Eine Pionierstudie über einen zentralen vergangenheitspolitischen Konflikt, der bis heute nicht abgeschlossen ist.Die Rückerstattung jüdischen Eigentums war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein zentraler vergangenheitspolitischer Konflikt zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den überlebenden Juden. Das Ende des Kalten Krieges fachte diese Auseinandersetzung erneut an, da die Eigentumsfrage im Zusammenhang mit der Konstituierung von Zivilgesellschaften in Osteuropa und der seit Mitte der 1990er Jahre geführten internationalen Wiedergutmachungsdebatte an zentrale Stelle gerückt ist.Jürgen Lillteicher verknüpft die Untersuchung des politischen Prozesses mit der Betrachtung der Rückerstattungspraxis und liefert so einen innovativen Ansatz für diese aktuelle zeithistorische wie politische Problematik.Einbezogen werden die deutsche und die alliierte Politik, die deutsche Gesellschaft und, in transnationaler Perspektive, die jüdischen Rückerstattungsberechtigten. Lillteicher analysiert dabei nicht nur die juristische und die politische Dimension des Eigentumstransfers, sondern auch die Rückerstattung als gesellschaftliche Erfahrung und ihre Bedeutung für die Neukonstituierung jüdischer Existenz nach 1945.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.06.2008Sozialisierung von Schuld
Die Wiedergutmachung verschonte viele Profiteure
Wenn Geschichte vor Gericht steht wie in diesem Fall, werden nicht etwa juristische Details, sondern die Grundsätze von Schuld und Sühne verhandelt. Millionenfach hatten die Nationalsozialisten jüdisches Eigentum an sich gerissen und es, wie es im menschenverachtenden Amtsdeutsch hieß, „arisiert”. Nach 1945 sollte es darum gehen, wie dieser größte Besitzwechsel aller Zeiten wieder rückabgewickelt oder entschädigt werden konnte. Doch die Frage nach einer „gerechten” Wiedergutmachung hing stets in hohem Maße davon ab, wem man diese Frage stellte – dem Opfer, dem Täter, dem Nutznießer.
In seiner umfassenden Untersuchung der Restitution jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik lotet Jürgen Lillteicher, der Leiter des im vergangenen September eingeweihten Willy-Brandt-Hauses in Lübeck, genau diese Frage aus. Im Zentrum seiner wichtigen Studie steht die Frage, wie sich die westdeutsche Gesellschaft, die Behörden und insbesondere die Gerichte nach 1945 zur wirtschaftlichen Existenzvernichtung und Ausplünderung der deutschen Juden auf politischer und justitieller Ebene verhielten. Und er kommt zu einem ebenso nüchternen wie ernüchternden Fazit: „Die Art und Weise, wie die Rückerstattung durchgeführt wurde, ist ein Indiz für das schlechte Gewissen der westdeutschen Gesellschaft.”
Insbesondere in den beiden Nachkriegsjahrzehnten wurde das Wissen darüber verdrängt, wie schamlos sich viele „Volksgenossen” an der wirtschaftlichen Verfolgung der Juden beteiligt und ihren Wohlstand nach 1945 auf dem geraubten Besitz aufgebaut hatten. Zudem betrachteten weite Teile der Bevölkerung die von den Alliierten verordneten Restitutionsregelungen nicht als moralische oder wenigstens als rechtliche Verpflichtung, sondern als eine Form der Siegerjustiz. Auch waren antisemitische Vorbehalte nicht von einem auf den anderen Tag verschwunden. Gerade in den Wiedergutmachungsverfahren kamen sie immer wieder an die Oberfläche.
Allerdings wäre es zu einfach, alle zur Rückerstattung Verpflichteten über einen Kamm zu scheren und sie kollektiv als unbelehrbar darzustellen. Lillteicher verweist denn auch zu Recht auf die vielen Graustufen der Restitution. Denn mancher hatte tatsächlich unwissentlich jüdisches Eigentum aus zweiter Hand erworben. Das Gesetz unterschied aber nicht nach den Umständen der Übereignung. So mussten auch diese „gutgläubigen Erwerber”, wie sie im Rechtsjargon genannt wurden, nach 1945 ihren Besitz an die Alteigentümer zurückgeben.
