Rainer Maria Rilke, dessen Todestag sich am 29. Dezember 2001 zum 75. Male jährt, galt über Jahrzehnte als "der Dichter" schlechthin. Ralph Freedman hat sich dem Leben dieses Dichters - das reich ist an äußeren Stationen, an Begegnungen, an abrupten Veränderungen, Leiden und Freuden - und dessen wirkungsmächtigem Werk aus doppelter Distanz genähert: Mehr als 70 Jahre nach Rilkes Tod sind die Dokumente seines Lebens, eigene und fremde, dem forschenden Biographen größtenteils verfügbar; und von Amerika aus gesehen ist der kosmopolitische Rilke, der in deutscher und französischer Sprache schrieb, ein Dichter und Repräsentant Europas.
Wie schon in seiner Biographie Hermann Hesse. Autor der Krise geht es Freedman um den Menschen, der hinter dem Werk und den öffentlichen Masken verborgen ist. Er wagt dabei mitunter überraschende Rückschlüsse von der Dichtung auf den Menschen und umgekehrt; so sieht er Leben und Werk, insbesondere des jungen Dichters, von einer Grundkonstellation bestimmt: dem Kontrast zwischen der tristen Heinrichsgasse in Prag, in der er geboren wurde, und dem prächtigen Palais in der benachbarten Herrengasse, in der die wohlhabende Familie seiner Mutter lebte, zu der er nie ganz gehörte.
Freedman schildert das Leben des jungen René Rilke, der sich, nach einer schweren Kindheit in der gestörten Ehe seiner Eltern und in Militärschulen, früh zum Dichter bestimmt fühlte und seine ganze Kraft immer ausschließlicher auf ein Ziel zu richten begann: ein Dichter von Rang zu werden. Ob er als Halbwüchsiger mit einem Kindermädchen durchbrennt, sich verlobt und entlobt, die Lebensorte, die Universitäten und die Liebschaften wechselt, verschiedenste Brotarbeiten übernimmt oder Sponsoren umwirbt, er hat dabei letztlich eines im Blick: das Wachsen seines dichterischen Werkes.
Der erste Teil der Biographie umgreift die Jahre der Kindheit, der Jugend - mit ersten Veröffentlichungen von Gedichten, Erzählungen, Künstlermonographien und Essays - und der beginnenden Meisterschaft der Neuen Gedichte. Er reicht bis zum Bruch mit dem Bildhauer Auguste Rodin, für den Rilke eine Zeitlang als Sekretär tätig war.
Die Biographie ergänzt das Standwerk des Insel Verlages zu Rilkes Leben, die Rilke-Chronik von Ingeborg Schnack, um die überzeugende subjektive Deutung der Persönlichkeit des Dichters.
Wie schon in seiner Biographie Hermann Hesse. Autor der Krise geht es Freedman um den Menschen, der hinter dem Werk und den öffentlichen Masken verborgen ist. Er wagt dabei mitunter überraschende Rückschlüsse von der Dichtung auf den Menschen und umgekehrt; so sieht er Leben und Werk, insbesondere des jungen Dichters, von einer Grundkonstellation bestimmt: dem Kontrast zwischen der tristen Heinrichsgasse in Prag, in der er geboren wurde, und dem prächtigen Palais in der benachbarten Herrengasse, in der die wohlhabende Familie seiner Mutter lebte, zu der er nie ganz gehörte.
Freedman schildert das Leben des jungen René Rilke, der sich, nach einer schweren Kindheit in der gestörten Ehe seiner Eltern und in Militärschulen, früh zum Dichter bestimmt fühlte und seine ganze Kraft immer ausschließlicher auf ein Ziel zu richten begann: ein Dichter von Rang zu werden. Ob er als Halbwüchsiger mit einem Kindermädchen durchbrennt, sich verlobt und entlobt, die Lebensorte, die Universitäten und die Liebschaften wechselt, verschiedenste Brotarbeiten übernimmt oder Sponsoren umwirbt, er hat dabei letztlich eines im Blick: das Wachsen seines dichterischen Werkes.
Der erste Teil der Biographie umgreift die Jahre der Kindheit, der Jugend - mit ersten Veröffentlichungen von Gedichten, Erzählungen, Künstlermonographien und Essays - und der beginnenden Meisterschaft der Neuen Gedichte. Er reicht bis zum Bruch mit dem Bildhauer Auguste Rodin, für den Rilke eine Zeitlang als Sekretär tätig war.
