buch des Andenkens" offenbart sich Rahel als eine der großen Schriftstellerinnen Deutschlands. Der Zeit und dem Rang nach ist sie die erste Jüdin der deutschen Literatur.…mehr

Produktbeschreibung
Die hier versammelten Texte Rahels zeugen von intimer Vertrautheit mit Geistesgrößen ihrer Zeit. Schleiermacher, Fichte, Fouqué, Chamisso, die Brüder Schlegel, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Heine und viele andere fanden in Rahel eine ebenbürtige Brief- und Gesprächspartnerin. Die Briefe und Aufzeichnungen zeugen nicht nur von einem im wahrsten Sinne des Wortes 'wissenden' Geist, sondern auch von einer um Selbstfindung bemühten und doch mitfühlenden Persönlichkeit. Im "Buch des Andenkens" offenbart sich Rahel als eine der großen Schriftstellerinnen Deutschlands. Der Zeit und dem Rang nach ist sie die erste Jüdin der deutschen Literatur.
Autorenporträt
Varnhagen von Ense, Rahel
Rahel Varnhagen, geboren 1771 als ältestes Kind des jüdischen Kaufmanns und Bankers Markus Levin, unterhielt einen der wichtigsten Salons und bildete ein geistiges Zentrum Berlins. Sie ließ sich 1814 protestantisch taufen und heiratete Karl August Varnhagen von Ense. Sie wohnte dem Wiener Kongress bei, zog 1816 nach Karlsruhe und 1819 wieder zurück nach Berlin. Sie starb hoch verehrt 1833.

Landfester, Ulrike
Ulrike Landfester, geboren 1962 in Soltau/Niedersachsen, ist Professorin für Deutsche Sprache und Literatur in St. Gallen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2011

