Wer von der "Toskana des Nordens" oder den "Hamptons von Berlin" spricht, kennt die Uckermark nicht. Die Einwohnerzahlen des Landkreises gehen seit den frühen 90er-Jahren kontinuierlich zurück und liegen nunmehr bei knapp 20 Einwohnern pro Quadratkilometer. (Zum Vergleich: in Monaco sind es 18.500.) Somit gilt die Uckermark nach einer UN-Erhebung als praktisch unbewohntes Gebiet. Das allerdings wissen immer mehr Menschen zu schätzen. Den ganz eigenen Reiz dieser Landschaft zeigen die Fotografien von Ulrich Wüst und erzielen ihre Wirkung auch jenseits des beliebten Klischees von blühenden Rapsfeldern unter weißblauem Himmel.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2020Nüscht wie Jejend
Kaum ein Flecken Deutschlands ist dünner besiedelt als die Uckermark. In einem wunderbaren Buch von Ulrich Wüst ist sie sogar menschenleer.
Von Freddy Langer
Spätestens seit Lola Randl wissen wir Bescheid über die Uckermark. Wir kennen den "Großen Garten", nach dem sie ihre Bestandsaufnahme des Treibens in Gerswalde genannt hat, zwischenzeitlich ein Bestseller, und sind deshalb bestens vertraut mit dem Leben zwischen Kaulquappen und Schafen, Igeln und Bienen, zwischen Kartoffeln und Schneeglöckchen, Quecken und Trieben, zwischen den Eisheiligen und der Kalten Sophie, dem Mann, der Therapeutin und dem Liebhaber. Es ist eine kunterbunte Welt, ein fröhliches Durcheinander, das Berliner Köche und Künstler, Aussteiger und Umsteiger in die beschauliche Welt der einst abgelegenen Provinz getragen haben. Aber natürlich herrscht nicht nur eitel Sonnenschein. Auch das Dorf hat seine Tücken. Nicht zuletzt sonntags, wenn die Besucher aus der Großstadt scharenweise einfallen und das Leben vorm Café und in den Gassen brummt.
Nur scheint Ulrich Wüst von all dem Rummel nichts mitbekommen zu haben. Aber vielleicht gelingt es ihm auch nur, auf eigentümliche Weise das Leben auszublenden. Wie so viele Künstler hat auch er als Berliner seit Jahr und Tag ein zweites Zuhause in der Uckermark - und dokumentierte dessen Umgebung in aller Stille. Oder muss es richtiger heißen: bei aller Stille? Auf seinen lakonischen Schwarzweißfotografien jedenfalls sieht die Uckermark aus, als sei sie von allen Menschen verlassen. Keineswegs für immer. Eher für den Moment. Es ist, als säßen sie gerade alle zum Mittagessen rund um den Tisch oder hätten sich bereits zu einem Nickerchen aufs Sofa gelegt. Denn wenngleich man auf keinem seiner Bilder einen Menschen findet, sind deren Spuren auf fast keinem Foto zu übersehen. Und wenn sie sich nur darin äußern, wie adrett alles ist. Wie sauber, gepflegt und gekehrt - oder gestapelt.
Fünf Jahre lang war Ulrich Wüst mit dem Fotoapparat unterwegs in der Gemeinde Nordwestuckermark, zwischen den Ortsteilen Schapow, Raakow und Beenz, Rittgarten, Naugarten und Schmachtenhagen, allesamt nur kleine Ansiedlungen, hingetupft in eine endlose, leicht gewellte Ackerlandschaft, in der sich allerhöchstens Türme von Strohballen oder das Werbeplakat für Bauparzellen zu achttausendeinhundert Euro das Stück dem Blick in die Quere stellen. Ansonsten nur Weite unter einem tiefen Himmel, den Wüst meistens so monoton monochrom eingefangen hat, dass man zu glauben beginnt, nicht einmal die Wolken wüssten, weshalb sie hier vorbeischauen sollten. Woraus die Bewohner allerdings noch lange nicht den Schluss ziehen, am Ende der Welt zu leben, im Gegenteil. Auf einer von Wüsts Aufnahmen ragt vor einem Garten ein Pfahl in den Himmel, dessen Hinweisschilder auch vom Verkauf frischer Eier künden, vor allem aber die Lage des Orts mit den exakten Entfernungsangaben bis Moskau und Paris, Peking und New York, sogar zum Nord- und Südpol verankern, als handele es sich bei der Uckermark um das eigentliche Zentrum der Welt.