Doch auch trotz dieser vereinzelten Härten gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass durch die Rückerstattung nach Kriegsende neues Unrecht im großen Stil geschehen wäre. Im Übrigen wussten sich die ehemaligen Profiteure zu wehren, und sie fanden gerade auch in der Politik Gehör, insbesondere im nationalliberalen Lager. So setzte sich beispielsweise der FDP-Abgeordnete Alfred Steger im Bundestag vehement für ihre Interessen ein: „Sie wurden geschädigt und sogar enteignet”, so Steger in einem offenen Brief vom März 1956, „sie sind diffamiert.” Wohlgemerkt, er sprach dabei nicht von den Opfern, sondern von den Profiteuren der „Arisierung”.
Hier liegt einer der aufschlussreichsten Teile des Buchs. Lillteicher kann zeigen, wie derartige Lobbyarbeit zum sogenannten Reparationsschädengesetz führte, das der Bundestag 1969 verabschiedete. Diese „Wiedergutmachung der Wiedergutmachung” sollte unbillige Härten ausgleichen, die durch die etwas schematische Rückerstattungs-Gesetzgebung entstanden waren. Und es ging hier nicht um Petitessen: Die Bundesregierung veranschlagte knapp zwei Milliarden Mark für dieses Gesetz, mit denen der Staat private Rückerstattungsverpflichtungen ausglich. Eine Sozialisierung von Schuld gewissermaßen.
All das lässt Lillteicher am Ende seiner Untersuchung zu dem Schluss kommen, einen kollektiven Lernprozess durch die Wiedergutmachung habe es bis Ende der sechziger Jahre nicht gegeben. Damit fällt er ein ebenso klares wie strittiges Urteil. Denn womöglich ist sein Anspruch an das, was die Rückerstattung bewirken konnte, zu hoch. Auch wenn die Restitutionsverfahren nicht die Herzen der Täter und Profiteure veränderten, sie verwandelte immerhin Unrecht in Recht und Opfer in Berechtigte. Was bei der Wiedergutmachung der NS-Verbrechen den Gedanken vom reinen Schadensersatz ohne moralischen Mehrwert wohl so unerträglich erscheinen lässt, ist die unfassbare Dimension des Verbrechens, die dahinter steht. TOBIAS WINSTEL
JÜRGEN LILLTEICHER: Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 559 Seiten, 49 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Die Wiedergutmachung verschonte viele Profiteure
Wenn Geschichte vor Gericht steht wie in diesem Fall, werden nicht etwa juristische Details, sondern die Grundsätze von Schuld und Sühne verhandelt. Millionenfach hatten die Nationalsozialisten jüdisches Eigentum an sich gerissen und es, wie es im menschenverachtenden Amtsdeutsch hieß, „arisiert”. Nach 1945 sollte es darum gehen, wie dieser größte Besitzwechsel aller Zeiten wieder rückabgewickelt oder entschädigt werden konnte. Doch die Frage nach einer „gerechten” Wiedergutmachung hing stets in hohem Maße davon ab, wem man diese Frage stellte – dem Opfer, dem Täter, dem Nutznießer.
In seiner umfassenden Untersuchung der Restitution jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik lotet Jürgen Lillteicher, der Leiter des im vergangenen September eingeweihten Willy-Brandt-Hauses in Lübeck, genau diese Frage aus. Im Zentrum seiner wichtigen Studie steht die Frage, wie sich die westdeutsche Gesellschaft, die Behörden und insbesondere die Gerichte nach 1945 zur wirtschaftlichen Existenzvernichtung und Ausplünderung der deutschen Juden auf politischer und justitieller Ebene verhielten. Und er kommt zu einem ebenso nüchternen wie ernüchternden Fazit: „Die Art und Weise, wie die Rückerstattung durchgeführt wurde, ist ein Indiz für das schlechte Gewissen der westdeutschen Gesellschaft.”
Insbesondere in den beiden Nachkriegsjahrzehnten wurde das Wissen darüber verdrängt, wie schamlos sich viele „Volksgenossen” an der wirtschaftlichen Verfolgung der Juden beteiligt und ihren Wohlstand nach 1945 auf dem geraubten Besitz aufgebaut hatten. Zudem betrachteten weite Teile der Bevölkerung die von den Alliierten verordneten Restitutionsregelungen nicht als moralische oder wenigstens als rechtliche Verpflichtung, sondern als eine Form der Siegerjustiz. Auch waren antisemitische Vorbehalte nicht von einem auf den anderen Tag verschwunden. Gerade in den Wiedergutmachungsverfahren kamen sie immer wieder an die Oberfläche.
