"Eines der schönsten Bücher über Beethoven." René Aguigah, Das Blaue Sofa
Ludwig van Beethovens neun Sinfonien sind Meilensteine der Musikgeschichte: Nie zuvor hat reine Instrumentalmusik einen so vielschichtigen, klanggewaltigen Kosmos erschaffen.
Karl-Heinz Ott lädt uns ein auf eine literarisch-philosophisch inspirierte Reise, spürt der Wirkung der Sinfonien durch die Jahrhunderte nach, erzählt von dem Rausch, in den sie uns versetzen, und fragt: Warum entfaltet diese Musik nach wie vor einen solchen Sog? Für Kenner wie Einsteiger gleichermaßen ein Gewinn.
Ludwig van Beethovens neun Sinfonien sind Meilensteine der Musikgeschichte: Nie zuvor hat reine Instrumentalmusik einen so vielschichtigen, klanggewaltigen Kosmos erschaffen.
Karl-Heinz Ott lädt uns ein auf eine literarisch-philosophisch inspirierte Reise, spürt der Wirkung der Sinfonien durch die Jahrhunderte nach, erzählt von dem Rausch, in den sie uns versetzen, und fragt: Warum entfaltet diese Musik nach wie vor einen solchen Sog? Für Kenner wie Einsteiger gleichermaßen ein Gewinn.
Da wackelt wahrlich das Haus
Es tobt der Koloss in erhabenstem Lärm: Karl-Heinz Ott beschwört die Musik Beethovens. Kenner wird er damit zwar kaum in Bann schlagen, doch Liebhabern bietet er einige Anregungen.
Noch vor wenigen Jahrzehnten bestand der Musikunterricht in manchen Schulen darin, große Werke der Musikgeschichte anzuhören und die eigenen Gefühle in Adjektiven notieren zu müssen: Emotionsprotokolle als Reflexe des Unsagbaren. Die Schüler lernten, was Musik alles auslösen kann, mehr vielleicht noch, welche schiere Masse an Adjektiven auf Musik passt. Über die Musik selbst lernten sie nichts.
Karl-Heinz Otts neues Buch über Beethovens Sinfonien ist in großen Zügen ein solches Emotionsprotokoll, freilich nicht in schülerhaftem Stümper-Staccato, sondern in einfühlsamer, gebundener Prosa. Flankiert werden seine persönlichen Höranalysen dabei von zahlreichen literarischen und philosophischen Ausflügen in die Zeitgeschichte, im Versuch, diesen "Kosmos ohne Worte" mit selbigen zu kartieren. Dabei ist das Buch sprachmusikalisch fein komponiert: Einem sich an das Thema herantastenden Einleitungsteil und einer Variationsreihe zur Beethoven-Rezeption folgen neun Einzelkapitel, gegliedert jeweils in ein Hauptthema (zur Sinfonie) und ein Seitenthema (zum Kontext), die wiederum reprisenartig miteinander verflochten sind. Eine Coda im Sinne eines Fazits entfällt. Nach dem Schlusschor der neunten Sinfonie wird es still. Zu Recht: Nicht nur die Zeitgenossen fragten sich, was danach noch kommen soll.
Diese Stille wird hier besonders drastisch empfunden. Denn das Buch lässt es von Beginn an krachen, dass sich die Notenbalken biegen. Das übliche Überbietungs-Narrativ des "noch nicht" der ersten hin zum "düsteren Riesenbild" der neunten Sinfonie wird von einem Dauerfeuer potenzschwangeren Vokabulars sekundiert. Schon in der ersten Sinfonie donnert und bockt es allerorten, und "wie von der Tarantel gestochen zischt das Finale los". Die zweite Sinfonie hat "noch mehr Feuer" und sogar einen "Rülpser". Mit der Eroica befindet sich der Leser endgültig im sinfonischen Kriegsgebiet, in einem "Meer aus Klanggewalten", alles "donnernd", "kolossal", "ruppig". Sinfonik als emotionales Workout. Auch Sinfonie Nummer vier "läuft auf Hochtouren", es herrschen Raserei und gnadenloser Druck. Man möchte mittoben. Doch dann fällt "mit Gedonner der Vorhang". Spätestens hier wäre interessant zu wissen, welche Aufnahmen dem Verfasser für seine Eindrücke zur Verfügung standen. Die berühmte Schicksalssinfonie kann eigentlich kaum intensiver daherkommen, doch ihr "erhabenster Lärm" lässt - wie Goethe es gegenüber Mendelssohn ausdrückte - erneut das Haus wackeln.
Man rettet sich von dem "tobenden Koloss" auf "das reinste Idyll" der Pastorale, hier "donnern" und "brüllen" die Instrumente nur im vierten Satz. Sinfonie Nummer sieben befindet sich wieder "ungebrochen in Ekstase", und nach dem "schmissigen Intermezzo" der Achten bieten die "brüllenden Ausbrüche" der Neunten die letzte mögliche Pegelsteigerung auf. Spätestens hier ist das titanische Vokabular schon so erschöpft, dass immer größere Einschnitte zu Musikdeutungen erfolgen. Dabei mag irritieren, dass bei der letzten Sinfonie - wohl der Drastik des eigenen Narrativs geschuldet - ausgerechnet die feministische Perspektive Susan McLarys aufgerufen wird, die diese Sinfonie als komponierten männlichen Vergewaltigungsakt verstand. Was für eine beklemmende Endstation.
