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Häuser kann man abtragen und neu bauen, Erinnerungen nicht
Jan wohnt in der Einfamilienhaussiedlung am Stadtrand. Das Krankenhaus schließt, wo Schule und Sportplatz waren, ist jetzt ein Supermarkt. Zu den Ruinen der DDR gesellt sich der Leerstand der Gegenwart. Eines Tages wird Jan mit der Frage nach seiner Mutter konfrontiert: Welche Beziehungen hatte Jans Mutter zu DDR-Zeiten? Und was hat das mit einem verschwundenen Gemälde von Georg Baselitz zu tun? Die Familien von Jan und Baselitz haben scheinbar nichts miteinander gemein und sind doch verknüpft. Überall Menschen, die nirgends so…mehr

Produktbeschreibung
Häuser kann man abtragen und neu bauen, Erinnerungen nicht

Jan wohnt in der Einfamilienhaussiedlung am Stadtrand. Das Krankenhaus schließt, wo Schule und Sportplatz waren, ist jetzt ein Supermarkt. Zu den Ruinen der DDR gesellt sich der Leerstand der Gegenwart. Eines Tages wird Jan mit der Frage nach seiner Mutter konfrontiert: Welche Beziehungen hatte Jans Mutter zu DDR-Zeiten? Und was hat das mit einem verschwundenen Gemälde von Georg Baselitz zu tun? Die Familien von Jan und Baselitz haben scheinbar nichts miteinander gemein und sind doch verknüpft. Überall Menschen, die nirgends so recht dazugehören, die das Alte verloren haben und zum Neuen keinen Zugang finden, die in einem luftleeren Raum zwischen Gegenwart und Vergangenheit schweben, Raumfahrer sind. Und scheinbar gehört Jan dazu.
Autorenporträt
Lukas Rietzschel, geboren 1994 in Räckelwitz in Ostsachsen, lebt in Görlitz. Sein Debütroman ¿Mit der Faust in die Welt schlagen¿ erschien 2018 und war ein Bestseller, der auch seinen Weg ins Theater fand und verfilmt wurde, ebenso der zweite Roman ¿Raumfahrer¿. Lukas Rietzschel wurde 2019 mit dem Gellert-Preis, 2022 mit dem Sächsischen Literaturpreis und 2023 mit dem Literaturpreis Text & Sprache ausgezeichnet. 
Rezensionen
Rietzschel ist derzeit eine der wichtigsten jungen Stimmen Ostdeutschlands. Kevin Hanschke Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220527

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Fridtjof Küchemanns Kritik zu Lukas Rietzschels zweitem Roman ist eher zwischen den Zeilen zu entnehmen, dass er das Buch mit Gewinn gelesen hat. Im Wesentlichen resümiert der Kritiker die Geschichte um Jan, der, im Krankenhaus arbeitend, auf Thorsten, Sohn von Georg Baselitz' Bruder Günter Kern trifft und mit jenem anhand von Briefen und Dokumenten auf das Leben der ungleichen Brüder zurückblickt. Im Roman folgt Günter seinem Bruder Georg nicht in den Westen und stirbt im Jahr der Wiedervereinigung bei einem Autounfall. Der wirkliche Günter Kern lebt noch und stellte Rietzschel Briefe und Akten für den Roman zur Verfügung, informiert Küchemann, der durchaus bewundert, wie gelungen der Autor hier Fakt und Fiktion verschmelzen lässt. Die Gegenüberstellung von Ost- und Westbiografien über die Jahrzehnte findet der Rezensent bewegend.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.08.2021