Die Biographie ergänzt das Standwerk des Insel Verlages zu Rilkes Leben, die Rilke-Chronik von Ingeborg Schnack, um die überzeugende subjektive Deutung der Persönlichkeit des Dichters.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2002Unstet war der Mann, und doch dem Großen verpflichtet
Ralph Freedman weiß alles von Rilke, und das ist zu wenig: Aber hätte ein Kompass dem Biographen geholfen?
Die neue Biographie Rilkes, in der deutschen Übersetzung auf zwei Bände mit den Titeln „Der junge Dichter” und „Der Meister” aufgeteilt, hat über tausend Seiten. Das hat den Vorteil, dass darin nun wirklich alles erzählt, nacherzählt, aufgezählt wird, was sich über den Lebensweg des mit 51 Jahren verstorbenen Dichters aus Prag nur herausfinden ließ. Und das hat den Nachteil, dass ihr Verfasser Ralph Freedmann, genau dieses auch tut. Seine im amerikanischen Original schon 1996 erschienene Biographie mangelt erheblich an der Fülle, die sie darzubieten hat und über der jeder innere Entwicklung verloren zu gehen droht. Keine Reise Rilkes vergisst der Biograph zu erwähnen und exakt zu datieren, und das bei einem Mann, der sich binnen drei Monaten ohne weiteres von Paris nach Prag, von dort nach Flandern und dann für ein paar Tage nach Capri verfügen konnte, um endlich auf dem böhmischen Gut einer Gönnerin zur Ruhe zu kommen, bis er überhastet auch von dort wieder aufbrach.
Über all den Ortsveränderungen, die Freedmann penibel aus den monumentalen Briefwechseln Rilkes mit Anton Kippenberg, den Brüdern Reinhart, Ellen Key, Helene Nostiz, Karl und Elisabeth von der Heydt, Sidonie von NádhernC, Nanny Wunderly-Volkart, Lou Andreas-Salomé und vielen anderen herausklaubt, bleibt dem Leser oft keine Erkenntnis, nur ein Eindruck. Und dieser trügt gewiss nicht: Rilke war fast fortwährend und zuweilen völlig planlos unterwegs. Die Richtung, in die es ging, ist ebenso oft wie von der Sehnsucht, gerade jetzt Florenz zu sehen, von der günstigen Gelegenheit bestimmt gewesen, eben nur zu diesem Termin Logis in einem bestimmten Herrenhaus beziehen zu können. Selten, dass er einmal ein paar Monate blieb, bei seiner Frau, der Bildhauerin Clara Westhoff und dem gemeinsamen Kind in Westerwede, im Schloss der mütterlichen Gräfin von Thurn und Taxis in Duino bei Triest - oder, wie in den letzten Lebensjahren, im Chateau de Muzot im schweizerischen Wallis.
Das hohe Bild seiner selbst
Das Unstete war Glück und Fluch seines Lebens, aber es war auch die Voraussetzung seiner schöpferischen Kraft. Diese Getriebenheit widerspricht auffällig seinem Streben, sich von Jugend an literarische Verbindungsleute, mächtige Fürsprecher, adelige Gönner zu schaffen. In der „Findigkeit, sich Mäzene fürs Leben” zu sichern, wie es Freedman ausdrückt, war Rilke einzigartig. Unermüdlich, zuweilen aufdringlich suchte er schon in jungen Jahren Leute zu gewinnen, von denen er glaubte, sie würden ihm zu einem Verlag, einer Apanage, einer Unterkunft in herrschaftlichen Häusern verhelfen können. Und dabei war er nicht gerade wählerisch, denn einen Ludwig Ganghofer hat er ebenso umworben wie allerlei Baronessen, Gräfinnen, Durch- und Ehrlauchtigkeiten. Das mutet, auch wie es Freedman zu erzählen weiß, nicht eben sympathisch an; und doch hat Rilke, so ehrerbietig er um publizistische Förderung, finanzielle Dotation oder freundliche Aufnahme ansuchte, dies von Anfang an im Bewußtsein getan, dass ihm das alles, worum er bat, schlicht zustand. Dieses hohe Bild seiner selbst hatte er schon, als er, der mehrfach gescheiterte Schüler, der in Unehren entlassene Kadett einer Militärakademie, noch völlig unbekannt war. Dabei gibt es wenige große Dichter, deren erste Hervorbringungen so wenig Talent zu verraten scheinen; und gar keiner wäre mir bekannt, der seine frühen, teils epigonalen, teils uninspiriert adoleszenten Versuche mit solcher Energie zur Veröffentlichung brachte wie er, indem er Bedeutende und Wohlhabende um den nötigen Druckkostenzuschuß anging.