Allerdings wäre es zu einfach, alle zur Rückerstattung Verpflichteten über einen Kamm zu scheren und sie kollektiv als unbelehrbar darzustellen. Lillteicher verweist denn auch zu Recht auf die vielen Graustufen der Restitution. Denn mancher hatte tatsächlich unwissentlich jüdisches Eigentum aus zweiter Hand erworben. Das Gesetz unterschied aber nicht nach den Umständen der Übereignung. So mussten auch diese „gutgläubigen Erwerber”, wie sie im Rechtsjargon genannt wurden, nach 1945 ihren Besitz an die Alteigentümer zurückgeben.
Doch auch trotz dieser vereinzelten Härten gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass durch die Rückerstattung nach Kriegsende neues Unrecht im großen Stil geschehen wäre. Im Übrigen wussten sich die ehemaligen Profiteure zu wehren, und sie fanden gerade auch in der Politik Gehör, insbesondere im nationalliberalen Lager. So setzte sich beispielsweise der FDP-Abgeordnete Alfred Steger im Bundestag vehement für ihre Interessen ein: „Sie wurden geschädigt und sogar enteignet”, so Steger in einem offenen Brief vom März 1956, „sie sind diffamiert.” Wohlgemerkt, er sprach dabei nicht von den Opfern, sondern von den Profiteuren der „Arisierung”.
Hier liegt einer der aufschlussreichsten Teile des Buchs. Lillteicher kann zeigen, wie derartige Lobbyarbeit zum sogenannten Reparationsschädengesetz führte, das der Bundestag 1969 verabschiedete. Diese „Wiedergutmachung der Wiedergutmachung” sollte unbillige Härten ausgleichen, die durch die etwas schematische Rückerstattungs-Gesetzgebung entstanden waren. Und es ging hier nicht um Petitessen: Die Bundesregierung veranschlagte knapp zwei Milliarden Mark für dieses Gesetz, mit denen der Staat private Rückerstattungsverpflichtungen ausglich. Eine Sozialisierung von Schuld gewissermaßen.
All das lässt Lillteicher am Ende seiner Untersuchung zu dem Schluss kommen, einen kollektiven Lernprozess durch die Wiedergutmachung habe es bis Ende der sechziger Jahre nicht gegeben. Damit fällt er ein ebenso klares wie strittiges Urteil. Denn womöglich ist sein Anspruch an das, was die Rückerstattung bewirken konnte, zu hoch. Auch wenn die Restitutionsverfahren nicht die Herzen der Täter und Profiteure veränderten, sie verwandelte immerhin Unrecht in Recht und Opfer in Berechtigte. Was bei der Wiedergutmachung der NS-Verbrechen den Gedanken vom reinen Schadensersatz ohne moralischen Mehrwert wohl so unerträglich erscheinen lässt, ist die unfassbare Dimension des Verbrechens, die dahinter steht. TOBIAS WINSTEL
JÜRGEN LILLTEICHER: Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 559 Seiten, 49 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.01.2008Nur widerstrebend ertragen
Rückerstattung jüdischen Eigentums in der Bundesrepublik
In der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit hat in den Jahren seit 1945 die Wiedergutmachung des Unrechts eine zentrale Rolle gespielt. Unter dem Begriff Wiedergutmachung werden zwei unterschiedliche Komplexe subsumiert. Auf der einen Seite handelt es sich um die Entschädigung, das heißt um materielle Ausgleichszahlungen für gesundheitliche und berufliche Schäden, aber auch für Vermögensverluste, auf der anderen Seite um die Rückerstattung, also die Rückgabe von zwangsentzogenen und "zwangsverschleuderten" Vermögenswerten. Beide Komplexe wurden schon in der seinerzeitigen Gesetzgebung unterschiedlich gehandhabt, und die Geschichtsschreibung hat seither unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Während der Entschädigungskomplex Thema zahlreicher Darstellungen war und die Kenntnis hierüber vergleichsweise gut ist, liegen über die Rückerstattung bisher nur wenige Untersuchungen vor.
Vermögenswerte waren unter der Herrschaft des Nationalsozialismus vor allem der jüdischen Bevölkerung entzogen worden, und zwar sowohl vom Staat als auch von privaten Personen. Deren Umfang kann nur geschätzt werden. Dabei reichen die Zahlenangaben von zwölf Milliarden Reichsmark bis zu zirka 14 Milliarden Dollar. Die Rückerstattungssummen lagen weit darunter. So wird geschätzt, dass aus privater Hand jüdisches Eigentum in Höhe von 3,5 Milliarden DM, von staatlicher Seite in einer Größenordnung von etwa vier Millionen DM rückerstattet wurde.