Das Zerfallen Deutschlands in die Provinz hier und die Städte dort wird für die Zukunft zu einem der größten politischen Probleme werden. In noch schnellerem Tempo als dem, in dem die Ortschaften ihre Läden und Wirtshäuser, das Postamt, den Bäcker und den Arzt verlieren, geht ihnen die Jugend verloren. "Demographische Krisenregion" ist der Fachterminus für solche Gebiete, während sich die Entwicklung in der knappen Formel "Stadt boomt, Land schrumpft" zusammenfassen lässt. Was den Städten die Wachstumsschmerzen sind, sind den Dörfern jene des Schrumpfens. Dagegen helfen aufwendige Raumordnungspläne vermutlich ebenso wenig wie der neuerdings gerne wieder hervorgeholte Begriff Heimat. Dabei spiegelt sich im deutschen Bewusstsein doch gerade im Dorf ein Gefühl von Zuhause, vielleicht sogar Kindheit, selbst wenn es sich um Phantomerinnerungen handelt und keineswegs um biographische Wirklichkeit. Glaubt man der Forschungsgruppe Wahlen, wünschen sich nur sechzehn Prozent aller Deutschen, in der Großstadt zu leben - vierundvierzig Prozent hingegen wollen aufs Land.
In der Uckermark fänden sie Platz. Weniger als dreißig Menschen leben dort auf einem Quadratkilometer. Nach den Kriterien der Vereinten Nationen zählt sie deshalb zu den unbesiedelten Gegenden. Oder wie der Berliner sagt: "Nüscht wie Jejend." Sogar Theodor Fontane hat bei seinen Wanderungen einen weiten Bogen um die Uckermark gemacht. Eine Bilderbuchlandschaft ist sie nicht.
Ulrich Wüst propagiert mit seinem wunderbaren Fotoband denn auch keineswegs den Trend zur Landlust und nicht das Idyll eines Bauernhofs, wie man es aus den Illustrationen der Kinderbücher kennt. Ebenso wenig jedoch zeigt er die ländliche Region als Reservat der Abgehängten. So zurückgenommen, als habe sich die Kamera ihre Motive selbst gesucht, rein technisch und vermeintlich ohne jegliche Emotion, dokumentiert er vielmehr mit unerbittlicher Präzision und frei von dem Wunsch, sich durch originelle Perspektiven hervorzutun, man traut es sich kaum so zu formulieren: was da ist. Es ist, als protokolliere er die Uckermark. Als scanne er die Häuser und Landschaften. Sein Buch ist eine Bestandsaufnahme, als sei ein Landvermesser unterwegs gewesen. So, zeigt er uns, sehen Einfamilienhäuser auf dem Land aus. Und so Ackerfurchen. Und so Dorfstraßen. So eine Dorfkirche. So der Raiffeisenmarkt. So eine Bushaltestelle. Und so die kleinen Baumgruppen auf einer Insel inmitten eines Teichs.
Ulrich Wüst, einer der großen Dokumentarfotografen schon zu Zeiten der DDR, hat den Verzicht auf einen eigenen Stil zu seinem Erkennungszeichen gemacht. Was ihn auszeichnet: dass er sich vor dem Motiv verbeugt, dass er keine andere Absicht verfolgt, als ihm gerecht zu werden. Ohne jeglichen Firlefanz.
Mag sein, dass die Uckermark mit ihrer spröden Schönheit ein solch zurückhaltendes Vorgehen unterstützt, vielleicht sogar fordert. In Ulrich Wüst jedenfalls hat die Region ihren Chronisten gefunden, einen Verehrer, dem nichts weniger in den Sinn käme, als sich ins Zentrum zu drängen. "Zum Königsweg" steht auf einem Straßenschild im Ortsteil Schulzenhof. Ulrich Wüst hat ihn genommen.