Von Anbeginn war er auf rätselhafte Weise sicher, „er sei zum Künstler berufen; seine wichtigste Pflicht sei die seiner Natur gemäße Arbeit, das Heranbilden seiner Kräfte am Großen”. So erklärt Freedman, warum Rilke seine Frau in einem für sie prekären Moment im Stich ließ und ihr mitunter die Alimente zu zahlen vergaß; so erklärte es Rilke aber auch selbst, wenn er sich, überall wo er hinkam, wie selbstverständlich das Allerbeste gönnte, das ihm der Ort zu bieten hatte. Kaum hatte er etwas mehr Geld, etwa wenn ihm sein Verleger Kippenberg eine größere Summe ausbezahlte, schon bezog er eine Suite im Luxushotel.
Aber im Innersten blieb er von seinen zahlreichen Gönnern und Gönnerinnen völlig unberührt, und die Frucht seines so organisierten Lebens stellte sich oft erst nach quälend langen Jahren ein: Fast achtzehn Jahre lang hat Rilke einen lyrischen Komplex bearbeitet, wieder vergessen, gänzlich aufgegeben - um innerhalb von nur drei Tagen, vom 2. bis zum 5. Februar 1922, endlich doch 25 der „Sonette an Orpheus” zu verfassen, die alleine genügten, ihm seinen Platz in der Weltliteratur zu sichern.
Wie es nicht leicht ist, seinen rastlosen Wegen durch Deutschland, Skandinavien, Frankreich, Rußland, Italien zu folgen, verliert man in Freedmans erschöpfender Biografie auch leicht die Übersicht, was die zahllosen Frauen betrifft, mit denen sich Rilke in durchaus verschiedenartige Verhältnisse begab. Freedman erwähnt sie alle, die oft rasch und rüde beendeten Bettgeschichten, die über quälende Monate der Eifersucht sich ziehenden Affären, die jahrelangen innigen Liebesbeziehungen, die platonischen Freundschaften.
In der Hauptstadt der Provinz
Manche Geliebte hat Rilke gemein hintergangen, etwa Mimi Romanelli, Tochter eines venezianischen Kunsthändlers, auf die er immer wieder gerne zurückgriff, wenn er in der Region war: Als Marie von Thurn und Taxis, eine der reichsten Frauen ihrer Zeit, von den nicht eben begüterten Romanelli ein besonderes Gemälde erstehen wollte, hat Rilke als Vermittler den Preis mit Geschick und Perfidie zuungsten seiner Geliebten und zugunsten seiner Mäzenatin gedrückt und sich bei der einen deprimiert, bei der anderen beglückt über den von ihm ausgehandelten Preis gezeigt. Anekdoten wie diese weiß Freedman viele zu erzählen, aber er erzählt sie alle gleich, sodass man sie oft zu überlesen droht. In der Fülle an Material markiert er kaum Schwerpunkte, betont er kaum Akzente.
Eine gravierende, unverständliche Fehleinschätzung überschattet den ersten Band seiner so penibel recherchierten und so breit ausgefächerten Biografie. Warum Ralph Freedman, der immerhin Professor für Komparatistik in Princeton war – warum dieser gelehrte Mann Prag zu einem provinziellen Nest erklärt, in dem wundersamerweise auch ein Genie wie Rilke geboren wurde, ist völlig unerfindlich. Denn Prag, an dem Rilke gelitten und das er nicht geliebt hat, war in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts eben kein Provinzstadt am Rand der Habsburger Monarchie, sondern ein Labor der Moderne, in dem Tschechen, Deutschösterreicher, Juden konfliktreich zusammenlebten und gemeinsam jene faszinierende Kultur schufen, die heute zu den großen Mythen der europäischen Geistesgeschichte gehört. Weil der Freedman das aus geradezu rätselhaften Gründen nicht weiß, ist die materialreich dargelegte Entwicklungsgeschichte des jungen Rilke bei ihm völlig falsch proportioniert.
Wir haben es also mit einer Biografie zu tun, um die kaum jemand mehr herumkommen wird, der es bei Rilke im einzelnen ganz genau wissen und beispielsweise erfahren möchte, in welchem Hotel er bei seinem ersten Aufenthalt in Paris abgestiegen ist. Aber den ganzen Mann in seinem Widerspruch, ihn lernen wir nicht kennen. KARL-MARKUS GAUSS
RALPH FREEDMAN: Rainer Maria Rilke. Biografie in zwei Bänden. Band 1: Der junge Dichter. 1875 - 1906. Band 2: Der Meister. 1906 - 1926. Aus dem Amerikanischen von Curdin Ebneter. Insel-Verlag, Frankfurt/Main 2001 und 2002. 435 bzw. 626 Seiten, zusammen 64,60 Euro.