Jürgen Lillteicher legt nun die erste umfassende Untersuchung des Komplexes Wiedergutmachung im Nachkriegsdeutschland vor und wertet dafür eine beeindruckende Fülle von Quellenmaterial aus - aus 15 Archiven, neben deutschen auch solche aus Israel und Großbritannien. Er verfolgt die Absicht, sowohl "die Politik als auch die juristische Praxis der Rückerstattung in den Jahren 1945 bis 1971" zu beleuchten und dabei einen ständigen Perspektivwechsel "zwischen den politischen und gesetzgeberischen Weichenstellungen" (Makroperspektive) und den Verhandlungen des Verfolgungsgeschehens vor Gericht (Mikroperspektive) vorzunehmen. Damit will er einen "tieferen Einblick in die Mentalitätsgeschichte Nachkriegsdeutschlands und der Bundesrepublik" gewinnen.
Als Ergebnis seiner Forschungsarbeit präsentiert Lillteicher eine westdeutsche Rückerstattungsgeschichte, die in unterschiedlichen Phasen ablief. Die erste Phase von 1947 bis 1952 sieht er durch ein alliiertes Zwangsdiktat gekennzeichnet, dem sich die Behörden in den Westzonen und in der Bundesrepublik zu entziehen trachteten. So entwickelten die deutschen Beamten gegenüber den "Ansprüchen der jüdischen Antragsteller ein Abwehrverhalten, das oftmals weit über das juristisch und fiskalisch erforderliche Maß" hinausgegangen sei. Die zweite Phase begann mit dem Überleitungsvertrag vom Mai 1952, der die Bundesregierung verpflichtete, die Rückerstattung jüdischen Eigentums fortzusetzen. Mit Rücksicht auf die Zahlungsfähigkeit der Bundesrepublik und ihrer Bereitschaft, einen Verteidigungsbeitrag zu leisten, wurde die Summe der zu leistenden Rückerstattung aber reduziert. Dem stimmten auch die jüdischen Vertreter in den Verhandlungen über die Wiedergutmachung zwischen der Bundesregierung und der Claims Conference zu, was freilich zu innerjüdischen Auseinandersetzungen führte.
In der dritten Phase, die mit der Verabschiedung des Rückerstattungsgesetzes vom Mai 1957 eingeleitet wurde und bis 1964 reichte, kam es zu einer Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten. Außerdem entwickelte der Gesetzgeber eine "Rechtsanspruchstheorie", die die Bundesrepublik zur Rückerstattung an die Anspruchsberechtigten verpflichtete. An der Gestaltung der Rechtspraxis änderte sich indessen wenig. Das Bundesfinanzministerium verfolgte weiterhin "einen strengen fiskalischen Kurs", und auch die Gerichte "arbeiteten gegen die Absicht des Gesetzgebers".
Die vierte Phase vom Beginn der sechziger Jahre bis 1974 war durch das Bemühen geprägt, private Personen, die Rückerstattungen geleistet hatten (sogenannte Rückerstattungsgeschädigte), durch den Staat zu entschädigen. Dies ist durch das Reparationsschädengesetz von 1970 geschehen, das die Staatshaftung nun auch auf die privaten "Arisierungen" ausdehnte. Lillteicher diagnostiziert vor diesem Hintergrund einen "restriktiven Umgang mit den Ansprüchen der Verfolgten einerseits" und eine "Großzügigkeit gegenüber den Rückerstattungsverpflichtungen und Rückerstattungsschäden privater Nutznießer andererseits".
Das Gesamturteil Lillteichers über die Rückerstattung fällt kritisch aus. So moniert er, dass die Westdeutschen die Rückerstattung immer als alliierten Oktroi empfunden und sie ohne tatsächliche Überzeugung nur widerstrebend und mit Abstrichen umgesetzt hätten. Zu keinem Zeitpunkt hätte die Mehrheit der Westdeutschen eine Verantwortung für Privatpersonen für die Enteignungen im "Dritten Reich" anerkannt, sondern diese allein Hitler beziehungsweise dem nationalsozialistischen Staat zugeschrieben. In dieser Verweigerungshaltung gegenüber einer angemessenen Interpretation der NS-Zeit sieht Lillteicher ein gravierendes Manko. Am Ende steht daher das Verdikt, dass die Rückerstattung als Beispiel dafür anzusehen sei, wie die Frage "nach der Rolle der deutschen Volksgemeinschaft bei der Verfolgung und Vernichtung der deutschen und europäischen Juden" umgangen worden sei.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob es sinnvoll ist, das Urteil über die Rückerstattung letztlich unter diesem Blickwinkel zu fällen. Rückerstattungen sind nach Systemwechseln - das zeigen auch die Vorgänge in den ehemals sozialistischen Staaten bis heute - ein ganz besonders heikles Problem. Denn hierbei geht es um die Lösung tiefgreifender gesellschaftlicher Konflikte, die noch dadurch aufgeladen werden, dass sie mit der Übertragung beziehungsweise Rückübertragung meist beträchtlicher Vermögenswerte verbunden sind. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen kann sich das Ergebnis des Rückerstattungsprozesses in den ersten Nachkriegsjahren in Westdeutschland - trotz aller Mängel, die Lillteicher überzeugend herausgearbeitet hat - durchaus sehen lassen.