Weit anregender lesen sich die friedlichen Nebenkapitel, die Seitenthemen des Buches, in denen Literaten, Philosophen, Musiker und auch Musikwissenschaftler zu Wort kommen. Zwar führen auch hier manche Reflexionen ins Leere, denn nicht immer sind die Verfertigungen der Gedanken beim Schreiben es wert, gedruckt zu werden: "Rätsel über Rätsel. Aber auch das Rätselhafte möchte man nicht missen. Ohne Rätsel nichts Geheimnisvolles. Womit man wieder bei reiner Instrumentalmusik anlangt, die ihre Geheimnisse nicht preisgibt. Vorausgesetzt, sie besitzt überhaupt welche. Auch das weiß man nicht. Was die Rätsel keineswegs kleiner macht. Und schon ist man bei der Frage: "Wo kommen wir her, wo gehen wir hin?" Das klingt nach Duftstäbchen-Deutung bei Friedensgebäck und Kirsch-Kümmel-Tee.
Merkwürdig ist auch, dass von den Musikwissenschaftlern vor allem ältere Semester zitiert werden, deren Ideen - wie jene Arnold Scherings, die Sinfonien Beethovens mit heroischen Texten zu unterlegen - nicht selten einen unfreiwillig komischen Eindruck machen. Doch manches liest sich auch gewinnbringend, so der Abschnitt "Von der Kirche in den Konzertsaal": ein anregendes Tableau aus Nachdenklichem und Wissenswertem. Schön auch die Passage, was an Musik überhaupt wahr sein kann. Hier springt der Text von Kant zu Schopenhauer, dann zu Heidegger und Hegel, Bettina von Arnim und Roland Barthes, zurück zu E.T.A. Hoffmann, Novalis, Nietzsche, Adorno und Sigmund Freud. Gerade in dieser Entzeitlichung der Konzepte wird aber erkennbar, wie sehr das Thema die Gemüter beschäftigte. Andernorts führt die gelassene Plauderei zu Problemen, etwa wenn Wagners Invektiven gegen Mendelssohn nicht klar antisemitisch etikettiert sind, sondern für sich stehen bleiben.
Dem Buch ist kein intellektuelles Konzept zu eigen, kein neuer Blick auf Altbekanntes. Man befindet sich stattdessen auf einer literarischen Reise im arabesken Plaudertonfall gelehrter Belesenheit, mit einer Tendenz ins Grobe. So stellt sich die Frage, an wen sich das Buch richtet. Sicher nicht an Musikwissenschaftler, die die fehlenden Zitathinweise, den veralteten Forschungsstand, die Klischee-Dichte oder auch die unscharfen Analysen bemängeln müssen. Denn trotz der Notenbeispiele, die ein Nachlesen der Themen erlauben, bleibt der Bezug zur Musik rein assoziativer Natur.
Auch ist wohl weniger der Kenner denn der Liebhaber der Musik angesprochen. Vielleicht jemand, der sich vor dem Konzertbesuch in diesem überlangen Programmheft einlesen und erinnern will? Durchs Foyer schlendernd kann man an diesem oder jenem intellektuellen Aperçu nippen und sich animieren lassen. Da kommt es weniger auf die Vernunft, denn auf das Gefühl an. Auch das ist ein berechtigter Zugang zu Beethovens Musik. Ein Zugang, dem auch einmal - ganz schülerhaft - die vernünftigen Worte fehlen dürfen: "Rausch, Seligkeit, Bum, Schluss".
CHRISTIANE WIESENFELDT.
Karl-Heinz Ott: "Rausch und Stille". Beethovens Sinfonien.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019. 272 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es tobt der Koloss in erhabenstem Lärm: Karl-Heinz Ott beschwört die Musik Beethovens. Kenner wird er damit zwar kaum in Bann schlagen, doch Liebhabern bietet er einige Anregungen.
Noch vor wenigen Jahrzehnten bestand der Musikunterricht in manchen Schulen darin, große Werke der Musikgeschichte anzuhören und die eigenen Gefühle in Adjektiven notieren zu müssen: Emotionsprotokolle als Reflexe des Unsagbaren. Die Schüler lernten, was Musik alles auslösen kann, mehr vielleicht noch, welche schiere Masse an Adjektiven auf Musik passt. Über die Musik selbst lernten sie nichts.