Aus der glänzendsten Epoche der Berliner Geschichte
Rahel Varnhagen war für ihren literarischen Salon berühmt. Ihre reichen Aufzeichnungen sind nun in der bisher unveröffentlichten letzten Fassung erschienen
Der Sommer 1834 brachte dem Wiener Zensurbeamten Johann Baptist Rupprecht angenehme Stunden. In Erfüllung seiner Amtspflicht las er „Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“ und war hin und weg. Das gehe, sagte er, „über alles!“ Es „belohne ihn für sechs Monate traurigster Lesereien anderer Schriften“. Da auch Zensoren ein Herz haben, schickte er dem Herausgeber, Karl August Varnhagen von Ense, ein begeistertes Gedicht: „Goldblumen pflanzte Sie auf deinen Pfad, / Gold wird, was Sie gedacht, empfand, geschrieben“.
Der Zensor war mit seiner Begeisterung nicht allein. Das Buch Rahel, eine Sammlung von Briefen und Tagebuchblättern, Notizen und Aphorismen der geistreichen, eigenwilligen Frau mit ausgeprägtem Geselligkeitsgenie, wurde ein großer Erfolg und ein Lieblingsbuch des „Jungen Deutschland“. Rasch wurde eine zweite, erweiterte Auflage notwendig. Fürst Metternich, der Ordner Europas, erhielt vom österreichischen Gesandten in Berlin die Auskunft, der Gatte und Herausgeber Varnhagen sei möglicherweise nicht ungefährlich und gehöre „zu einer Genoßenschaft, welche die schon damals aus jenen Briefen hervorleuchtenden unmoralischen Grundsätze zu einem System erheben wollen.“ Man spürt in diesen Zeilen, was die Zeitgenossen an der Rahel, wie sie in diesem Buch erschien, entzückte. Sie konnte als Vorbild einer emanzipierten, einer ästhetischen Existenz gelten, die sich in Selbstauskünften und Freundschaftsbriefen verströmte. Auch literarisch hatte die Publikation Folgen. Die Bücher Bettina von Arnims, beginnend mit „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ (1835), verdanken dem „Buch des Andenkens“ viel.
Varnhagen von Ense, den Rahel 1814 aus Vernunft und Zuneigung, aber wohl ohne verzehrende Leidenschaft geheiratet hatte, bereitete eine dritte, noch einmal erweiterte Ausgabe vor. Dazu klebte er jedes einzelne Blatt des Buches von 1834 in ein Passepartout. Er gewann dadurch Raum für Ergänzungen. Auch schrieb er Briefe seiner Frau ab und legte sie an entsprechender Stelle ein. Dabei nahm er weniger Rücksichten auf die Zensur und Empfindlichkeiten der Zeitgenossen. Neue Materialien, ihm gerade erst zugänglich Gewordenes fand so seinen Platz. Die Ausgabe, dreimal so umfangreich wie die 1834 gedruckte, ist nie erschienen. Sie wird heute in der Biblioteka Jagiellonska in Krakau aufbewahrt.   Die Germanistin und Rahel-Kennerin Barbara Hahn hat Varnhagens Manuskript nun sorgfältig ediert und erschlossen: sechs Bände, weit über dreitausend Seiten. Sie verbindet geschickt die Treue zum Überlieferten mit neuerem philologischem Komfort. Die Namen sind ausgeschrieben, die jeweiligen Aufenthaltsorte vermerkt, Datierungsfehler korrigiert. Die 130 Adressaten, denen Rahel schrieb, und die vier Korrespondenten, deren Briefe an Rahel Aufnahme fanden, werden ausführlich vorgestellt, wozu Barbara Hahn die berühmten biographischen Skizzen Varnhagens und auch Ungedrucktes aus der überwältigend reichhaltigen Sammlung Varnhagen nutzt. Dokumente erhellen Teile der Publikationsgeschichte, wunderbar detailliert ist das Register der Personen, Orte und Werke. So sind die sechs Bände eine Fundgrube zur Kulturgeschichte zwischen dem Tode Friedrichs des Großen und der Pariser Julirevolution.
Rahels Name ist eng mit der glänzendste Epoche der Berliner Geschichte verbunden, als vieles von dem entstand und als ein Neues, Unerhörtes erprobt wurde, woran wir bis heute knabbern. 1771 als älteste Tochter des jüdischen Juwelenhändlers und Bankiers Levin Markus geboren, wird die junge Rahel ab 1790 zu einem Zentralgestirn des preußischen Aufbruchs – doch leuchtete es im Abseits. Hannah Arendt hat in ihrer viel kritisierten, aber bis heute nicht ersetzten „Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ vermutet, dass die Geselligkeit um Rahel und Henriette Herz eben aufgrund ihrer Exterritorialität eine so große Rolle für die Übergangsgesellschaft um 1800 spielen konnte.
In der Jägerstraße empfing Rahel allerlei zukünftige Prominenz, darunter die Brüder Humboldt und Tieck, den schwedischen Diplomaten Karl Gustav Brinckmann und den größten politischen Kopf der Zeit, Friedrich Gentz. Der außergewöhnlich begabte und noch schönere Prinz Louis Ferdinand ging lieber zu Rahel, um sich dort zu unterhalten und mit Pauline Wiesel zu amüsieren, statt das notwendig langweilige Hofleben länger als nötig zu ertragen.
In diesem, allmählich größer werdenden Kreis stellte jeder sich auf seine Weise den Herausforderungen der Zeit. Der Freiheitsmut der Franzosen wurde mit dem Vernunftmut des alten friderizianischen Preußens aufgenommen und umgewandelt. Zugleich rebellierten die Töchter und Söhne gegen die Aufklärungskultur der Väter, die oft mehr registrierten, inspizierten und regulierten als verstanden und beflügelten. Drei Momente zeichneten diese erste Epoche in Rahels Leben und ihren ersten „Salon“ aus: provozierende erotische Freizügigkeit, unbedingte Verehrung Goethes, die in Berlin als Gott der wahren Bildung und wahrer Lebenskunst installiert wurde, sowie ein nie zurückgenommenes Bekenntnis zur Individualität, zum Ich als irreduziblen Grund.
Das hat sich Rahel über Krisen und Schicksalsschläge hinweg bewahrt: unglücklich ihre zerstörerischen Lieben zu Karl Graf von Finckenstein und Don Rafael d’Urquijo, entsetzlich die Knappheit und Vereinsamung nach der preußischen Niederlage 1806, immer spürbar die Beschränkungen eines Lebens als Frau und Jüdin. Mit der Modernisierung Preußens kehrt der Antisemitismus zurück, die neuen Einrichtungen, allen voran die Universität, erfordern eine andere Kultur der Geselligkeit, die Reaktion nach 1819 erschwert Freisinn, stellt auch ihren Mann, Varnhagen, ins Abseits.
Rahel reagiert darauf mit neuen Projekten, starker Hinwendung zur Familie und unermüdlich schreibend. In ihren Briefen, meinte Gottfried Keller, sehe man, „absolute Natur, Wahrheit, Selbstlosigkeit, Genialität“ und zugleich „fortwährende Pose, Selbstverzehrung, Beschwörungssucht, Überredungslist, höchste Naivität des Selbstlobs“. Alles kreist um die eigene Existenz.
Es gibt hinreißende Passagen in diesen stets sorgsam kalkulierten Briefen. Im Juli 1815 berichtet sie Varnhagen aus Baden bei Wien von einem Ausflug ins Gebirge: „Ein Moment war unbeschreiblich; als wir von unserer Ruine so ziemlich ins Thal hinabgestiegen waren, wo es nicht groß und nicht klein war, schien die Sonne nicht mehr; nur auf einer uns gegenüberragenden andern Ruine, die durch Optik ganz im Kreise unsers nicht beschienenen Thales eingeringt war: Es war der Abend selbst. Unschuldig, verhältnißlos, unpersönlich, ungekränkt, ohne Forderung, paradiesisch, ohne Unfall ... Könnt’ ich Silbenmaß finden, wie ich einsehe, fühle und Worte finde, so machte ich hieraus ein bleibendes Gedicht“.
Brigitte Kronauer charakterisiert in ihrem einleitenden Essay, verständnisvoll, aber nicht auf den Knien des Herzens, die „schwelende Unzufriedenheit“ Rahels und ihren Verzicht auf poetische Formgebung. Wie Rahel in Briefen ihr Leben und Denken zum Kunstwerk gestalten wollte, wie sie ihre Individualität immer neu schilderte, läßt sich in dieser Ausgabe besser studieren als irgend sonst. Schmerzlich vermisst man aber eine genauere Betrachtung der Eingriffe Varnhagens, was doch auch ohne ausufernden textkritischen Apparat möglich gewesen wäre. Eine der hellsten Einsichten Rahels fehlte in der ersten Ausgabe: „Was aber soll’ ich Ihnen über das Vaterland sagen? Ich meine, ohne große Blutkatastrophe werden wir keine Nation; wenn wir das sind, werden wir wissen, daß wir jetzt nur den Dünkel davon haben, und noch Völker sind.“ Wie hat Varnhagen redigiert? Und wie reagierten die Zeitgenossen auf sein Buch Rahel, das einen Kult begründete? Die Auskünfte dazu sind unnötig knapp gehalten. Am Ende der 3300 Seiten sieht man ein, dass es Zeit wird für einen Sachkommentar und historische Erläuterungen. Es ist verständlich, dass das hier nicht geleistet werden konnte. Aber man sollte damit anfangen, am besten wohl im Netz. Sonst erfüllt sich Heinrich Heines Prophezeiung: „Rahels Briefe werden für die Spätergeborenen doch nur unenträthselbare Hieroglifen seyn -“
JENS BISKY
RAHEL LEVIN VARNHAGEN: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Herausgegeben von Barbara Hahn. Mit einem Essay von Brigitte Kronauer. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 6 Bände, zusammen 3310 Seiten, 69 Euro.
So beginnt der erste Brief, 1787:
„Meiner Rechnung nach bist
Du mir eine Antwort schuldig“
„Ich meine, ohne
Blutkatastrophe werden
wir keine Nation“
Rahel Varhagen von Ense (1771-1833). Alexander von der Marwitz meinte 1809, sie möge „wohl jetzo das größte Weib sein auf Erden“.
Bleistiftzeichnung von Wilhelm Hensel aus dem Jahr 1822.
Abb.: Bernhard Megele, S.M.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2012

