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Süddeutsche ZeitungMond über Liebenden
Pierre Loti war ein Literaturstar des dekadenten Exotismus. Jetzt ist einer seiner wirkungsvollsten Romane neu übersetzt worden: Wiedersehen mit „Ramuntcho“
Rückblickend ordnete ihn Roland Barthes als „Hippie-Dandy“ ein, die Brüder Goncourt machten sich über ihn lustig, weil er sich schminkte und sich mit dicken Schuhsohlen größer machte. Er stahl den Grabstein seiner türkischen Geliebten vom Istanbuler Topkapi-Friedhof, und Sarah Bernhardt ließ ihn in ihr Schlafzimmer, aber nur zum Besichtigen. Denn mit dem polierten Skelett eines jungen Mannes und dem mit Seide ausgeschlagenen Sarg war das Schlafzimmer des Bühnenweltstars sogar im Fin de Siècle sensationell extravagant. Ein Star war auch Pierre Loti. Die Académie Française gab ihm den Vorzug vor Émile Zola, und der Maler Paul Gauguin ließ sich von Lotis Buch über Tahiti zu seinem Aufenthalt dort inspirieren.
Pierre Loti verfasste vor allem Reiseberichte und Landschaftsschilderungen. Seine Reisen in die Wüste, durch Persien, nach China fanden eine auf Exotik hungrige Leserschaft. Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss sah in ihm einen Spiegel des Blicks der Europäer auf das, was ihnen fremd war. Lotis Geschichten, erzählt im jeweiligen Setting, waren das Transportmittel für seine Beschreibungen. So kann man auch den jetzt in Deutsch wieder aufgelegte Roman „Ramuntcho“ von 1897 sehen: als eine Liebeserklärung an das Baskenland. In Frankreich erlebte der Roman um die zwanzig Auflagen und wurde mehrfach verfilmt.
Der Titelheld Raymond, oder Ramuntcho, ist ein Junge aus einem Bergdorf im französischen Teil des Baskenlandes, nahe Hendaye, unehelicher Sohn von Franchita und begabter Pelota-Spieler. Seit Kindheitstagen sind er und Gracieuse, Tochter der stolzen Dolorès, ein Liebespaar. Sie wollen heiraten und planen auszuwandern nach Amerika, wo Ramuntcho einen Onkel hat, bei dem sie ein neues Leben anfangen könnten. Dolorès verachtet Franchita als sündhaft und ist deshalb gegen die Verbindung. Ramuntcho leidet unter der Zurücksetzung. Loti gestaltet ihn einerseits als naturbelassenen „ungebildeten großen Jungen“, andererseits gesteht er ihm eine nuancierte Psychologie zu, wie er die „schlichten und einfachen Leute, die auf ihre bescheidene Art glücklich sind“, im Unterschied zu sich selbst betrachtet.
Ramuntcho gehört zu einer Bande von Schmugglern: Wenn es dunkel wird und die Zöllner es sich lieber gemütlich machen, tragen sie schwere Kisten mit Schmuck, Uhren und Lyoner Seide über Berghänge, durch Wälder und Sümpfe hinüber nach Spanien. Mal setzen sie in schwarzer Nacht auf wackligen Kähnen über den Grenzfluss Bidassoa, mal geht es über steile, rutschige Ziegenpfade. „Das Land mit dem dichten Geäst, das sie unter den beklemmend hohen, aber unsichtbaren Bergen durchqueren, ist ganz und gar durchzogen von tiefen, zerklüfteten Schluchten, in denen im grünen Dunkel unter dem Blätterdach die Wildbäche rauschen. Die Eichen, Buchen, Kastanien, die schon seit Jahrhunderten von einem stets frischen und wunderbaren Saft leben, werden immer größer. Über dieser ganzen zerfurchten Geologie liegt ein gewaltiger, regloser Pflanzenteppich, der sie seit Jahrtausenden mit seinem frischen, festen Mantel bedeckt und ihre Schroffheit mildert. Und der neblige, fast dunkle Himmel, den man in dem Baskenland gut kennt, ergänzt den Eindruck, fügt eine Art universelle Andacht hinzu, in der die Dinge versunken scheinen. Ein merkwürdiger Halbschatten fällt von überallher darauf, von den Bäumen zuerst, in dichten, grauen Schleiern, die sich über die Äste ausbreiten, und dann von den großen, hinter Wolken versteckten Pyrenäen.“
Dementsprechend leuchtet über den romantisch-heimlichen Treffen der Liebenden der Mond. Pierre Loti spiegelt die Gefühle und Stimmungen seiner Figuren in der Beschreibung der Natur. Die Landschaft und ihre Vegetation, die Düfte und Farben, das Licht und das Wetter nehmen einen beachtlichen Teil des Buchs ein, dazu das Leben der Menschen, ihre Bräuche und Charaktere.