"Randlage. Die Gemeinde Nordwestuckermark" von Ulrich Wüst. Mit einem Text von Sasa Stanisic. Braus Verlag, Berlin 2019. 148 Seiten, 115 Schwarzweißfotografien. Gebunden, 24,95 Euro.
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Kaum ein Flecken Deutschlands ist dünner besiedelt als die Uckermark. In einem wunderbaren Buch von Ulrich Wüst ist sie sogar menschenleer.
Von Freddy Langer
Spätestens seit Lola Randl wissen wir Bescheid über die Uckermark. Wir kennen den "Großen Garten", nach dem sie ihre Bestandsaufnahme des Treibens in Gerswalde genannt hat, zwischenzeitlich ein Bestseller, und sind deshalb bestens vertraut mit dem Leben zwischen Kaulquappen und Schafen, Igeln und Bienen, zwischen Kartoffeln und Schneeglöckchen, Quecken und Trieben, zwischen den Eisheiligen und der Kalten Sophie, dem Mann, der Therapeutin und dem Liebhaber. Es ist eine kunterbunte Welt, ein fröhliches Durcheinander, das Berliner Köche und Künstler, Aussteiger und Umsteiger in die beschauliche Welt der einst abgelegenen Provinz getragen haben. Aber natürlich herrscht nicht nur eitel Sonnenschein. Auch das Dorf hat seine Tücken. Nicht zuletzt sonntags, wenn die Besucher aus der Großstadt scharenweise einfallen und das Leben vorm Café und in den Gassen brummt.
Nur scheint Ulrich Wüst von all dem Rummel nichts mitbekommen zu haben. Aber vielleicht gelingt es ihm auch nur, auf eigentümliche Weise das Leben auszublenden. Wie so viele Künstler hat auch er als Berliner seit Jahr und Tag ein zweites Zuhause in der Uckermark - und dokumentierte dessen Umgebung in aller Stille. Oder muss es richtiger heißen: bei aller Stille? Auf seinen lakonischen Schwarzweißfotografien jedenfalls sieht die Uckermark aus, als sei sie von allen Menschen verlassen. Keineswegs für immer. Eher für den Moment. Es ist, als säßen sie gerade alle zum Mittagessen rund um den Tisch oder hätten sich bereits zu einem Nickerchen aufs Sofa gelegt. Denn wenngleich man auf keinem seiner Bilder einen Menschen findet, sind deren Spuren auf fast keinem Foto zu übersehen. Und wenn sie sich nur darin äußern, wie adrett alles ist. Wie sauber, gepflegt und gekehrt - oder gestapelt.
Fünf Jahre lang war Ulrich Wüst mit dem Fotoapparat unterwegs in der Gemeinde Nordwestuckermark, zwischen den Ortsteilen Schapow, Raakow und Beenz, Rittgarten, Naugarten und Schmachtenhagen, allesamt nur kleine Ansiedlungen, hingetupft in eine endlose, leicht gewellte Ackerlandschaft, in der sich allerhöchstens Türme von Strohballen oder das Werbeplakat für Bauparzellen zu achttausendeinhundert Euro das Stück dem Blick in die Quere stellen. Ansonsten nur Weite unter einem tiefen Himmel, den Wüst meistens so monoton monochrom eingefangen hat, dass man zu glauben beginnt, nicht einmal die Wolken wüssten, weshalb sie hier vorbeischauen sollten. Woraus die Bewohner allerdings noch lange nicht den Schluss ziehen, am Ende der Welt zu leben, im Gegenteil. Auf einer von Wüsts Aufnahmen ragt vor einem Garten ein Pfahl in den Himmel, dessen Hinweisschilder auch vom Verkauf frischer Eier künden, vor allem aber die Lage des Orts mit den exakten Entfernungsangaben bis Moskau und Paris, Peking und New York, sogar zum Nord- und Südpol verankern, als handele es sich bei der Uckermark um das eigentliche Zentrum der Welt.