Bei anbrechender Dämmerung begibt sich die Eule der Minerva auf die Jagd, uns Menschen ein Symbol der Philosophie. Unser Bild zeigt allerdings ein sibirisches Schneeeulenweibchen im Anflug auf das Schneeeulenmännchen, geknipst von den berühmten Naturfotografen Jean-François Hellio und Nicolas van Ingen (Die verborgene Welt der Vögel. Kosmos Verlag, Stuttgart 2002. 176 S., 34,90 Euro).
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ralph Freedman weiß alles von Rilke, und das ist zu wenig: Aber hätte ein Kompass dem Biographen geholfen?
Die neue Biographie Rilkes, in der deutschen Übersetzung auf zwei Bände mit den Titeln „Der junge Dichter” und „Der Meister” aufgeteilt, hat über tausend Seiten. Das hat den Vorteil, dass darin nun wirklich alles erzählt, nacherzählt, aufgezählt wird, was sich über den Lebensweg des mit 51 Jahren verstorbenen Dichters aus Prag nur herausfinden ließ. Und das hat den Nachteil, dass ihr Verfasser Ralph Freedmann, genau dieses auch tut. Seine im amerikanischen Original schon 1996 erschienene Biographie mangelt erheblich an der Fülle, die sie darzubieten hat und über der jeder innere Entwicklung verloren zu gehen droht. Keine Reise Rilkes vergisst der Biograph zu erwähnen und exakt zu datieren, und das bei einem Mann, der sich binnen drei Monaten ohne weiteres von Paris nach Prag, von dort nach Flandern und dann für ein paar Tage nach Capri verfügen konnte, um endlich auf dem böhmischen Gut einer Gönnerin zur Ruhe zu kommen, bis er überhastet auch von dort wieder aufbrach.
Über all den Ortsveränderungen, die Freedmann penibel aus den monumentalen Briefwechseln Rilkes mit Anton Kippenberg, den Brüdern Reinhart, Ellen Key, Helene Nostiz, Karl und Elisabeth von der Heydt, Sidonie von NádhernC, Nanny Wunderly-Volkart, Lou Andreas-Salomé und vielen anderen herausklaubt, bleibt dem Leser oft keine Erkenntnis, nur ein Eindruck. Und dieser trügt gewiss nicht: Rilke war fast fortwährend und zuweilen völlig planlos unterwegs. Die Richtung, in die es ging, ist ebenso oft wie von der Sehnsucht, gerade jetzt Florenz zu sehen, von der günstigen Gelegenheit bestimmt gewesen, eben nur zu diesem Termin Logis in einem bestimmten Herrenhaus beziehen zu können. Selten, dass er einmal ein paar Monate blieb, bei seiner Frau, der Bildhauerin Clara Westhoff und dem gemeinsamen Kind in Westerwede, im Schloss der mütterlichen Gräfin von Thurn und Taxis in Duino bei Triest - oder, wie in den letzten Lebensjahren, im Chateau de Muzot im schweizerischen Wallis.
Das hohe Bild seiner selbst
Das Unstete war Glück und Fluch seines Lebens, aber es war auch die Voraussetzung seiner schöpferischen Kraft. Diese Getriebenheit widerspricht auffällig seinem Streben, sich von Jugend an literarische Verbindungsleute, mächtige Fürsprecher, adelige Gönner zu schaffen. In der „Findigkeit, sich Mäzene fürs Leben” zu sichern, wie es Freedman ausdrückt, war Rilke einzigartig. Unermüdlich, zuweilen aufdringlich suchte er schon in jungen Jahren Leute zu gewinnen, von denen er glaubte, sie würden ihm zu einem Verlag, einer Apanage, einer Unterkunft in herrschaftlichen Häusern verhelfen können. Und dabei war er nicht gerade wählerisch, denn einen Ludwig Ganghofer hat er ebenso umworben wie allerlei Baronessen, Gräfinnen, Durch- und Ehrlauchtigkeiten. Das mutet, auch wie es Freedman zu erzählen weiß, nicht eben sympathisch an; und doch hat Rilke, so ehrerbietig er um publizistische Förderung, finanzielle Dotation oder freundliche Aufnahme ansuchte, dies von Anfang an im Bewußtsein getan, dass ihm das alles, worum er bat, schlicht zustand. Dieses hohe Bild seiner selbst hatte er schon, als er, der mehrfach gescheiterte Schüler, der in Unehren entlassene Kadett einer Militärakademie, noch völlig unbekannt war. Dabei gibt es wenige große Dichter, deren erste Hervorbringungen so wenig Talent zu verraten scheinen; und gar keiner wäre mir bekannt, der seine frühen, teils epigonalen, teils uninspiriert adoleszenten Versuche mit solcher Energie zur Veröffentlichung brachte wie er, indem er Bedeutende und Wohlhabende um den nötigen Druckkostenzuschuß anging.