Stillgelegtes Land
Lukas Rietzschels Roman „Raumfahrer“ erzählt von der Lausitz, Heimatliebe und Georg Baselitz
Raumfahrer befinden sich in einem Schwebezustand, in einer Zwischenwelt. Den Bodenkontakt haben sie verloren, während die Erde sich unter ihnen weiterdreht. Für den 1994 in Räckelwitz bei Kamenz geborenen Lukas Rietzschel ist diese abgelöste Position symptomatisch für den deutschen Osten und deshalb auch titelgebend für seinen zweiten Roman. Wie schon in seinem viel beachteten Debüt „Mit der Faust in die Welt schlagen“ von 2018 erkundet er darin seine Heimat, die sächsische Oberlausitz, in ihrer postsozialistischen Nachwendeverlorenheit.
Als Raumfahrer bezeichnet der Protagonist Jan seine Eltern, die er wie mit dem Fernglas betrachtet. Jan hat einen Job als Hilfskraft im städtischen Krankenhaus von Kamenz, das kurz vor der Schließung steht. Alles in der Gegend wird geschlossen oder ist es schon längst, wird in Einzelteile zerlegt wie die Plattenbauten oder dem Zerfall überlassen wie der alte Güterbahnhof. Die Mutter hat sich zu Tode gesoffen, der Vater war bis zur Frühpensionierung der letzte Fischer und Karpfenzüchter der DDR, der seine Arbeit nach der Wende nicht sofort, sondern erst ein bisschen später verlor.
Jan selbst wurde im Jahr 1989 geboren, steht also exemplarisch für die Generation der Nachgeborenen der DDR, die nun, 30 Jahre später, das Wort ergreifen. Matthias Jüglers eben erst erschienener Roman „Die Verlassenen“, der in Halle spielt, geht in eine ganz ähnliche Richtung wie Rietzschels „Raumfahrer“. Diese Generation der „Verlassenen“ oder der „Raumfahrer“ hat mit dem Schweigen ihrer Eltern und der Diskurshoheit des Westens über die DDR-Geschichte gleichermaßen zu kämpfen und droht dazwischen verloren zu gehen.
Es gibt zwei westdeutsche Narrative über den Osten, lässt Lukas Rietzschel seinen Protagonisten Jan sagen. Das eine handelt von der Stasi und betrachtet die einstigen DDR-Bürger als Höhlenmenschen, die entweder Täter oder Opfer gewesen sind. Das zweite beschreibt die ostdeutsche Gegenwart zwischen Arbeitslosigkeit, Frustration und Rechtsextremismus. Rietzschel nimmt beide Narrative auf, setzt ihnen also nicht etwa eine ganz andere Sichtweise entgegen, sondern macht sie sich zu eigen. Mit „Raumfahrer“ hat er einen Stasiroman und einen Roman über ein abgewickeltes, stillgestelltes Land geschrieben. Aber er spricht darüber als einer, der selbst dazugehört, und fügt ein drittes Motiv hinzu: Heimatliebe mit einem genauen, verstehenden Blick für die Kargheit der Lausitz und deren verschlossene Bewohner.
Für diesen Blick hat Rietzschel einen prominenten Vertreter gefunden: den Künstler Georg Baselitz, der unter dem Namen Hans-Georg Kern in Deutschbaselitz bei Kamenz geboren wurde. Seinen an die Herkunft erinnernden Künstlernamen hat er gewählt, nachdem er 1957 in den Westen ging. Die schönsten Abschnitte in Rietzschels Roman befassen sich mit Baselitz-Bildern, auf denen die Kindheitslandschaft sichtbar wird, die niedrigen Apfelbäume zum Beispiel, „die vor den Dreiseitenhöfen standen und deren Wurzeln sich so sehr im sandigen Boden zu halten suchten, dass der ganze Stamm wie verkrampft wirkte. Eine einzige zugreifende Faust rheumatischer Finger. Schief und krumm standen sie da, aber kein Wind hatte sie so geformt. Eher der Irrglaube an die eigene Kraft, noch einen Ast und noch einen Apfel ausbilden zu können, wodurch jedoch der ganze Baum in Schieflage geriet.“
Auch die von Baselitz auf den Kopf gestellten Motive, die Brüchigkeit seiner Figuren, die Risse in den Farbflächen, die gedämpften, eher erdigen Farbtöne dienen Rietzschel als stilistische Vorlage. Ähnlich zerklüftet und in sich brüchig gestaltet er seinen Roman, sodass auch in seiner Textur zwischen den einzelnen Passagen die nackte Leinwand sichtbar zu werden scheint.
Die zentrale Figur, die die verschiedenen Handlungsstränge zusammenhält, ist Günter Kern, Baselitz’ jüngerer Bruder, der es nicht mehr in den Westen geschafft hat und der, wie sich herausstellte, jahrelang von der Stasi überwacht wurde. Die Briefe, die die beiden Brüder sich schrieben, wurden abgefangen und nicht zugestellt, sodass jeder dachte, der andere interessiere sich nicht mehr für ihn. Günter Kern hat im Roman seinen Klarnamen behalten, obwohl aus ihm eine Romanfigur geworden ist.
Rietzschel dankt ihm am Ende des Buches für seine Mitarbeit und Souveränität im Umgang mit künstlerischer Freiheit. Kern übergab ihm eines Tages eine Schachtel mit Materialien, auf deren Grundlage der Roman entstand. Er kommt der aus den Akten rekonstruierbaren Wirklichkeit dabei offenbar so nahe, dass Rietzschel in einem Vorsatz den fiktiven Charakter des Werks extra betont. Der Veröffentlichung ging zudem eine gründliche juristische Prüfung voraus.
Im Roman hat Günter Kern einen Sohn, der in seiner Kindheit einen Autounfall mit Fahrerflucht nur knapp überlebte und seither im Rollstuhl sitzt. Jetzt ist er ein verhärmter alter Mann, der zur Physiotherapie ins Krankenhaus kommt und mit Jan auf eine geheimnisvolle Weise verbunden zu sein scheint. Von ihm, „dem Alten“ im Rollstuhl, bekommt Jan jenen Schuhkarton mit Briefen und Materialien, den Rietzschel tatsächlich von Günter Kern erhalten hat. Nicht alle Rätsel werden gelöst, nicht alle Geheimnisse gelüftet. Es gehört zu Rietzschels sparsamer Erzählweise, vieles nur anzudeuten und die Einzelheiten hart nebeneinander stehen zu lassen. Er schreibt in kurzen, stakkatohaft hingetupften Sätzen. Das macht den Reiz dieses spröden Romans aus, der seine Leser eher abstoßen als anziehen zu wollen scheint. Auch Nebenaspekte wie die Liebesgeschichte zwischen Jan und der Nachtschwester Karolina bleiben nur angedeutet, Nuancen, ein paar Farbstriche, nicht mehr.
Und doch setzen sich Jans Familiengeschichte und die Geschichte der Brüder Kern schließlich zu einem bedrohlichen, flirrenden Bild zusammen, auf dem die Figuren tatsächlich auf dem Kopf zu stehen scheinen, so sehr gerät das Bild der Vergangenheit aus den Fugen. Am Ende ist Jan nicht mehr der bloße Beobachter, der er zu sein glaubte, sondern einer, der dazugehört, selber so ein Raumfahrer.
Das gilt womöglich sogar für die Helden auf den Bildern von Georg Baselitz, denn im Weltall spielt es keine Rolle, wo oben und wo unten ist. So entsteht etwas Träumerisches, Unzeitgemäßes. Geschichten vom äußersten Rand des Landes.
JÖRG MAGENAU
Lukas Rietzschel:
Raumfahrer. Roman.
dtv, München 2021,
288 Seiten, 22 Euro.
Offene Landschaft, verschlossene Bewohner: Lukas Rietzschels Romane erzählen in karger Sprache von der Lausitz.
Foto: imago images/photothek
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