Eine erweiterte Ausgabe seiner journalistischen Arbeiten. Über den pastoralen Singsang Peter Handkes und das Evangelium des kritischen Opportunisten Botho Strauß, über eine Vatertagstour durch den Raketenwald, über die Offizierskasino-Bildung Marcel Reich-Ranickis und ein Gespräch mit Jean Améry über den Selbstmord. Schultz-Gerstein hatte für die Zeit Reportagen geschrieben über den Mythos Heidegger und über einen Selbstversuch, sich das Rauchen abzugewöhnen, bevor er beim Spiegel anfing. Er verschaffte nicht nur einer kritischen Intelligenz wie Eike Geisel und Wolfgang Pohrt die Möglichkeit, im Spiegel zu publizieren, er war auch einer der wenigen Journalisten, dem das Feuilleton nicht als Schaufenster selbstverliebter Eitelkeit diente, um bange Fragen zu stellen und die Meinungsvielfalt zu fördern. Vielmehr sezierte er intelligent, analytisch präzise und stilistisch brillant häufig hochgelobte Autoren.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ob der Wunsch von Rezensent Willi Winkler in Erfüllung geht, und bildungsbeflissene Eltern ihren Kindern Christian Schulz-Gersteins Essays und Reportagen schenken werden? Vermutlich nicht. Auch wenn Aschenbrenner im Autor einen Kritiker der alten Schule erkennt, um keinen Verriss verlegen, grob und hellseherisch. Was Schulz-Gerstein über Alice Schwarzer, Peter Schneiders "Lenz" oder den frühen Rainald Goetz schreibt, ist für den Rezensenten auf jeden Fall lesenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.2021Bodenloses Ohnmachtsgefühl an den Weihnachtstagen
Physiognomiker des deutschen Kulturbetriebs: Christian Schultz-Gersteins literarische Porträtkunst
Das journalistische Werk von Christian Schultz-Gerstein ist ein heimliches Erbe der weitgehend untergegangenen Tradition selbst literarischer Kritik. "Porträts, Essays, Reportagen, Glossen" ist ein Sammelband mit seinen Texten untertitelt, entsprechend sind diese in - jeweils grob hundert Seiten umfassende - Gruppen rubriziert. Das Besondere an Schultz-Gersteins Schreibstil ist, dass er Formen mit spielerischer Leichtigkeit zu bedienen weiß und ihre Grenzen zugleich transzendiert. Seine Reportagen sind immer auch literarische Essays, und immer eignet ihnen eine Konzentration und Pointiertheit, die, wie in seinen Glossen, zu blitzenden Sätzen zusammenschießen, die man nicht mehr vergisst - mit einer Natürlichkeit, als könnte das anders gar nicht sein.
Porträts sind alle diese Texte: eines Menschen, eines Werks, immer aber auch des gesellschaftlichen Milieus und historischen Hintergrunds, vor dem es entsteht und als dessen Produkt es zu verstehen ist. Dabei ist es gleich, ob es sich um bejubelte Debütanten wie Rainald Goetz, Karin Struck oder Preis- und Würdenträger wie Botho Strauß und Wolfgang Koeppen handelt, deren Karrieren Schultz-Gerstein als Sittenskizzen des deutschen Kulturbetriebs zeichnet; um Sportler wie Björn Borg, dessen Gefährlichkeit er in einem "Tennis als Seelenspionage" ausmacht; um Neonazis wie Michael Kühnen, den er im Unterschied zur zeitgenössischen Öffentlichkeit, die sich an ihm als "Figur 'aus einem Horrorfilm'" angstlüsterte, als emotionslosen, vorgestanzte Phrasen am Fließband produzierenden "Sinnverkäufer im Außendienst" zeigt; oder um "ein Gerücht namens Heidegger", wie der Titel einer der Reportagen lautet, in denen Schultz-Gerstein nichts anderes tut als den Spuren nachzugehen, die unmittelbar vor aller Nasen ausliegen und doch nicht gesehen werden - aus Gründen, die sich regelmäßig als eigentlicher Gegenstand dieser Porträts entpuppen.