Von Anbeginn war er auf rätselhafte Weise sicher, „er sei zum Künstler berufen; seine wichtigste Pflicht sei die seiner Natur gemäße Arbeit, das Heranbilden seiner Kräfte am Großen”. So erklärt Freedman, warum Rilke seine Frau in einem für sie prekären Moment im Stich ließ und ihr mitunter die Alimente zu zahlen vergaß; so erklärte es Rilke aber auch selbst, wenn er sich, überall wo er hinkam, wie selbstverständlich das Allerbeste gönnte, das ihm der Ort zu bieten hatte. Kaum hatte er etwas mehr Geld, etwa wenn ihm sein Verleger Kippenberg eine größere Summe ausbezahlte, schon bezog er eine Suite im Luxushotel.
Aber im Innersten blieb er von seinen zahlreichen Gönnern und Gönnerinnen völlig unberührt, und die Frucht seines so organisierten Lebens stellte sich oft erst nach quälend langen Jahren ein: Fast achtzehn Jahre lang hat Rilke einen lyrischen Komplex bearbeitet, wieder vergessen, gänzlich aufgegeben - um innerhalb von nur drei Tagen, vom 2. bis zum 5. Februar 1922, endlich doch 25 der „Sonette an Orpheus” zu verfassen, die alleine genügten, ihm seinen Platz in der Weltliteratur zu sichern.
Wie es nicht leicht ist, seinen rastlosen Wegen durch Deutschland, Skandinavien, Frankreich, Rußland, Italien zu folgen, verliert man in Freedmans erschöpfender Biografie auch leicht die Übersicht, was die zahllosen Frauen betrifft, mit denen sich Rilke in durchaus verschiedenartige Verhältnisse begab. Freedman erwähnt sie alle, die oft rasch und rüde beendeten Bettgeschichten, die über quälende Monate der Eifersucht sich ziehenden Affären, die jahrelangen innigen Liebesbeziehungen, die platonischen Freundschaften.
In der Hauptstadt der Provinz
Manche Geliebte hat Rilke gemein hintergangen, etwa Mimi Romanelli, Tochter eines venezianischen Kunsthändlers, auf die er immer wieder gerne zurückgriff, wenn er in der Region war: Als Marie von Thurn und Taxis, eine der reichsten Frauen ihrer Zeit, von den nicht eben begüterten Romanelli ein besonderes Gemälde erstehen wollte, hat Rilke als Vermittler den Preis mit Geschick und Perfidie zuungsten seiner Geliebten und zugunsten seiner Mäzenatin gedrückt und sich bei der einen deprimiert, bei der anderen beglückt über den von ihm ausgehandelten Preis gezeigt. Anekdoten wie diese weiß Freedman viele zu erzählen, aber er erzählt sie alle gleich, sodass man sie oft zu überlesen droht. In der Fülle an Material markiert er kaum Schwerpunkte, betont er kaum Akzente.
Eine gravierende, unverständliche Fehleinschätzung überschattet den ersten Band seiner so penibel recherchierten und so breit ausgefächerten Biografie. Warum Ralph Freedman, der immerhin Professor für Komparatistik in Princeton war – warum dieser gelehrte Mann Prag zu einem provinziellen Nest erklärt, in dem wundersamerweise auch ein Genie wie Rilke geboren wurde, ist völlig unerfindlich. Denn Prag, an dem Rilke gelitten und das er nicht geliebt hat, war in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts eben kein Provinzstadt am Rand der Habsburger Monarchie, sondern ein Labor der Moderne, in dem Tschechen, Deutschösterreicher, Juden konfliktreich zusammenlebten und gemeinsam jene faszinierende Kultur schufen, die heute zu den großen Mythen der europäischen Geistesgeschichte gehört. Weil der Freedman das aus geradezu rätselhaften Gründen nicht weiß, ist die materialreich dargelegte Entwicklungsgeschichte des jungen Rilke bei ihm völlig falsch proportioniert.
Wir haben es also mit einer Biografie zu tun, um die kaum jemand mehr herumkommen wird, der es bei Rilke im einzelnen ganz genau wissen und beispielsweise erfahren möchte, in welchem Hotel er bei seinem ersten Aufenthalt in Paris abgestiegen ist. Aber den ganzen Mann in seinem Widerspruch, ihn lernen wir nicht kennen. KARL-MARKUS GAUSS
RALPH FREEDMAN: Rainer Maria Rilke. Biografie in zwei Bänden. Band 1: Der junge Dichter. 1875 - 1906. Band 2: Der Meister. 1906 - 1926. Aus dem Amerikanischen von Curdin Ebneter. Insel-Verlag, Frankfurt/Main 2001 und 2002. 435 bzw. 626 Seiten, zusammen 64,60 Euro.