Das Zerfallen Deutschlands in die Provinz hier und die Städte dort wird für die Zukunft zu einem der größten politischen Probleme werden. In noch schnellerem Tempo als dem, in dem die Ortschaften ihre Läden und Wirtshäuser, das Postamt, den Bäcker und den Arzt verlieren, geht ihnen die Jugend verloren. "Demographische Krisenregion" ist der Fachterminus für solche Gebiete, während sich die Entwicklung in der knappen Formel "Stadt boomt, Land schrumpft" zusammenfassen lässt. Was den Städten die Wachstumsschmerzen sind, sind den Dörfern jene des Schrumpfens. Dagegen helfen aufwendige Raumordnungspläne vermutlich ebenso wenig wie der neuerdings gerne wieder hervorgeholte Begriff Heimat. Dabei spiegelt sich im deutschen Bewusstsein doch gerade im Dorf ein Gefühl von Zuhause, vielleicht sogar Kindheit, selbst wenn es sich um Phantomerinnerungen handelt und keineswegs um biographische Wirklichkeit. Glaubt man der Forschungsgruppe Wahlen, wünschen sich nur sechzehn Prozent aller Deutschen, in der Großstadt zu leben - vierundvierzig Prozent hingegen wollen aufs Land.
In der Uckermark fänden sie Platz. Weniger als dreißig Menschen leben dort auf einem Quadratkilometer. Nach den Kriterien der Vereinten Nationen zählt sie deshalb zu den unbesiedelten Gegenden. Oder wie der Berliner sagt: "Nüscht wie Jejend." Sogar Theodor Fontane hat bei seinen Wanderungen einen weiten Bogen um die Uckermark gemacht. Eine Bilderbuchlandschaft ist sie nicht.
Ulrich Wüst propagiert mit seinem wunderbaren Fotoband denn auch keineswegs den Trend zur Landlust und nicht das Idyll eines Bauernhofs, wie man es aus den Illustrationen der Kinderbücher kennt. Ebenso wenig jedoch zeigt er die ländliche Region als Reservat der Abgehängten. So zurückgenommen, als habe sich die Kamera ihre Motive selbst gesucht, rein technisch und vermeintlich ohne jegliche Emotion, dokumentiert er vielmehr mit unerbittlicher Präzision und frei von dem Wunsch, sich durch originelle Perspektiven hervorzutun, man traut es sich kaum so zu formulieren: was da ist. Es ist, als protokolliere er die Uckermark. Als scanne er die Häuser und Landschaften. Sein Buch ist eine Bestandsaufnahme, als sei ein Landvermesser unterwegs gewesen. So, zeigt er uns, sehen Einfamilienhäuser auf dem Land aus. Und so Ackerfurchen. Und so Dorfstraßen. So eine Dorfkirche. So der Raiffeisenmarkt. So eine Bushaltestelle. Und so die kleinen Baumgruppen auf einer Insel inmitten eines Teichs.
Ulrich Wüst, einer der großen Dokumentarfotografen schon zu Zeiten der DDR, hat den Verzicht auf einen eigenen Stil zu seinem Erkennungszeichen gemacht. Was ihn auszeichnet: dass er sich vor dem Motiv verbeugt, dass er keine andere Absicht verfolgt, als ihm gerecht zu werden. Ohne jeglichen Firlefanz.
Mag sein, dass die Uckermark mit ihrer spröden Schönheit ein solch zurückhaltendes Vorgehen unterstützt, vielleicht sogar fordert. In Ulrich Wüst jedenfalls hat die Region ihren Chronisten gefunden, einen Verehrer, dem nichts weniger in den Sinn käme, als sich ins Zentrum zu drängen. "Zum Königsweg" steht auf einem Straßenschild im Ortsteil Schulzenhof. Ulrich Wüst hat ihn genommen.
"Randlage. Die Gemeinde Nordwestuckermark" von Ulrich Wüst. Mit einem Text von Sasa Stanisic. Braus Verlag, Berlin 2019. 148 Seiten, 115 Schwarzweißfotografien. Gebunden, 24,95 Euro.
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