Eine Frau von verblüffender Modernität

Auf frischen, abstrakten Wegen: Endlich liegt die Korrespondent von Rahel Varnhagen vor. Die Briefe zeigen die Schriftstellerin und Salonnière als Frau, die sich selbstverwirklichte - zu einer Zeit, als es das Wort noch nicht gab.

Eine wunderbare Neuausgabe der Briefe Rahel von Varnhagens verwirklicht einen Plan, der vor hundertfünfzig Jahren stockte. Sie bietet nun die Gelegenheit, sich mit einem der eigenartigsten und wichtigsten Werke der Goethezeit auseinanderzusetzen. Es ist nicht einfach, sich diesem OEuvre zu nähern. Die immer noch bedeutendste Studie über Rahel von Varnhagen, die von Hannah Arendt (1959), enthält schneidend Ablehnendes; das ist die Reaktion einer deutschjüdischen Emigrantin auf das, was ihr als das Illusionäre, Inszenierte am Leben der Jüdin Rahel in Deutschland erschien. Und doch erkennt man ihre tiefe Sympathie für das "rebellische Herz". Auch wegen dieser tief in die deutsche Geschichte hinabführenden Widersprüchlichkeit verdienen die Briefe größte Aufmerksamkeit. Doch lohnen die sechs Bände die begeisterte Mühe des genauen, schweifenden, blätternden, hin und her gehenden Lesens vor allem deswegen, weil man hier einer unerhört radikalen Konstruktion von Subjektivität begegnet.