Bei anbrechender Dämmerung begibt sich die Eule der Minerva auf die Jagd, uns Menschen ein Symbol der Philosophie. Unser Bild zeigt allerdings ein sibirisches Schneeeulenweibchen im Anflug auf das Schneeeulenmännchen, geknipst von den berühmten Naturfotografen Jean-François Hellio und Nicolas van Ingen (Die verborgene Welt der Vögel. Kosmos Verlag, Stuttgart 2002. 176 S., 34,90 Euro).
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2001Bildhauer der Biographie
Trabant, noch kein Stern: Ralph Freedman über den jungen Rilke
Bei Rilke sind Biographen immer richtig. Denn war das Wirken des Dichters nicht ein einziger Feldzug für den Zusammenschluß von Leben und Werk? "Meine Bücher sind meine Confessionen und meine Lebensgeschichte", schreibt Rilke schon mit unschuldigen einundzwanzig Jahren an seinen Jugendfreund Arnold Wimhölzl. Und wie man in den Wald der Fiktionen hineinruft, so schallt es heraus. Später bevölkern sich besagte Bücher bekanntlich mit archaischen Torsen, die dem Leser den Befehl erteilen, sein Leben zu ändern. Wo Artefakte so gründlich in Lebensläufe eingreifen, da geben freilich sich auch Viten als Kunstprodukte zu erkennen. Keine Urlaubsbekanntschaft, die Rilke nicht mit Briefgedichten bombardierte. Das Soldatentum, an dem sein beruflich erfolgloser Vater scheiterte - der in Mädchenkleidern aufgewachsene Sohn sollte es in einem beispiellosen Aufmarsch der poetischen Bilder doch noch zum Triumph führen.
Der Literaturwissenschaftler Ralph Freedman nimmt in seiner umfangreichen Rilke-Biographie, deren erster, die jungen Jahre von 1875 bis 1906 umfassender Teil nun auf deutsch vorliegt, die Schauplätze von Rilkes Leben in erster Linie als Szenen seines Schreibens in den Blick. Die Überblendung von biographischen und literarischen Welten setzt schon am Stadtplan der Prager Heimat an. Hier steckt der Abstand zwischen der ärmlichen Heinrichsgasse des Elternhauses und der feudalen Herrengasse der Großeltern den semantischen Spielraum des dichterischen Werks ab. Eine solche Zweiweltenlehre, die fast an Prousts in zwei Universen zerfallendes Combray erinnernt, unterlegt Freedman auch anderen Stationen der Poetenkarriere. Als sich Rilke, den Militärschulen und der Handelsakademie entkommen, in Prag auf das Abitur vorbereitet, dienen die von "feuchten Höfen und schmalen Gassen" umgebene Wohnung seiner Tante Gabriele und das "inmitten von Ziersträuchern und Blumen" gelegene Haus seiner adeligen Tante Charlotte Mähler von Mählersheim als Orte, an denen er seinen Bedeutungshaushalt auffüllt. Mädchenkleider und Zinnsoldaten, das "dichterisch Feminine" der Mutter und das "militärisch Maskuline" des Vaters - aus der Spannung zwischen diesen Polen speist sich nach Freedman das Kraftfeld der Rilkeschen Texte, auch wenn nicht nur die von einer zutiefst androgynen Sexualität geprägten Gedichte des "Stunden-Buchs" vor allem einer Poetik der Umpolung folgen.
Die Gefahr einer biographischen Erzählung, welche sich an fundamentalen Gegensätzen entlangschreibt, liegt in der Suche nach immer neuem Ersatz für die einmal ins Spiel gebrachten Instanzen. So werden sämtliche "Musen" im Leben des jungen Rilke über das nicht eben originelle Rasterbild der Ersatzmutter erfaßt. Dennoch wirft gerade Rilkes von Freedman stets betonte Angewiesenheit auf soziale Navigationshilfen ein interessantes Licht auf den Schriftsteller, dessen frühe Dichtung doch vor allem um Figuren der Einsamkeit kreist - den Mönch, den Pilger und den Eremiten. Ohne die sechzehn Jahre ältere Lou Andreas-Salomé, die trotz seiner kurzen Ehe mit der Künstlerin Clara Westhoff den Part der weiblichen Hauptrolle in Rilkes Biographie spielt und welcher der Nachwuchsdichter von München nach Berlin und von dort aus bis nach Rußland folgt, trüge Rilke auch für uns noch seinen Taufnamen René und nicht den Künstlernamen Rainer.