UDO WENGST
Jürgen Lillteicher: Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 559 S., 49,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rückerstattung jüdischen Eigentums in der Bundesrepublik
In der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit hat in den Jahren seit 1945 die Wiedergutmachung des Unrechts eine zentrale Rolle gespielt. Unter dem Begriff Wiedergutmachung werden zwei unterschiedliche Komplexe subsumiert. Auf der einen Seite handelt es sich um die Entschädigung, das heißt um materielle Ausgleichszahlungen für gesundheitliche und berufliche Schäden, aber auch für Vermögensverluste, auf der anderen Seite um die Rückerstattung, also die Rückgabe von zwangsentzogenen und "zwangsverschleuderten" Vermögenswerten. Beide Komplexe wurden schon in der seinerzeitigen Gesetzgebung unterschiedlich gehandhabt, und die Geschichtsschreibung hat seither unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Während der Entschädigungskomplex Thema zahlreicher Darstellungen war und die Kenntnis hierüber vergleichsweise gut ist, liegen über die Rückerstattung bisher nur wenige Untersuchungen vor.
Vermögenswerte waren unter der Herrschaft des Nationalsozialismus vor allem der jüdischen Bevölkerung entzogen worden, und zwar sowohl vom Staat als auch von privaten Personen. Deren Umfang kann nur geschätzt werden. Dabei reichen die Zahlenangaben von zwölf Milliarden Reichsmark bis zu zirka 14 Milliarden Dollar. Die Rückerstattungssummen lagen weit darunter. So wird geschätzt, dass aus privater Hand jüdisches Eigentum in Höhe von 3,5 Milliarden DM, von staatlicher Seite in einer Größenordnung von etwa vier Millionen DM rückerstattet wurde.
Jürgen Lillteicher legt nun die erste umfassende Untersuchung des Komplexes Wiedergutmachung im Nachkriegsdeutschland vor und wertet dafür eine beeindruckende Fülle von Quellenmaterial aus - aus 15 Archiven, neben deutschen auch solche aus Israel und Großbritannien. Er verfolgt die Absicht, sowohl "die Politik als auch die juristische Praxis der Rückerstattung in den Jahren 1945 bis 1971" zu beleuchten und dabei einen ständigen Perspektivwechsel "zwischen den politischen und gesetzgeberischen Weichenstellungen" (Makroperspektive) und den Verhandlungen des Verfolgungsgeschehens vor Gericht (Mikroperspektive) vorzunehmen. Damit will er einen "tieferen Einblick in die Mentalitätsgeschichte Nachkriegsdeutschlands und der Bundesrepublik" gewinnen.
Als Ergebnis seiner Forschungsarbeit präsentiert Lillteicher eine westdeutsche Rückerstattungsgeschichte, die in unterschiedlichen Phasen ablief. Die erste Phase von 1947 bis 1952 sieht er durch ein alliiertes Zwangsdiktat gekennzeichnet, dem sich die Behörden in den Westzonen und in der Bundesrepublik zu entziehen trachteten. So entwickelten die deutschen Beamten gegenüber den "Ansprüchen der jüdischen Antragsteller ein Abwehrverhalten, das oftmals weit über das juristisch und fiskalisch erforderliche Maß" hinausgegangen sei. Die zweite Phase begann mit dem Überleitungsvertrag vom Mai 1952, der die Bundesregierung verpflichtete, die Rückerstattung jüdischen Eigentums fortzusetzen. Mit Rücksicht auf die Zahlungsfähigkeit der Bundesrepublik und ihrer Bereitschaft, einen Verteidigungsbeitrag zu leisten, wurde die Summe der zu leistenden Rückerstattung aber reduziert. Dem stimmten auch die jüdischen Vertreter in den Verhandlungen über die Wiedergutmachung zwischen der Bundesregierung und der Claims Conference zu, was freilich zu innerjüdischen Auseinandersetzungen führte.
