Adolf Eichmann, der die Vernichtung der europäischen Juden organisierte, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso nach Argentinien ab wie Josef Mengele, der KZ-Arzt von Auschwitz. Hunderte NS-Verbrecher taten es ihnen gleich. Auf den sogenannten Rattenlinien gelangten sie in ein Land, das sie mit offenen Armen empfing. Doch warum ausgerechnet Argentinien? Lateinamerika-Kenner Hannes Bahrmann geht dieser Frage nach und stellt überzeugend dar: Die Antwort liegt in der Geschichte des Landes selbst begründet.
»Fesselnd und wichtig! Dieses Buch hilft zu verstehen, warum viele NS-Verbrecher nach Argentinien flüchteten.«
Olivier Guez, Autor des Bestsellers »Das Verschwinden des Josef Mengele«
»Fesselnd und wichtig! Dieses Buch hilft zu verstehen, warum viele NS-Verbrecher nach Argentinien flüchteten.«
Olivier Guez, Autor des Bestsellers »Das Verschwinden des Josef Mengele«
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tim Niendorf empfiehlt das Buch des Lateinamerikanisten Hannes Bahrmann. Zu lernen ist vom Autor laut Niendorf, was Argentinien für NS-Verbrecher nach dem Krieg zum "gelobten Land" machte, welche Rollen Peron und seine Weltmachtgedanken und die Geschichte des Rassismus gegen die indigene Bevölkerung im Land dabei spielten. Detailfreudig legt der Autor laut Niendorf sein tiefreichendes Wissen dar, mitunter zu detailfreudig, sodass der Rezensent vor lauter Namen und Aspekten den Überblick zu verlieren droht. Kapiteleinleitungen und informative Abbildungen geben ihm Orientierung. Das Kapitel über die "Rattenlinien" möchte Niendorf besonders empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Auf den Rattenlinien ins "gelobte Land"
Warum die Möchtegern-Großmacht Argentinien nach 1945 NS-Verbrecher mit offenen Armen empfing
Ja, in Argentinien fanden diese Nationalsozialisten nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg tatsächlich ein gemachtes Nest, einen Ort, an dem sie sich jeglicher Strafen entziehen konnten. Der Lateinamerikanist Hannes Bahrmann beschreibt detail- und kenntnisreich, wie das südamerikanische Land zum Zufluchtsort bekannter (Eichmann, Mengele) und weniger bekannter deutscher Verbrecher wurde.
Dafür wirft der Autor zunächst einen Blick in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. In Argentinien, schreibt Bahrmann, entwickelte sich schon früh ein fruchtbarer Boden für rassistische Ideologien. Nach der Unabhängigkeit von der spanischen Krone zu Beginn des 19. Jahrhunderts sah man etwa mit Herablassung auf die Indigenen im Land herab, die in den Augen der Weißen dem, was sie als "Zivilisation" ansahen, nur im Weg standen. "Zerstören wir also guten Gewissens diese Rasse", wird denn auch ein späterer Präsident zitiert. Und dann waren da die Afroargentinier, die, wie der Autor darlegt, vor zweihundert Jahren noch einen nennenswerten Anteil der Bevölkerung ausmachten, im Unabhängigkeitskampf das Gros der Truppen stellten, aber im Laufe der Zeit durch Kämpfe und Krankheiten stark dezimiert wurden, bis kaum noch Nachfahren der Sklaven übrig blieben. "Nein", zitiert der Autor abermals einen Präsidenten, dieses Mal Carlos Menem (1989 bis 1999), "das ist ein Problem Brasiliens" - er war gefragt worden, ob es heute noch Schwarze in seinem Land gebe.
