Zwölf preisgekrönte Kurzgeschichten, in denen sich - scheinbar - das ganz normale Chaos des Lebens widerspiegelt, surreal und gleichermaßen verblüffend wie amüsant. Greg Hollingshead beweist mit seinem lakonischen Stil und den brillanten Dialogen, daß er genau weiß, wovon er schreibt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.1998Das Ende eines Graupapageis
Lügen verpflichtet: Geschichten von Greg Hollingshead
Kein schlechter Titel, mit dem die deutsche Ausgabe der Kurzgeschichten des Kanadiers Greg Hollingshead daherkommt. Das Original, das dem Autor einen hochdotierten kanadischen Literaturpreis eintrug, heißt schlicht "The Roaring Girl". Aber "Ratte mit Mandarine" trifft sehr schön die raffinierte Mischung aus Degout und Faszination in manchen dieser Texte.
In der Titelgeschichte der deutschen Version sind eigentlich weder Ratte noch Mandarine sonderlich wichtig. Fast scheinen sie sich einem Exerzitium zu verdanken: Schreibe eine Story, in der die Worte "Ratte" und "Mandarine" vorkommen. Zwar geht es um Versuche mit Ratten und andererseits um den letzten Traum des Morgens, der mit einer Mandarine verglichen wird. Doch die Hauptsache sind dem Autor die Gespräche und die unterschwelligen Beziehungen zwischen den Personen. Dennoch gelingt es ihm, der Sache zuletzt noch eine preziöse, doch faszinierende Epiphanie zu entlocken: "Und aus der Finsternis kommt eine weiße Ratte aufrecht auf den Hinterbeinen durch den Flur ins Schlafzimmer getrippelt, und in ihren dünnen, ekstatisch zitternden Pfoten hält sie hoch erhoben die Mandarine."
Weniger ausgeklügelt, nämlich spannend und geradezu ergreifend ist die Geschichte "Brulés Tod". Hier kaschiert das lockere Geflecht der Short Story die klassische Novelle. Der Novellen-Falke - das ist hier der Graupapagei Brulé, ein virtuoser Stimmenimitator. Er scheint nur eine Nebenrolle in der quasiautobiographischen Geschichte zu spielen, die von der Liebe des Ich-Erzählers zu Tulip Paradis handelt, einem Mädchen von nebenan. Diese junge und ziemlich ungenierte Mädchenblüte führt ihn in das Paradies der Liebe ein. Die Vertreibung daraus geschieht durch die Mutter und den Dalmatinerhund Pepper. Er trägt etwas in der Schnauze, das wie ein Putzlappen oder ein Federbesen aussieht, den toten Brulé.
Das "Rätsel der Verworfenheit auf dieser Welt" - so eine von fern an Kleist erinnernde Formulierung - spielt auch in die anderen Geschichten hinein. Aber der untergründig existentielle Gestus wirkt nie penetrant. Hollingshead bewährt sich als Meister des Nebenbei, der Andeutungen, der diskreten Allegorien. Gelegentlich leistet er sich Ausflüge in die philosophische Reflexion oder die moralische Pointe. Nur weiß man nie so ganz, ob man der Sache trauen soll. Irgendwo läßt er eine Frau sagen: "Die Menschen brauchen sich nur zu geben, wie sie sind, und schon sind sie Monster." Aber da die Menschen gerade in dieser Geschichte sich nicht so geben, wie sie sind, stehen Probe und Beweis aus. Wie heißt doch die Geschichte? "Das Zeitalter der Vernunft".
So foppt und amüsiert uns Greg Hollingshead. Er hat es besonders auf unser Sinnbedürfnis abgesehen, das er erregt, ohne es zu befriedigen. Die meisten seiner Figuren sind intelligent genug, bei dieser Fopperei mitzuwirken. Auch dies ist eine Garantie dafür, daß keine Langeweile aufkommt. "Alex war zwar kein Schriftsteller, aber manchmal fühlte er sich sogar seinen eigenen Lügen verpflichtet." Nicht minder der Autor Greg Hollingshead. Um so erstaunlicher, daß die besten seiner Fiktionen einen kräftigen Geschmack von Leben haben. Ich nenne nur die wunderbare Tankstellen-Story "Das Mädchen mit den Radkappen". Sie muß auch dem Graphiker gefallen haben. Er hat als Initiale vor alle Geschichten das Piktogramm einer Zapfsäule gesetzt. HARALD HARTUNG
Greg Hollingshead: "Ratte mit Mandarine". Short Storys. Aus dem Englischen übersetzt von Wieland Grommes. Berlin Verlag, Berlin 1998. 287 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lügen verpflichtet: Geschichten von Greg Hollingshead
Kein schlechter Titel, mit dem die deutsche Ausgabe der Kurzgeschichten des Kanadiers Greg Hollingshead daherkommt. Das Original, das dem Autor einen hochdotierten kanadischen Literaturpreis eintrug, heißt schlicht "The Roaring Girl". Aber "Ratte mit Mandarine" trifft sehr schön die raffinierte Mischung aus Degout und Faszination in manchen dieser Texte.