Während die Lehrjahre des Gefühls bei Rilke einer Triangulation gleichen, die sich von Dreiecksbeziehung zu Dreiecksbeziehung fortbewegt und doch immer wieder auf den Fixpunkt Salomé zurückführt, hängt seine Künstlerlaufbahn an dem lange Zeit eher aussichtslosen Plan, sich ein tragfähiges Netz aus Freunden und Förderern zu knüpfen. Der neue Stern am Dichterhimmel versuchte sich lange Zeit als Trabant und schreckte auch nach seinen ersten Erfolgen nicht davor zurück, beim vergötterten Vorbild Auguste Rodin in Paris eine Anstellung als Sekretär zu übernehmen, aus der er nach ausgiebigem privaten Mißbrauch von Rodins geschäftlicher Korrespondenz nicht gerade ehrenhaft entlassen wurde.
Insgesamt gewinnen die überwiegend auf Briefzeugnisse gestützten und hervorragend übersetzten vierhundert Seiten der unter anderem schon von Wolfgang Leppmann ausführlich dargestellten Biographie des Rainer Maria Rilke keine bahnbrechend neuen Aspekte ab. Nicht wenige Textpassagen erschöpfen sich in leicht ermüdenden Aufzählungen: "Die zwei folgenden Tage gehörten Nowgorod und seinen Kirchen." Interessante Einsichten gelingen meist dort, wo biographische Stationen auch poetologisch auszubeuten sind - beispielsweise im durch und durch kranken Paris des bereits 1904 begonnenen, aber erst 1910 erschienenen "Malte Laurids Brigge". Der Sprachbilder, mit denen der Dichter später brillieren sollte, werden in Rilkes zu jedem Zeitpunkt mit Kunst aufgeladenem Lebenslauf schon früh behauen.
ANDREAS ROSENFELDER
Ralph Freedman: "Rainer Maria Rilke". Der junge Dichter 1875-1906. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Curdin Ebneter. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2001. 434 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Trabant, noch kein Stern: Ralph Freedman über den jungen Rilke
Bei Rilke sind Biographen immer richtig. Denn war das Wirken des Dichters nicht ein einziger Feldzug für den Zusammenschluß von Leben und Werk? "Meine Bücher sind meine Confessionen und meine Lebensgeschichte", schreibt Rilke schon mit unschuldigen einundzwanzig Jahren an seinen Jugendfreund Arnold Wimhölzl. Und wie man in den Wald der Fiktionen hineinruft, so schallt es heraus. Später bevölkern sich besagte Bücher bekanntlich mit archaischen Torsen, die dem Leser den Befehl erteilen, sein Leben zu ändern. Wo Artefakte so gründlich in Lebensläufe eingreifen, da geben freilich sich auch Viten als Kunstprodukte zu erkennen. Keine Urlaubsbekanntschaft, die Rilke nicht mit Briefgedichten bombardierte. Das Soldatentum, an dem sein beruflich erfolgloser Vater scheiterte - der in Mädchenkleidern aufgewachsene Sohn sollte es in einem beispiellosen Aufmarsch der poetischen Bilder doch noch zum Triumph führen.
Der Literaturwissenschaftler Ralph Freedman nimmt in seiner umfangreichen Rilke-Biographie, deren erster, die jungen Jahre von 1875 bis 1906 umfassender Teil nun auf deutsch vorliegt, die Schauplätze von Rilkes Leben in erster Linie als Szenen seines Schreibens in den Blick. Die Überblendung von biographischen und literarischen Welten setzt schon am Stadtplan der Prager Heimat an. Hier steckt der Abstand zwischen der ärmlichen Heinrichsgasse des Elternhauses und der feudalen Herrengasse der Großeltern den semantischen Spielraum des dichterischen Werks ab. Eine solche Zweiweltenlehre, die fast an Prousts in zwei Universen zerfallendes Combray erinnernt, unterlegt Freedman auch anderen Stationen der Poetenkarriere. Als sich Rilke, den Militärschulen und der Handelsakademie entkommen, in Prag auf das Abitur vorbereitet, dienen die von "feuchten Höfen und schmalen Gassen" umgebene Wohnung seiner Tante Gabriele und das "inmitten von Ziersträuchern und Blumen" gelegene Haus seiner adeligen Tante Charlotte Mähler von Mählersheim als Orte, an denen er seinen Bedeutungshaushalt auffüllt. Mädchenkleider und Zinnsoldaten, das "dichterisch Feminine" der Mutter und das "militärisch Maskuline" des Vaters - aus der Spannung zwischen diesen Polen speist sich nach Freedman das Kraftfeld der Rilkeschen Texte, auch wenn nicht nur die von einer zutiefst androgynen Sexualität geprägten Gedichte des "Stunden-Buchs" vor allem einer Poetik der Umpolung folgen.
