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"Randkulturen sind seit Urzeiten Bestandteile menschlicher Gesellschaften. Ihre Bühnen waren und sind die Landstraßen, die Städte, die Dörfer und das Felsgebirge. Fast alle haben eine lange und oft geheimnisvolle Geschichte, die von Not, Elend, Ärger, Verfolgung und Mühen kündet; die aber auch ihre Schönheiten hat und von Mut und Würde erzählt (...) Die Gefahren dürften da und dort, im Busch in Indien und in der Stehbierhalle am Wiener Westbahnhof, dieselben sein. Ein Abenteuer, als Feldforscher unter Menschen zu gehen, ist es allemal". (Roland Girtler)

Produktbeschreibung
"Randkulturen sind seit Urzeiten Bestandteile menschlicher Gesellschaften. Ihre Bühnen waren und sind die Landstraßen, die Städte, die Dörfer und das Felsgebirge. Fast alle haben eine lange und oft geheimnisvolle Geschichte, die von Not, Elend, Ärger, Verfolgung und Mühen kündet; die aber auch ihre Schönheiten hat und von Mut und Würde erzählt (...) Die Gefahren dürften da und dort, im Busch in Indien und in der Stehbierhalle am Wiener Westbahnhof, dieselben sein. Ein Abenteuer, als Feldforscher unter Menschen zu gehen, ist es allemal". (Roland Girtler)
Autorenporträt
Girtler, RolandRoland Girtler ist em. Universitätsprofessor am Institut für Soziologie der Universität Wien. Er studierte Jurisprudenz, Ethnologie, Urgeschichte, Philosophie und Soziologie an der Universität Wien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.1995

Reichlich schmähstat gefackelt
Roland Girtlers Theorie der Unanständigkeit kommt in die Jahre

Roland Girtler ist ein echter Kapazunder. Wer nicht auf Anhieb weiß, ob der österreichische Soziologe mit dieser Bezeichnung gebauchpinselt oder tödlich beleidigt werden soll, muß einen Blick in sein neues Buch "Randkulturen" werfen, das in einem unschätzbaren Anhang ein Glossar der Wiener Gaunersprache enthält. In der Rubrik "Alltag, Streit und Sexualität" findet sich die Auflösung: Mit "Kapazunder" bezeichnet man in der Halbwelt einen angesehenen, gescheiten Menschen.

Für seine Zunft gilt diese Einschätzung Girtlers leider nicht. In Karl-Heinz Hillmanns verdienstvolles "Wörterbuch der Soziologie", das ein ganzes Schock seiner gleichaltrigen Standesgenossen auflistet, hat das Wiener Enfant terrible der Branche keinen Eingang gefunden. Dabei dürfte zwischen den Apologeten der Risikogesellschaft und den Hofberichterstattern der Power-Eliten auch noch ein winziger Eintrag für den Erfinder des "ero-epischen Gesprächs" Platz finden können. Diese monströse Wortschöpfung, die Girtler in "Randkulturen" erstmals auf die Öffentlichkeit losläßt, steht in scharfem Kontrast zur sonstigen Terminologie des Wiener Professors, dessen Sprache sich durch eine Verständlichkeit auszeichnet, die seinen Kollegen nicht immer gegeben ist.

Es ist dieser populäre Stil, der die Einbahnfetischisten der Soziologe mißtrauisch auf den österreichischen Geisterfahrer blicken läßt, dessen Arbeiten nicht nur den gebotenen Jargon vermissen lassen, sondern sich auch Themen widmen, die nicht als hörsaalfähig gelten. Girtler erforschte die Wiener Sandler (Stadtstreicher), die dortigen Kriminellen und Prostituierten, Tiroler Schmuggler oder die Wilderer im Salzkammergut. Sein Buch über die Volksgruppe der "Landler" in Siebenbürgen erarbeitete eine Soziologie mit ethnologischem Anstrich, die viel zuwenig Nachahmer gefunden hat, und auch das "ero-epische Gespräch" soll als eine an antiken Vorbildern geschulte Erzählsituation intimere Aufschlüsse über Girtlers Gesprächspartner erzielen als die traditionellen Interviews des Genres.

Die Stärke der bisherigen Bücher Girtlers war stets die Unmittelbarkeit des buchstäblich teilnehmenden Beobachters. In seinem neuesten Werk versucht sich der Autor nun an einer Typologie der Randkulturen, der jedoch der Reiz der früheren Arbeiten weitgehend fehlt. Zu sehr ist Girtler bemüht, seine längst bekannten Milieus in die neue Klassifikation einzuordnen. Aus nahezu allen alten Büchern wurden Ausschnitte übernommen, die jedoch in dieser Reduktion an Charme verlieren. Ein kurzer Essay wäre die angemessene Präsentationsform für Girtlers neuen Ansatz gewesen; sein Ruf im Metier hätte darunter wesentlich mehr leiden können.

Hinzu treten einzelne Aspekte des neuen Buchs, die es nur mit leichtem Widerwillen konsumierbar machen. Girtlers Außenseiterrolle in der Soziologie wird von ihm zu penetrant herausgestellt. Daß es den Autor beeindruckte, als ihn Hamburgs Aushängeprostituierte Domenica im "Club 2" streichelte, mag man verstehen. Wir indes sind da weniger interessiert. Und sich gegen den Vorwurf der Romantisierung mit der Bemerkung zu wehren, den betreffenden Randgruppen gefielen die Bücher jeweils gut, läßt Böses für einen Wissenschaftler vermuten, dessen erste Qualität (auch nach eigenem Zeugnis) die Unparteilichkeit sein muß.

Doch das Bedauernswerteste an Girtlers Buch ist seine Geschwätzigkeit, die nichts mehr mit Anschaulichkeit zu tun hat. Unzählig sind die Verweise auf Gemeinsamkeiten von Randgruppen, auf ihre Sprache, Rituale oder Würde. So wird der Kapazunder bei fortschreitender Lektüre mehr und mehr zum Kobernden (Mensch, der viel redet), der beim Fackeln (Schreiben) reichlich schmähstat (ideenlos) agiert. Bis dann das schon gerühmte Glossar zur Gaunersprache kommt, das zwar auch schon teilweise in früheren Werken abgedruckt wurde, aber in seiner neuen Fülle einen besseren Einblick in die sogenannte Subkultur gewährt als die vorangehenden Appetithappen. War das Bisherige bloß Nafter mit Batschambuli, wird das Buch hier zum veritablen Riß.

ANDREAS PLATTHAUS

Roland Girtler: "Randkulturen". Theorie der Unanständigkeit. Böhlau Verlag, Wien 1995. 279 S., br., 39,80 DM.

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