In der Titelgeschichte der deutschen Version sind eigentlich weder Ratte noch Mandarine sonderlich wichtig. Fast scheinen sie sich einem Exerzitium zu verdanken: Schreibe eine Story, in der die Worte "Ratte" und "Mandarine" vorkommen. Zwar geht es um Versuche mit Ratten und andererseits um den letzten Traum des Morgens, der mit einer Mandarine verglichen wird. Doch die Hauptsache sind dem Autor die Gespräche und die unterschwelligen Beziehungen zwischen den Personen. Dennoch gelingt es ihm, der Sache zuletzt noch eine preziöse, doch faszinierende Epiphanie zu entlocken: "Und aus der Finsternis kommt eine weiße Ratte aufrecht auf den Hinterbeinen durch den Flur ins Schlafzimmer getrippelt, und in ihren dünnen, ekstatisch zitternden Pfoten hält sie hoch erhoben die Mandarine."
Weniger ausgeklügelt, nämlich spannend und geradezu ergreifend ist die Geschichte "Brulés Tod". Hier kaschiert das lockere Geflecht der Short Story die klassische Novelle. Der Novellen-Falke - das ist hier der Graupapagei Brulé, ein virtuoser Stimmenimitator. Er scheint nur eine Nebenrolle in der quasiautobiographischen Geschichte zu spielen, die von der Liebe des Ich-Erzählers zu Tulip Paradis handelt, einem Mädchen von nebenan. Diese junge und ziemlich ungenierte Mädchenblüte führt ihn in das Paradies der Liebe ein. Die Vertreibung daraus geschieht durch die Mutter und den Dalmatinerhund Pepper. Er trägt etwas in der Schnauze, das wie ein Putzlappen oder ein Federbesen aussieht, den toten Brulé.
Das "Rätsel der Verworfenheit auf dieser Welt" - so eine von fern an Kleist erinnernde Formulierung - spielt auch in die anderen Geschichten hinein. Aber der untergründig existentielle Gestus wirkt nie penetrant. Hollingshead bewährt sich als Meister des Nebenbei, der Andeutungen, der diskreten Allegorien. Gelegentlich leistet er sich Ausflüge in die philosophische Reflexion oder die moralische Pointe. Nur weiß man nie so ganz, ob man der Sache trauen soll. Irgendwo läßt er eine Frau sagen: "Die Menschen brauchen sich nur zu geben, wie sie sind, und schon sind sie Monster." Aber da die Menschen gerade in dieser Geschichte sich nicht so geben, wie sie sind, stehen Probe und Beweis aus. Wie heißt doch die Geschichte? "Das Zeitalter der Vernunft".
So foppt und amüsiert uns Greg Hollingshead. Er hat es besonders auf unser Sinnbedürfnis abgesehen, das er erregt, ohne es zu befriedigen. Die meisten seiner Figuren sind intelligent genug, bei dieser Fopperei mitzuwirken. Auch dies ist eine Garantie dafür, daß keine Langeweile aufkommt. "Alex war zwar kein Schriftsteller, aber manchmal fühlte er sich sogar seinen eigenen Lügen verpflichtet." Nicht minder der Autor Greg Hollingshead. Um so erstaunlicher, daß die besten seiner Fiktionen einen kräftigen Geschmack von Leben haben. Ich nenne nur die wunderbare Tankstellen-Story "Das Mädchen mit den Radkappen". Sie muß auch dem Graphiker gefallen haben. Er hat als Initiale vor alle Geschichten das Piktogramm einer Zapfsäule gesetzt. HARALD HARTUNG
Greg Hollingshead: "Ratte mit Mandarine". Short Storys. Aus dem Englischen übersetzt von Wieland Grommes. Berlin Verlag, Berlin 1998. 287 S., geb., 39,80 DM.
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