Die Gefahr einer biographischen Erzählung, welche sich an fundamentalen Gegensätzen entlangschreibt, liegt in der Suche nach immer neuem Ersatz für die einmal ins Spiel gebrachten Instanzen. So werden sämtliche "Musen" im Leben des jungen Rilke über das nicht eben originelle Rasterbild der Ersatzmutter erfaßt. Dennoch wirft gerade Rilkes von Freedman stets betonte Angewiesenheit auf soziale Navigationshilfen ein interessantes Licht auf den Schriftsteller, dessen frühe Dichtung doch vor allem um Figuren der Einsamkeit kreist - den Mönch, den Pilger und den Eremiten. Ohne die sechzehn Jahre ältere Lou Andreas-Salomé, die trotz seiner kurzen Ehe mit der Künstlerin Clara Westhoff den Part der weiblichen Hauptrolle in Rilkes Biographie spielt und welcher der Nachwuchsdichter von München nach Berlin und von dort aus bis nach Rußland folgt, trüge Rilke auch für uns noch seinen Taufnamen René und nicht den Künstlernamen Rainer.
Während die Lehrjahre des Gefühls bei Rilke einer Triangulation gleichen, die sich von Dreiecksbeziehung zu Dreiecksbeziehung fortbewegt und doch immer wieder auf den Fixpunkt Salomé zurückführt, hängt seine Künstlerlaufbahn an dem lange Zeit eher aussichtslosen Plan, sich ein tragfähiges Netz aus Freunden und Förderern zu knüpfen. Der neue Stern am Dichterhimmel versuchte sich lange Zeit als Trabant und schreckte auch nach seinen ersten Erfolgen nicht davor zurück, beim vergötterten Vorbild Auguste Rodin in Paris eine Anstellung als Sekretär zu übernehmen, aus der er nach ausgiebigem privaten Mißbrauch von Rodins geschäftlicher Korrespondenz nicht gerade ehrenhaft entlassen wurde.
Insgesamt gewinnen die überwiegend auf Briefzeugnisse gestützten und hervorragend übersetzten vierhundert Seiten der unter anderem schon von Wolfgang Leppmann ausführlich dargestellten Biographie des Rainer Maria Rilke keine bahnbrechend neuen Aspekte ab. Nicht wenige Textpassagen erschöpfen sich in leicht ermüdenden Aufzählungen: "Die zwei folgenden Tage gehörten Nowgorod und seinen Kirchen." Interessante Einsichten gelingen meist dort, wo biographische Stationen auch poetologisch auszubeuten sind - beispielsweise im durch und durch kranken Paris des bereits 1904 begonnenen, aber erst 1910 erschienenen "Malte Laurids Brigge". Der Sprachbilder, mit denen der Dichter später brillieren sollte, werden in Rilkes zu jedem Zeitpunkt mit Kunst aufgeladenem Lebenslauf schon früh behauen.
ANDREAS ROSENFELDER
Ralph Freedman: "Rainer Maria Rilke". Der junge Dichter 1875-1906. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Curdin Ebneter. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2001. 434 S., geb., 39,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Insgesamt gewinnen für Rezensent Andreas Rosenfelder diese "überwiegend auf Briefzeugnisse gestützten" vierhundert Seiten dem Leben Rilkes "keine bahnbrechenden neuen Aspekte ab. Reizvoll hat aber Freedmanns Ansatz auf den Rezensenten gewirkt, "die Schauplätze von Rilkes Leben in erster Linie als Szenen seines Schreibens" in den Blick zu nehmen. Diese "Überblendung von biografischen und literarischen Welten" setze schon am Stadtplan der Prager Heimat an, wo der "Abstand zwischen der ärmlichen Heinrichsgasse des Elternhauses" und der "feudalen Herrengasse der Großeltern" den semantischen Spielraum des dichterischen Werker absteckten. Freedmanns "Zweiweltenlehre" lässt Rezensent Rosenfelder auch an Prousts "in zwei Universen zerfallendes Combray" denken. Die Gefahr dieses Entlangschreibens an "fundamentalen Gegensätzen" besteht für den Rezensenten in der Suche "nach immer neuen Gegensatzpaaren". So kommen dann für Rosenfelder mitunter eben auch wenig originelle Rasterbilder zustande. Die Übersetzung der Biografie wird als "hervorragend" hochgelobt.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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