In der Gegenwart verbindet die Welt Argentinien seit vielen Jahren mit Wirtschaftskrisen. Vor etwa hundert Jahren aber zählte das südamerikanische Land noch zu den reichsten Staaten der Welt. Das zog viele Einwanderer aus Europa an, unter ihnen im Laufe der Zeit auch Zehntausende Deutsche, auf die man aufgrund ihrer europäischen Herkunft viel hielt. Auch das deutsche Militär galt damals vielen als Vorbild. Argentinien holte sich von den Deutschen Hilfe bei der Offiziersausbildung, übernahm gar die Wehrpflicht und die preußischen Uniformen, inklusive der berühmten "Pickelhauben".
Überhaupt nahm der deutsche Einfluss in Argentinien mit den wirtschaftlich bedingten Auswanderungswellen nach dem Ersten Weltkrieg zu: Deutsche Migranten gründeten Heimatvereine, später sollten NS-treue Vereine und dem Nationalsozialismus zugeneigte Publikationen hinzukommen. Und so kam es nicht von ungefähr, dass Argentinien zum Sehnsuchtsland für NS-Verbrecher wurde; oder, wie es Adolf Eichmann, einer der Verantwortlichen für die Ermordung der Juden, formulierte, zum "gelobten Land". Entscheidend dafür war nicht nur die deutschlandfreundliche Haltung der Vorjahre, sondern auch die ausgestreckte Hand eines neuen starken Manns, Juan Perón. Der war ein Präsident, der von 1946 an mit einer Symbiose aus linkem und rechtem Populismus die Herzen vieler Argentinier gewann. Perón, schreibt Bahrmann, sei kein Nazi gewesen, wohl aber ein Bewunderer Adolf Hitlers. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte Perón Argentinien zu einer dritten Weltmacht machen, auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Daher waren ihm die deutschen Verbrecher nach dem Krieg in Argentinien willkommen, hier durften sie sich nicht nur sicher vor der Justiz fühlen, sie konnten sogar ein ganz normales Leben führen, ohne sich verstecken zu müssen.
Um die Deutschen zu umwerben, ließ der argentinische Präsident sogar eine Gesellschaft gründen, die Einreisegenehmigungen erteilen durfte. Perón wollte sich auf diesem Weg deutsches Know-how aneignen, um den Weg Argentiniens zur Großmacht zu ebnen. Er versprach sich technisches Wissen für das Militär, aber auch Hilfe auf anderen Gebieten. Der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele etwa wollte die argentinische Rinderzucht verbessern. Doch nicht nur das erwies sich als falsches Versprechen. So fiel Perón, nachdem er Hunderte Wissenschaftler aus ihren Arbeitsstellen entfernt hatte, etwa auf einen Scharlatan herein, einen deutschen Physiker, der dem argentinischen Präsidenten weismachte, Sonnenenergie in Flaschenbatterien erzeugt zu haben, sodass Perón schon glaubte, Argentinien habe die Konkurrenz auf der ganzen Welt bei der Energieversorgung abgehängt.
Bahrmann, Autor mehrerer Publikationen über Lateinamerika, zeigt immer wieder, wie tief er sich in das Thema eingearbeitet hat. 51 Schwarz-Weiß-Abbildungen illustrieren die Texte. Stellenweise erfüllt sein Werk dank seiner sprachlichen Erzählkunst populärwissenschaftliche Kriterien, leider begibt sich Bahrmann aber auch immer wieder ins Klein-Klein und schweift dann und wann zu sehr ab. Als Leser verliert man aufgrund von Nebenaspekten sowie der Vielzahl an Namen, die nicht alle von Bedeutung sind oder zum Verständnis des Themas beitragen, stellenweise den Überblick. Den erlangt man aber spätestens zu Beginn eines jeden Kapitels zurück, da allen Kapiteln, die meist fünf bis zehn Seiten lang sind, in Stichpunkten die wichtigsten inhaltlichen Punkte vorangestellt sind. Und so lassen sich dank der gelungenen Struktur auch im Nachhinein noch einmal schnell Details nachschlagen.