Für den heutigen Geschmack ist es gelegentlich ein bisschen zu nachdrücklich, wie Loti die Verbundenheit der Leute mit ihrem Grund und Boden schildert, und was das überhaupt für ein unabänderlicher Menschenschlag ist, der seit Ewigkeiten und über den Tod hinaus dort einheimisch ist. Allerdings hat es seine Bewandtnis mit dem, was als übertrieben getragene Feierlichkeit auffällt: Wer „Ramuntcho“ im Original liest, entdeckt von den ersten Zeilen an ein anhaltendes Versmaß, wie ein Gesang, der einen beim Lesen mitzieht. Nicht nur ist im Deutschen der sprachliche Rhythmus mit Syntax und Betonung anders, manche Worte verlieren ihren Wohlklang, ein courlis ist auf Deutsch der Brachvogel. So mag es besonders zu Beginn des Buchs manieriert wirken, wie Loti – wohl um des Versmaßes willen – fast jedem Hauptwort ein klingendes Adjektiv zugeordnet hat. Aber am Ende entspricht der Inhalt dem hohen Ton, als nämlich Ramuntchos Liebe gescheitert ist am Verrat von Gracieuses Mutter. Seine Enttäuschung, der Schmerz und die Trauer haben dann die passende Größe. So erweist sich die Neuauflage dieses Buchs als eine Bereicherung.
RUDOLF VON BITTER
Pierre Loti: Ramuntcho. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
bilgerverlag, Zürich 2021. 270 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Pierre Loti war ein Literaturstar des dekadenten Exotismus. Jetzt ist einer seiner wirkungsvollsten Romane neu übersetzt worden: Wiedersehen mit „Ramuntcho“
Rückblickend ordnete ihn Roland Barthes als „Hippie-Dandy“ ein, die Brüder Goncourt machten sich über ihn lustig, weil er sich schminkte und sich mit dicken Schuhsohlen größer machte. Er stahl den Grabstein seiner türkischen Geliebten vom Istanbuler Topkapi-Friedhof, und Sarah Bernhardt ließ ihn in ihr Schlafzimmer, aber nur zum Besichtigen. Denn mit dem polierten Skelett eines jungen Mannes und dem mit Seide ausgeschlagenen Sarg war das Schlafzimmer des Bühnenweltstars sogar im Fin de Siècle sensationell extravagant. Ein Star war auch Pierre Loti. Die Académie Française gab ihm den Vorzug vor Émile Zola, und der Maler Paul Gauguin ließ sich von Lotis Buch über Tahiti zu seinem Aufenthalt dort inspirieren.
Pierre Loti verfasste vor allem Reiseberichte und Landschaftsschilderungen. Seine Reisen in die Wüste, durch Persien, nach China fanden eine auf Exotik hungrige Leserschaft. Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss sah in ihm einen Spiegel des Blicks der Europäer auf das, was ihnen fremd war. Lotis Geschichten, erzählt im jeweiligen Setting, waren das Transportmittel für seine Beschreibungen. So kann man auch den jetzt in Deutsch wieder aufgelegte Roman „Ramuntcho“ von 1897 sehen: als eine Liebeserklärung an das Baskenland. In Frankreich erlebte der Roman um die zwanzig Auflagen und wurde mehrfach verfilmt.