Rahel Levin, eine Berlinerin, wurde 1771 in die Kaufmannsfamilie Levin geboren; 1810 nahm sie den Namen Rahel Robert an. Ihre hohe Bildung war autodidaktisch, ihr erster Salon in der bescheidenen elterlichen Wohnung in der Jägerstraße hatte eine singuläre, den Hof und das Bürgertum einen historischen Augenblick lang wie mühelos vereinende Ausstrahlungskraft - seit 1790 verkehrten hier Prinz Louis Ferdinand, Friedrich Schlegel, die Brüder Humboldt, Gentz, Brentano, Jean Paul und viele andere. Mit dem Tod von Louis Ferdinand 1806 in der Schlacht bei Saalfeld (vier Tage vor Jena und Auerstedt) kommt das Ende dieses ersten Salons; die Katastrophe des alten Preußens beendet auch die hier herrschende Aufbruchstimmung.

Rahel Varnhagen litt zeit ihres Lebens an dem, was sie als das "Ungraziöse" ihrer Person empfand. Grillparzer beschrieb den ersten Eindruck seiner Begegnung 1826 mit den Worten: "die alternde, vielleicht nie hübsche, von Krankheit zusammengekrümmte, etwas einer Fee, um nicht zu sagen einer Hexe ähnliche Frau" - und war doch sogleich von ihr bezaubert. Sie wollte frei leben. Nach zwei unglücklichen, grausam endenden Liebschaften heiratete sie 1814 den Schriftsteller und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense: eine Verbindung auf der Grundlage großer Zuneigung, aber ohne Liebe Rahels - und der ungewöhnliche Fall der Heirat eines wesentlich jüngeren Mannes mit einer Älteren, die er in schwärmerischer Verehrung umsorgte. Ein recht typischer Bericht, den Therese Schlesinger über einen Abend bei Mendelssohns hinterlassen hat, schildert den Auftritt des Ehepaars: "Dann trat der verehrerische Gatte hinter ihren Stuhl und zog leise sein Taschenbuch hervor, um jede ihrer Reden gleich niederzuschreiben." Nichts ist leichter, als die wunderlichen Züge dieses Zusammenlebens spöttisch auszustellen, doch hat dies alles - der zweite Salon seit 1820, die Goethebegeisterung, die Freundschaften, für die der Goethesche Schlüsselbegriff der "Gleichgesinnten" gilt - auch einen großen, auf dem Hintergrund der scheiternden politischen Hoffnungen fast tragischen Ernst. Ein heute zur Phrase verkommenes Wort wie "Selbstverwirklichung" hatte in diesem Leben noch seine ganze verzweifelte Würde. Sie starb 1833; die Grabstätte liegt auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde, einem der berühmten "Friedhöfe vor dem Hallischen Tor". Ihre Briefe erschienen zuerst im Todesjahr als Privatdruck des Gatten: "Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde", dann in einer erweiterten Ausgabe in drei Bänden 1834. Bis zu seinem Tode 1858 plante Varnhagen eine erweiterte dritte Ausgabe, die nicht mehr zustande kam - unter anderem wegen der veränderten politischen Stimmung. Die politische Brisanz der von den Varnhagens repräsentierten kritisch-bürgerlichen Geselligkeitskultur zeigt sich an dem Umstand, dass Ludmilla Assing, die Nichte Varnhagens, die den Nachlass erbte und 1861 die Tagebücher des Onkels herausgab, daraufhin wegen Majestätsbeleidigung verfolgt wurde und nach Italien fliehen musste. Varnhagen wie Rahel hatten an den später, 1848, niedergeschlagenen Forderungen festgehalten.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Hoffnung auf eine Emanzipation der Juden. Das "deutsch-jüdische Gespräch", gegen dessen Beschwörung sich Gershom Scholem 1964 mit solcher Schärfe wandte, hätte vielleicht als eines der wenigen genuinen Belegstücke Rahels ersten Salon vorzuweisen; dann wird das Verhältnis zusehends hässlicher. "Denk dir, dass einem hier die Domestiken erzählen, zwei Juden hätten hier! die Brunnen vergiftet", schreibt sie am 13. August 1831 während der Berliner Choleraepidemie an den Bruder Ludwig Robert; es ist nicht ihr einziges Zeugnis für den immer bedrohlicher und infamer werdenden Antisemitismus, das sie registriert. Und die empörte Betonung des "hier", in Berlin, zeigt, wie sie zunehmend an der eigenen Begeisterung für die friderizianische Toleranz des alten Preußens und für das Gleichberechtigungsversprechen der Hardenbergschen Reformen irre wird.