Empfohlen sei das Kapitel "Die Rattenlinien" - mit dem Begriff sind die Fluchtrouten der Nationalsozialisten gemeint. Hier wird deutlich, wer wie (teils mit falschem Namen) nach Argentinien gelangte. "Die Vorstellung jedoch, dass ein Massenmörder nach diesem Krieg einfach weiterlebt, alt wird und am Ende sanft entschläft, ist unerträglich", zitiert Bahrmann den Schoa-Überlebenden Simon Wiesenthal an einer Stelle. Doch in Argentinien wurde der ruhige Lebensabend für viele Nationalsozialisten nach dem Krieg wahr. Schuld empfanden diese nicht. Im Gegenteil. "Mich reut gar nichts!", sagte etwa Eichmann einem Journalisten. Immerhin er sollte später unter anderem dank der Arbeit des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer noch gefasst werden. Aber das ist eine Geschichte für sich.
TIM NIENDORF
Hannes Bahrmann: Rattennest. Argentinien und die Nazis.
Ch. Links Verlag, Berlin 2021. 270 S., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum die Möchtegern-Großmacht Argentinien nach 1945 NS-Verbrecher mit offenen Armen empfing
Ja, in Argentinien fanden diese Nationalsozialisten nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg tatsächlich ein gemachtes Nest, einen Ort, an dem sie sich jeglicher Strafen entziehen konnten. Der Lateinamerikanist Hannes Bahrmann beschreibt detail- und kenntnisreich, wie das südamerikanische Land zum Zufluchtsort bekannter (Eichmann, Mengele) und weniger bekannter deutscher Verbrecher wurde.
Dafür wirft der Autor zunächst einen Blick in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. In Argentinien, schreibt Bahrmann, entwickelte sich schon früh ein fruchtbarer Boden für rassistische Ideologien. Nach der Unabhängigkeit von der spanischen Krone zu Beginn des 19. Jahrhunderts sah man etwa mit Herablassung auf die Indigenen im Land herab, die in den Augen der Weißen dem, was sie als "Zivilisation" ansahen, nur im Weg standen. "Zerstören wir also guten Gewissens diese Rasse", wird denn auch ein späterer Präsident zitiert. Und dann waren da die Afroargentinier, die, wie der Autor darlegt, vor zweihundert Jahren noch einen nennenswerten Anteil der Bevölkerung ausmachten, im Unabhängigkeitskampf das Gros der Truppen stellten, aber im Laufe der Zeit durch Kämpfe und Krankheiten stark dezimiert wurden, bis kaum noch Nachfahren der Sklaven übrig blieben. "Nein", zitiert der Autor abermals einen Präsidenten, dieses Mal Carlos Menem (1989 bis 1999), "das ist ein Problem Brasiliens" - er war gefragt worden, ob es heute noch Schwarze in seinem Land gebe.
In der Gegenwart verbindet die Welt Argentinien seit vielen Jahren mit Wirtschaftskrisen. Vor etwa hundert Jahren aber zählte das südamerikanische Land noch zu den reichsten Staaten der Welt. Das zog viele Einwanderer aus Europa an, unter ihnen im Laufe der Zeit auch Zehntausende Deutsche, auf die man aufgrund ihrer europäischen Herkunft viel hielt. Auch das deutsche Militär galt damals vielen als Vorbild. Argentinien holte sich von den Deutschen Hilfe bei der Offiziersausbildung, übernahm gar die Wehrpflicht und die preußischen Uniformen, inklusive der berühmten "Pickelhauben".