Als ein Physiologe des Alltagslebens wie Balzac zeichnet Schultz-Gerstein anhand von Details wie Gesten und Mimik, Eigenheiten des Sprechens und Erzählens Bildnisse, die den Menschen mitsamt seiner ganzen inneren Widersprüchlichkeit hervortreten lassen, so etwa 1976 im Falle einer ehemaligen Stripperin auf St. Pauli: "Sprachlose Erinnerungen, bodenlose Ohnmachtsgefühle wie immer noch jedes Jahr an den Weihnachtstagen, an denen sie die Lichter am Baum und die Wiener Sängerknaben im Fernsehen nicht sehen kann, ohne in Tränen auszubrechen." Die bleierne Familienatmosphäre, in der die Frau in den fünfziger Jahren aufwuchs, zeigt er im Spannungsfeld einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der eine Vergangenheit bewältigt werden sollte, die einfach nicht vergehen wollte: "Irgend etwas stimmte da nicht . . . So hatten alle ein beunruhigendes Geheimnis voreinander. Die Mutter glaubte, daß etwas dahintersteckte, wenn die Kinder Schlager vor sich hin pfiffen; und die Kinder wußten nicht, warum die Mutter sagte, daß sie für die Wurst, die sie ihnen aufs Schulbrot schmierte, vor wenigen Jahren noch ihren Ehering weggegeben hätte."
Wenn es ein Thema gibt, das alle Texte durchzieht, so ist es dieses: das Schweigen über den deutschen Zivilisationsbruch, die Ausflüchte, Verleugnungen, Lügen, jene stumme Gewalt, die oft genug Voraussetzung der politischen, kulturellen, wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten waren - zum Preis einer lähmenden Einmütigkeit, die sich wie von selbst überall dort einstellt, wo die größten Konflikte begraben liegen. Schultz-Gerstein zeigt all dies ohne jeden Moralismus, einfach nur durch seine Kunst, Details beim Wort zu nehmen und so individuelle und soziale Physiognomien scharf konturiert zu erfassen.
Seine Texte zeichnen Zeit, analysieren und kritisieren, indem sie sie erzählen. Dabei hegen sie keinerlei überzeitlichen Anspruch: Sie sind wirklich als die journalistischen Texte für den Tag gemeint, als die sie in Spiegel, Zeit und Stern erschienen sind. Der Zeitraum, dem sie entstammen und den sie in den Blick nehmen, umfasst kaum fünfzehn Jahre: Der früheste stammt von 1974, der späteste datiert von 1987, jenem Jahr, in dem die Polizei, von Nachbarn gerufen, Schultz-Gersteins Hamburger Wohnung aufbrach und ihn im Sessel vor dem laufenden Fernseher auffand, seit zwei Wochen tot, wohl zu Tode getrunken im Alter von 41 Jahren. Paradoxerweise aber ist es eben dies, die radikale Zeitlichkeit dieser Texte, die sie zu so "anstößig guten Artikeln" werden lassen: Man liest sie "mit roten Ohren", wie Wolfgang Pohrt in seinem Vorwort schreibt, "weil sie nicht altern, sondern weil umgekehrt die zeitliche Distanz erst ihre Qualität erschließt". DOMINIC ANGELOCH
Christian Schultz-Gerstein: "Rasende Mitläufer, kritische Opportunisten". Porträts, Essays, Reportagen, Glossen.
Vorwort von Wolfgang Pohrt. Edition Tiamat, Berlin 2021. 448 S., br., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Physiognomiker des deutschen Kulturbetriebs: Christian Schultz-Gersteins literarische Porträtkunst
Das journalistische Werk von Christian Schultz-Gerstein ist ein heimliches Erbe der weitgehend untergegangenen Tradition selbst literarischer Kritik. "Porträts, Essays, Reportagen, Glossen" ist ein Sammelband mit seinen Texten untertitelt, entsprechend sind diese in - jeweils grob hundert Seiten umfassende - Gruppen rubriziert. Das Besondere an Schultz-Gersteins Schreibstil ist, dass er Formen mit spielerischer Leichtigkeit zu bedienen weiß und ihre Grenzen zugleich transzendiert. Seine Reportagen sind immer auch literarische Essays, und immer eignet ihnen eine Konzentration und Pointiertheit, die, wie in seinen Glossen, zu blitzenden Sätzen zusammenschießen, die man nicht mehr vergisst - mit einer Natürlichkeit, als könnte das anders gar nicht sein.