In der dritten Phase, die mit der Verabschiedung des Rückerstattungsgesetzes vom Mai 1957 eingeleitet wurde und bis 1964 reichte, kam es zu einer Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten. Außerdem entwickelte der Gesetzgeber eine "Rechtsanspruchstheorie", die die Bundesrepublik zur Rückerstattung an die Anspruchsberechtigten verpflichtete. An der Gestaltung der Rechtspraxis änderte sich indessen wenig. Das Bundesfinanzministerium verfolgte weiterhin "einen strengen fiskalischen Kurs", und auch die Gerichte "arbeiteten gegen die Absicht des Gesetzgebers".
Die vierte Phase vom Beginn der sechziger Jahre bis 1974 war durch das Bemühen geprägt, private Personen, die Rückerstattungen geleistet hatten (sogenannte Rückerstattungsgeschädigte), durch den Staat zu entschädigen. Dies ist durch das Reparationsschädengesetz von 1970 geschehen, das die Staatshaftung nun auch auf die privaten "Arisierungen" ausdehnte. Lillteicher diagnostiziert vor diesem Hintergrund einen "restriktiven Umgang mit den Ansprüchen der Verfolgten einerseits" und eine "Großzügigkeit gegenüber den Rückerstattungsverpflichtungen und Rückerstattungsschäden privater Nutznießer andererseits".
Das Gesamturteil Lillteichers über die Rückerstattung fällt kritisch aus. So moniert er, dass die Westdeutschen die Rückerstattung immer als alliierten Oktroi empfunden und sie ohne tatsächliche Überzeugung nur widerstrebend und mit Abstrichen umgesetzt hätten. Zu keinem Zeitpunkt hätte die Mehrheit der Westdeutschen eine Verantwortung für Privatpersonen für die Enteignungen im "Dritten Reich" anerkannt, sondern diese allein Hitler beziehungsweise dem nationalsozialistischen Staat zugeschrieben. In dieser Verweigerungshaltung gegenüber einer angemessenen Interpretation der NS-Zeit sieht Lillteicher ein gravierendes Manko. Am Ende steht daher das Verdikt, dass die Rückerstattung als Beispiel dafür anzusehen sei, wie die Frage "nach der Rolle der deutschen Volksgemeinschaft bei der Verfolgung und Vernichtung der deutschen und europäischen Juden" umgangen worden sei.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob es sinnvoll ist, das Urteil über die Rückerstattung letztlich unter diesem Blickwinkel zu fällen. Rückerstattungen sind nach Systemwechseln - das zeigen auch die Vorgänge in den ehemals sozialistischen Staaten bis heute - ein ganz besonders heikles Problem. Denn hierbei geht es um die Lösung tiefgreifender gesellschaftlicher Konflikte, die noch dadurch aufgeladen werden, dass sie mit der Übertragung beziehungsweise Rückübertragung meist beträchtlicher Vermögenswerte verbunden sind. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen kann sich das Ergebnis des Rückerstattungsprozesses in den ersten Nachkriegsjahren in Westdeutschland - trotz aller Mängel, die Lillteicher überzeugend herausgearbeitet hat - durchaus sehen lassen.
UDO WENGST
Jürgen Lillteicher: Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 559 S., 49,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Tobias Winstel begrüßt diese Studie über die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik, die Jürgen Lillteicher vorgelegt hat. Im Mittelpunkt der umfangreichen Untersuchung sieht er die Frage nach dem Umgang der westdeutschen Gesellschaft, Behörden und Gerichte nach 1945 mit der Enteignung und Ausplünderung der Juden. Deutlich wird für ihn die Verdrängung des Wissens um schamlose Bereicherungen sowie die Ablehnung der von den Alliierten verordneten Restitutionsregelungen. Winstel lobt Lillteichers differenzierte Betrachtung der verschiedenen "Graustufen" der Restitution. Besonders instruktiv findet er den Teil des Buchs, der sich damit befasst, wie sich viele Profiteure gegen die Rückerstattung wehrten und schließlich über Lobbyarbeit erreichten, dass 1969 das sogenannte Reparationsschädengesetz verabschiedet wurde, das auf die "Wiedergutmachung der Wiedergutmachung" zielte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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