Überhaupt nahm der deutsche Einfluss in Argentinien mit den wirtschaftlich bedingten Auswanderungswellen nach dem Ersten Weltkrieg zu: Deutsche Migranten gründeten Heimatvereine, später sollten NS-treue Vereine und dem Nationalsozialismus zugeneigte Publikationen hinzukommen. Und so kam es nicht von ungefähr, dass Argentinien zum Sehnsuchtsland für NS-Verbrecher wurde; oder, wie es Adolf Eichmann, einer der Verantwortlichen für die Ermordung der Juden, formulierte, zum "gelobten Land". Entscheidend dafür war nicht nur die deutschlandfreundliche Haltung der Vorjahre, sondern auch die ausgestreckte Hand eines neuen starken Manns, Juan Perón. Der war ein Präsident, der von 1946 an mit einer Symbiose aus linkem und rechtem Populismus die Herzen vieler Argentinier gewann. Perón, schreibt Bahrmann, sei kein Nazi gewesen, wohl aber ein Bewunderer Adolf Hitlers. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte Perón Argentinien zu einer dritten Weltmacht machen, auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Daher waren ihm die deutschen Verbrecher nach dem Krieg in Argentinien willkommen, hier durften sie sich nicht nur sicher vor der Justiz fühlen, sie konnten sogar ein ganz normales Leben führen, ohne sich verstecken zu müssen.
Um die Deutschen zu umwerben, ließ der argentinische Präsident sogar eine Gesellschaft gründen, die Einreisegenehmigungen erteilen durfte. Perón wollte sich auf diesem Weg deutsches Know-how aneignen, um den Weg Argentiniens zur Großmacht zu ebnen. Er versprach sich technisches Wissen für das Militär, aber auch Hilfe auf anderen Gebieten. Der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele etwa wollte die argentinische Rinderzucht verbessern. Doch nicht nur das erwies sich als falsches Versprechen. So fiel Perón, nachdem er Hunderte Wissenschaftler aus ihren Arbeitsstellen entfernt hatte, etwa auf einen Scharlatan herein, einen deutschen Physiker, der dem argentinischen Präsidenten weismachte, Sonnenenergie in Flaschenbatterien erzeugt zu haben, sodass Perón schon glaubte, Argentinien habe die Konkurrenz auf der ganzen Welt bei der Energieversorgung abgehängt.
Bahrmann, Autor mehrerer Publikationen über Lateinamerika, zeigt immer wieder, wie tief er sich in das Thema eingearbeitet hat. 51 Schwarz-Weiß-Abbildungen illustrieren die Texte. Stellenweise erfüllt sein Werk dank seiner sprachlichen Erzählkunst populärwissenschaftliche Kriterien, leider begibt sich Bahrmann aber auch immer wieder ins Klein-Klein und schweift dann und wann zu sehr ab. Als Leser verliert man aufgrund von Nebenaspekten sowie der Vielzahl an Namen, die nicht alle von Bedeutung sind oder zum Verständnis des Themas beitragen, stellenweise den Überblick. Den erlangt man aber spätestens zu Beginn eines jeden Kapitels zurück, da allen Kapiteln, die meist fünf bis zehn Seiten lang sind, in Stichpunkten die wichtigsten inhaltlichen Punkte vorangestellt sind. Und so lassen sich dank der gelungenen Struktur auch im Nachhinein noch einmal schnell Details nachschlagen.
Empfohlen sei das Kapitel "Die Rattenlinien" - mit dem Begriff sind die Fluchtrouten der Nationalsozialisten gemeint. Hier wird deutlich, wer wie (teils mit falschem Namen) nach Argentinien gelangte. "Die Vorstellung jedoch, dass ein Massenmörder nach diesem Krieg einfach weiterlebt, alt wird und am Ende sanft entschläft, ist unerträglich", zitiert Bahrmann den Schoa-Überlebenden Simon Wiesenthal an einer Stelle. Doch in Argentinien wurde der ruhige Lebensabend für viele Nationalsozialisten nach dem Krieg wahr. Schuld empfanden diese nicht. Im Gegenteil. "Mich reut gar nichts!", sagte etwa Eichmann einem Journalisten. Immerhin er sollte später unter anderem dank der Arbeit des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer noch gefasst werden. Aber das ist eine Geschichte für sich.
TIM NIENDORF
Hannes Bahrmann: Rattennest. Argentinien und die Nazis.
Ch. Links Verlag, Berlin 2021. 270 S., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Das Buch von Bahrmann geht über sattsam Bekanntes weit hinaus.« Martin Ling Lateinamerika Nachrichten 20220208