Varnhagens Plan der erweiterten Ausgabe blieb unausgeführt, bis er nun mit dieser sechsbändigen Edition, in der jahrelange Arbeit steckt, verwirklicht wurde. Das Material, das Varnhagen für die dritte Ausgabe gesammelt hatte, kam mit seiner ganzen umfangreichen und kostbaren Autographensammlung an die Preußische Staatsbibliothek, wurde im Zweiten Weltkrieg ausgelagert und befindet sich heute mit vielen anderen Kostbarkeiten des Hauses in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau. Dass bisher alle Versuche gescheitert sind, Polen zu einer Rückgabe des Bestands zu bewegen, ist vor dem Hintergrund der Erinnerung an die nationalsozialistischen Anstrengungen, Polen als Kulturnation systematisch auszulöschen, nicht ganz unbegreiflich. Dass die Forschung in Krakau schon seit längerem keinen Hindernissen mehr begegnet, beweist diese Ausgabe.

Keineswegs sind alle Briefe von gleichem Rang, aber nahezu alle sind von bemerkenswerter emotionaler Strategie der Freundschaft durchdrungen, die einer Haltung entspringt und auf eine Lebensform zielt. Der Leser erkennt eine couragierte, sehnsüchtige Subjektivität, erfährt das "zuckende Linienspiel" ihrer Rede (mit Uwe Schweikerts schöner Formulierung), ihre erstaunliche Offenheit, auch im Erotischen, ihre Originalität "auf frischen, kleinen, abstrakten Wegen" (an Astolphe de Custine, 24. August 1816), ihre Eigenart, die sich um den Mangel eines großen Stils nicht bekümmert. Was sie einmal zu Karl Gustav von Brinckmann sagte, zeigt diesen Mangel als Stolz: "Ich bin keine Schriftstellerin, und wozu? Wer meine Abkürzungen ... nicht versteht, meine Kreuz- und Quersprünge nicht mag, für den spreche und schreibe ich eben nicht. Meine Briefe, oder Zettelchen an Sie, und wirkliche Vertraute, sind nur - ein Stückchen Leben mit Euch; Papier und Federn sind nur ein Reisebehelf, damit wir schneller zusammenkommen. Dann plaudern wir bei verschlossenen Türen."

Robert Minder schrieb vor Jahrzehnten, dass in Frankreich solche Briefe längst im Bewusstsein der Nation lebendig wären, "in Deutschland kennt sie nur ein versprengtes Häuflein von Literaturfreunden". Die Diagnose trifft immer noch zu, trotz der bedeutenden Ausgaben der einzelnen Briefwechsel durch Friedhelm Kemp. Wird diese glanzvolle Edition daran etwas ändern? Die Voraussetzungen sind gegeben. Im ersten Band findet sich ein kluges Vorwort voll kritischer Sympathie von Brigitte Kronauer, der sechste Band enthält Darlegungen der Herausgeberin Barbara Hahn sowie Schlüsseldokumente, ein Verzeichnis der Korrespondenten, oft mit ausführlichen biographischen Angaben, Abbildungen, Briefverzeichnis und Register. Die Stiftung Wüstenrot hat das monumentale Unternehmen zusammen mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ermöglicht; es ist nach den Werkausgaben von Peter Altenberg, August von Knigge und Oskar Loerke die vierte Edition, die aus dieser Zusammenarbeit entstanden ist. Noch mehr als im Falle Altenberg kann man bei diesem Ineditum des neunzehnten Jahrhunderts von einer genuinen philologischen Bereicherung des Literaturkanons sprechen. Das große Werk sollte gelesen werden: damit sich seine verblüffende Modernität erweisen kann.

Das Motto, das den drei Ausgaben vorangestellt ist, stammt aus dem wohl größten Briefroman der deutschen Literatur, Hölderlins "Hyperion". Es lautet: "Still und bewegt". In diesem lakonischen Zitat muss man eine ungeheure Spannung der Gefühlszustände entziffern, des gegensätzlich Wünschbaren.

JOACHIM KALKA

Rahel Levin Varnhagen: "Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde".

Hrsg. Barbara Hahn. Essay von Brigitte Kronauer. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 6 Bd., zs. 3310 S., geb., 69.- [Euro].

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