Porträts sind alle diese Texte: eines Menschen, eines Werks, immer aber auch des gesellschaftlichen Milieus und historischen Hintergrunds, vor dem es entsteht und als dessen Produkt es zu verstehen ist. Dabei ist es gleich, ob es sich um bejubelte Debütanten wie Rainald Goetz, Karin Struck oder Preis- und Würdenträger wie Botho Strauß und Wolfgang Koeppen handelt, deren Karrieren Schultz-Gerstein als Sittenskizzen des deutschen Kulturbetriebs zeichnet; um Sportler wie Björn Borg, dessen Gefährlichkeit er in einem "Tennis als Seelenspionage" ausmacht; um Neonazis wie Michael Kühnen, den er im Unterschied zur zeitgenössischen Öffentlichkeit, die sich an ihm als "Figur 'aus einem Horrorfilm'" angstlüsterte, als emotionslosen, vorgestanzte Phrasen am Fließband produzierenden "Sinnverkäufer im Außendienst" zeigt; oder um "ein Gerücht namens Heidegger", wie der Titel einer der Reportagen lautet, in denen Schultz-Gerstein nichts anderes tut als den Spuren nachzugehen, die unmittelbar vor aller Nasen ausliegen und doch nicht gesehen werden - aus Gründen, die sich regelmäßig als eigentlicher Gegenstand dieser Porträts entpuppen.
Als ein Physiologe des Alltagslebens wie Balzac zeichnet Schultz-Gerstein anhand von Details wie Gesten und Mimik, Eigenheiten des Sprechens und Erzählens Bildnisse, die den Menschen mitsamt seiner ganzen inneren Widersprüchlichkeit hervortreten lassen, so etwa 1976 im Falle einer ehemaligen Stripperin auf St. Pauli: "Sprachlose Erinnerungen, bodenlose Ohnmachtsgefühle wie immer noch jedes Jahr an den Weihnachtstagen, an denen sie die Lichter am Baum und die Wiener Sängerknaben im Fernsehen nicht sehen kann, ohne in Tränen auszubrechen." Die bleierne Familienatmosphäre, in der die Frau in den fünfziger Jahren aufwuchs, zeigt er im Spannungsfeld einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der eine Vergangenheit bewältigt werden sollte, die einfach nicht vergehen wollte: "Irgend etwas stimmte da nicht . . . So hatten alle ein beunruhigendes Geheimnis voreinander. Die Mutter glaubte, daß etwas dahintersteckte, wenn die Kinder Schlager vor sich hin pfiffen; und die Kinder wußten nicht, warum die Mutter sagte, daß sie für die Wurst, die sie ihnen aufs Schulbrot schmierte, vor wenigen Jahren noch ihren Ehering weggegeben hätte."
Wenn es ein Thema gibt, das alle Texte durchzieht, so ist es dieses: das Schweigen über den deutschen Zivilisationsbruch, die Ausflüchte, Verleugnungen, Lügen, jene stumme Gewalt, die oft genug Voraussetzung der politischen, kulturellen, wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten waren - zum Preis einer lähmenden Einmütigkeit, die sich wie von selbst überall dort einstellt, wo die größten Konflikte begraben liegen. Schultz-Gerstein zeigt all dies ohne jeden Moralismus, einfach nur durch seine Kunst, Details beim Wort zu nehmen und so individuelle und soziale Physiognomien scharf konturiert zu erfassen.
Seine Texte zeichnen Zeit, analysieren und kritisieren, indem sie sie erzählen. Dabei hegen sie keinerlei überzeitlichen Anspruch: Sie sind wirklich als die journalistischen Texte für den Tag gemeint, als die sie in Spiegel, Zeit und Stern erschienen sind. Der Zeitraum, dem sie entstammen und den sie in den Blick nehmen, umfasst kaum fünfzehn Jahre: Der früheste stammt von 1974, der späteste datiert von 1987, jenem Jahr, in dem die Polizei, von Nachbarn gerufen, Schultz-Gersteins Hamburger Wohnung aufbrach und ihn im Sessel vor dem laufenden Fernseher auffand, seit zwei Wochen tot, wohl zu Tode getrunken im Alter von 41 Jahren. Paradoxerweise aber ist es eben dies, die radikale Zeitlichkeit dieser Texte, die sie zu so "anstößig guten Artikeln" werden lassen: Man liest sie "mit roten Ohren", wie Wolfgang Pohrt in seinem Vorwort schreibt, "weil sie nicht altern, sondern weil umgekehrt die zeitliche Distanz erst ihre Qualität erschließt". DOMINIC ANGELOCH
Christian Schultz-Gerstein: "Rasende Mitläufer, kritische Opportunisten". Porträts, Essays, Reportagen, Glossen.
Vorwort von Wolfgang Pohrt. Edition Tiamat, Berlin 2021. 448 S., br., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main