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Nach der Öffnung der russischen Archive: die spannende Biographie einer charismatischen Gestalt, deren Ausschweifungen, Anmaßung und Machtmissbrauch den Sturz des Zarentums beschleunigten.

Produktbeschreibung
Nach der Öffnung der russischen Archive: die spannende Biographie einer charismatischen Gestalt, deren Ausschweifungen, Anmaßung und Machtmissbrauch den Sturz des Zarentums beschleunigten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.1998

Seltsamer Heiliger
Eine flott geschriebene Rasputin-Biographie

Henri Troyat: Rasputin. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Yla Margit von Dach. Artemis & Winkler, Zürich und München 1998. 224 S., 39,80 Mark.

Der letzte russische Zar war zum Märchenkaiser berufen. Im Grunde ohne Interesse an politischen Geschäften, widmete er sich lieber dem Familienleben und träumte gleichzeitig vom Rückhalt im Volk, über alle Ministerialbürokratie und Hofintrigen hinweg. Seine liebende Gattin bestärkte ihn in seiner Weltflucht und glaubte, ihm einen guten Dienst zu erweisen, indem sie die mythischen Urkräfte seines Heimatlandes der Krone nahebrachte. Ihre Charakterstärke und die Schwäche des Monarchen brachten in Verbindung mit dem zu Beginn des Jahrhunderts noch einmal sich verstärkenden russischen Mystizismus das Phänomen Rasputin hervor, jener beispiellosen Machtstellung eines analphabetischen "Erleuchteten" aus der Provinz, das den unaufhaltsamen Niedergang des alten Regimes beschleunigte. Rasputin hatte richtig vorausgesagt, daß in Rußland Bürgerkrieg ausbrechen würde und die Zarenfamilie keine zwei Jahre mehr zu leben hätte, wenn er selbst von Aristokraten umgebracht würde.

Nun ist die deutsche Übersetzung einer Biographie des undurchsichtigen Scharlatans und Geistheilers erschienen, die der aus Armenien stammende französische Verfasser zahlreicher Biographien und historischer Romane Henri Troyat zum achtzigsten Todestag Rasputins 1996 geschrieben hat. Wie in seinen anderen Büchern hat Troyat es verstanden, anhand von aus verstreuten Quellen zusammengetragenem Material einen sich flüssig lesenden, unterhaltsamen Text zu verfertigen. Als routinierter Publizist erzählt er die Lebensgeschichte des begnadeten und bauernschlauen Gottesmannes mit Hilfe der einfühlenden Vergegenwärtigung. Troyat macht die frappierende Intuition, den Machtinstinkt und den sexuellen Appetit seines Helden erlebbar, ohne den Leser durch tiefschürfende Analysen zur historischen Situation oder zur Psychopathologie der wichtigsten Akteure zu verwirren.

Das selbstbewußte Erwähltheitsgefühl des ungebildeten Bauern Grigori Rasputin nährte sich nicht nur aus dem christlichen Glauben an die Armen im Geiste, sondern auch aus der Naturverbundenheit des heidnischen Schamanen. Schon als Heranwachsender im westsibirischen Dorf Pokrowskoje habe Rasputin einen sechsten Sinn für das Verhalten von Tieren bewiesen, und sein Vermögen, durch identifikatorische Kräfte dem hämophilen Thronfolger seine Leiden aus dem Körper zu ziehen, habe ihm später das Herz der Zarin gewonnen.

Zugleich sorgte Rasputins eigenwilliges Christentum von Anfang an für Skandale. In seiner sibirischen Heimat leitete er eine Gemeinschaft der Chlystensekte, die durch orgiastische Ausschweifungen den Heiligen Geist beschwor und gewissermaßen die Sünde durch die Sünde austrieb. Für einige Damen der dekadenten Petersburger Adelsgesellschaft stellte die elementare Manneskraft des Gottessehers eine Art Universalmedizin dar.

Die Neigung der Zarin zum Mystizismus hatte sich durch die Krankheit ihres Sohnes verstärkt. Rasputin mußte ihr als Retter der Dynastie erscheinen. Der Dörfler, der Zar und Zarin mit "du" anredete, konnte nicht nur die Leiden des Thronfolgers lindern, er ließ den Monarchen auch an der vermeintlich urwüchsigen Kraft, Gläubigkeit und Treue des einfachen Volkes teilhaben, die der von Beamten und Höflingen umgebene Nikolai II. so sehr entbehrte. Die Ratschläge Rasputins, welche die Zarin dem Monarchen übermittelte, klingen zum Teil bemerkenswert vernünftig. So warnte er eindringlich vor dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg; er versuchte den gekrönten Häuptern die Absurdität der von Antisemiten fabrizierten Anklagen gegen den ukrainischen Juden Bejlis klarzumachen; und im Interesse der Volksgesundheit sprach er sich gegen die Förderung des Alkoholverkaufs aus, welcher der Staatskasse üppige Einnahmen bescherte.

Nach dem schicksalhaften Kriegsbeginn nahm das Verhängnis seinen Lauf. Während der Monarch an der Front das einfache Soldatenleben genießt, steigt seine Gattin faktisch zur Regentin auf. Sie hält sich an Rasputins Ratschläge wie an das delphische Orakel. Die militärischen Niederlagen und Schreckensnachrichten von der Front diskreditieren das Regime, das Troyat als "Autokratie ohne Autokraten" bezeichnet. Rasputin, der maßlos zu trinken begonnen hat, gilt inzwischen beim gesamten Establishment als Staatsfeind Nummer eins. Die Kirchenleitung, die Bürokratie, Politiker aller Couleur, die Polizei, der Hof, ja die Romanow-Familie, die Verwandten des Zaren wollen den Dunkelmann beseitigt sehen. Schließlich fühlt sich der hochadelige Bohemien Felix Jussupow vom Schicksal dazu erkoren, Rasputin im Interesse des Vaterlandes zu ermorden.

Wie man weiß, konnte seine im Dezember 1916 begangene Bluttat die Katastrophe nicht von Rußland abwenden. Rasputins Prophezeiung erfüllte sich. Wegen seines maßlosen Ehrgeizes, des fanatischen Sendungsbewußtseins und seiner zerstörerischen Folgen für das Land sieht Troyat in Rasputin trotz aller Gegensätzlichkeit eine Entsprechung zu Lenin. Der Vergleich wirkt bemüht. Doch die traumatische historische Erfahrung mit der Figur des politischen Scharlatans wirkt noch immer nach. Bis heute werden in Rußland obskure Fädenzieher, die das Ohr des obersten Machthabers besitzen, im politischen Jargon als Rasputins bezeichnet.

KERSTIN HOLM

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