Der Titelheld Raymond, oder Ramuntcho, ist ein Junge aus einem Bergdorf im französischen Teil des Baskenlandes, nahe Hendaye, unehelicher Sohn von Franchita und begabter Pelota-Spieler. Seit Kindheitstagen sind er und Gracieuse, Tochter der stolzen Dolorès, ein Liebespaar. Sie wollen heiraten und planen auszuwandern nach Amerika, wo Ramuntcho einen Onkel hat, bei dem sie ein neues Leben anfangen könnten. Dolorès verachtet Franchita als sündhaft und ist deshalb gegen die Verbindung. Ramuntcho leidet unter der Zurücksetzung. Loti gestaltet ihn einerseits als naturbelassenen „ungebildeten großen Jungen“, andererseits gesteht er ihm eine nuancierte Psychologie zu, wie er die „schlichten und einfachen Leute, die auf ihre bescheidene Art glücklich sind“, im Unterschied zu sich selbst betrachtet.
Ramuntcho gehört zu einer Bande von Schmugglern: Wenn es dunkel wird und die Zöllner es sich lieber gemütlich machen, tragen sie schwere Kisten mit Schmuck, Uhren und Lyoner Seide über Berghänge, durch Wälder und Sümpfe hinüber nach Spanien. Mal setzen sie in schwarzer Nacht auf wackligen Kähnen über den Grenzfluss Bidassoa, mal geht es über steile, rutschige Ziegenpfade. „Das Land mit dem dichten Geäst, das sie unter den beklemmend hohen, aber unsichtbaren Bergen durchqueren, ist ganz und gar durchzogen von tiefen, zerklüfteten Schluchten, in denen im grünen Dunkel unter dem Blätterdach die Wildbäche rauschen. Die Eichen, Buchen, Kastanien, die schon seit Jahrhunderten von einem stets frischen und wunderbaren Saft leben, werden immer größer. Über dieser ganzen zerfurchten Geologie liegt ein gewaltiger, regloser Pflanzenteppich, der sie seit Jahrtausenden mit seinem frischen, festen Mantel bedeckt und ihre Schroffheit mildert. Und der neblige, fast dunkle Himmel, den man in dem Baskenland gut kennt, ergänzt den Eindruck, fügt eine Art universelle Andacht hinzu, in der die Dinge versunken scheinen. Ein merkwürdiger Halbschatten fällt von überallher darauf, von den Bäumen zuerst, in dichten, grauen Schleiern, die sich über die Äste ausbreiten, und dann von den großen, hinter Wolken versteckten Pyrenäen.“
Dementsprechend leuchtet über den romantisch-heimlichen Treffen der Liebenden der Mond. Pierre Loti spiegelt die Gefühle und Stimmungen seiner Figuren in der Beschreibung der Natur. Die Landschaft und ihre Vegetation, die Düfte und Farben, das Licht und das Wetter nehmen einen beachtlichen Teil des Buchs ein, dazu das Leben der Menschen, ihre Bräuche und Charaktere.
Für den heutigen Geschmack ist es gelegentlich ein bisschen zu nachdrücklich, wie Loti die Verbundenheit der Leute mit ihrem Grund und Boden schildert, und was das überhaupt für ein unabänderlicher Menschenschlag ist, der seit Ewigkeiten und über den Tod hinaus dort einheimisch ist. Allerdings hat es seine Bewandtnis mit dem, was als übertrieben getragene Feierlichkeit auffällt: Wer „Ramuntcho“ im Original liest, entdeckt von den ersten Zeilen an ein anhaltendes Versmaß, wie ein Gesang, der einen beim Lesen mitzieht. Nicht nur ist im Deutschen der sprachliche Rhythmus mit Syntax und Betonung anders, manche Worte verlieren ihren Wohlklang, ein courlis ist auf Deutsch der Brachvogel. So mag es besonders zu Beginn des Buchs manieriert wirken, wie Loti – wohl um des Versmaßes willen – fast jedem Hauptwort ein klingendes Adjektiv zugeordnet hat. Aber am Ende entspricht der Inhalt dem hohen Ton, als nämlich Ramuntchos Liebe gescheitert ist am Verrat von Gracieuses Mutter. Seine Enttäuschung, der Schmerz und die Trauer haben dann die passende Größe. So erweist sich die Neuauflage dieses Buchs als eine Bereicherung.
RUDOLF VON BITTER
Pierre Loti: Ramuntcho. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
bilgerverlag, Zürich 2021. 270 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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