Karl-Heinz Otts neues Buch über Beethovens Sinfonien ist in großen Zügen ein solches Emotionsprotokoll, freilich nicht in schülerhaftem Stümper-Staccato, sondern in einfühlsamer, gebundener Prosa. Flankiert werden seine persönlichen Höranalysen dabei von zahlreichen literarischen und philosophischen Ausflügen in die Zeitgeschichte, im Versuch, diesen "Kosmos ohne Worte" mit selbigen zu kartieren. Dabei ist das Buch sprachmusikalisch fein komponiert: Einem sich an das Thema herantastenden Einleitungsteil und einer Variationsreihe zur Beethoven-Rezeption folgen neun Einzelkapitel, gegliedert jeweils in ein Hauptthema (zur Sinfonie) und ein Seitenthema (zum Kontext), die wiederum reprisenartig miteinander verflochten sind. Eine Coda im Sinne eines Fazits entfällt. Nach dem Schlusschor der neunten Sinfonie wird es still. Zu Recht: Nicht nur die Zeitgenossen fragten sich, was danach noch kommen soll.
Diese Stille wird hier besonders drastisch empfunden. Denn das Buch lässt es von Beginn an krachen, dass sich die Notenbalken biegen. Das übliche Überbietungs-Narrativ des "noch nicht" der ersten hin zum "düsteren Riesenbild" der neunten Sinfonie wird von einem Dauerfeuer potenzschwangeren Vokabulars sekundiert. Schon in der ersten Sinfonie donnert und bockt es allerorten, und "wie von der Tarantel gestochen zischt das Finale los". Die zweite Sinfonie hat "noch mehr Feuer" und sogar einen "Rülpser". Mit der Eroica befindet sich der Leser endgültig im sinfonischen Kriegsgebiet, in einem "Meer aus Klanggewalten", alles "donnernd", "kolossal", "ruppig". Sinfonik als emotionales Workout. Auch Sinfonie Nummer vier "läuft auf Hochtouren", es herrschen Raserei und gnadenloser Druck. Man möchte mittoben. Doch dann fällt "mit Gedonner der Vorhang". Spätestens hier wäre interessant zu wissen, welche Aufnahmen dem Verfasser für seine Eindrücke zur Verfügung standen. Die berühmte Schicksalssinfonie kann eigentlich kaum intensiver daherkommen, doch ihr "erhabenster Lärm" lässt - wie Goethe es gegenüber Mendelssohn ausdrückte - erneut das Haus wackeln.
Man rettet sich von dem "tobenden Koloss" auf "das reinste Idyll" der Pastorale, hier "donnern" und "brüllen" die Instrumente nur im vierten Satz. Sinfonie Nummer sieben befindet sich wieder "ungebrochen in Ekstase", und nach dem "schmissigen Intermezzo" der Achten bieten die "brüllenden Ausbrüche" der Neunten die letzte mögliche Pegelsteigerung auf. Spätestens hier ist das titanische Vokabular schon so erschöpft, dass immer größere Einschnitte zu Musikdeutungen erfolgen. Dabei mag irritieren, dass bei der letzten Sinfonie - wohl der Drastik des eigenen Narrativs geschuldet - ausgerechnet die feministische Perspektive Susan McLarys aufgerufen wird, die diese Sinfonie als komponierten männlichen Vergewaltigungsakt verstand. Was für eine beklemmende Endstation.
Weit anregender lesen sich die friedlichen Nebenkapitel, die Seitenthemen des Buches, in denen Literaten, Philosophen, Musiker und auch Musikwissenschaftler zu Wort kommen. Zwar führen auch hier manche Reflexionen ins Leere, denn nicht immer sind die Verfertigungen der Gedanken beim Schreiben es wert, gedruckt zu werden: "Rätsel über Rätsel. Aber auch das Rätselhafte möchte man nicht missen. Ohne Rätsel nichts Geheimnisvolles. Womit man wieder bei reiner Instrumentalmusik anlangt, die ihre Geheimnisse nicht preisgibt. Vorausgesetzt, sie besitzt überhaupt welche. Auch das weiß man nicht. Was die Rätsel keineswegs kleiner macht. Und schon ist man bei der Frage: "Wo kommen wir her, wo gehen wir hin?" Das klingt nach Duftstäbchen-Deutung bei Friedensgebäck und Kirsch-Kümmel-Tee.
Merkwürdig ist auch, dass von den Musikwissenschaftlern vor allem ältere Semester zitiert werden, deren Ideen - wie jene Arnold Scherings, die Sinfonien Beethovens mit heroischen Texten zu unterlegen - nicht selten einen unfreiwillig komischen Eindruck machen. Doch manches liest sich auch gewinnbringend, so der Abschnitt "Von der Kirche in den Konzertsaal": ein anregendes Tableau aus Nachdenklichem und Wissenswertem. Schön auch die Passage, was an Musik überhaupt wahr sein kann. Hier springt der Text von Kant zu Schopenhauer, dann zu Heidegger und Hegel, Bettina von Arnim und Roland Barthes, zurück zu E.T.A. Hoffmann, Novalis, Nietzsche, Adorno und Sigmund Freud. Gerade in dieser Entzeitlichung der Konzepte wird aber erkennbar, wie sehr das Thema die Gemüter beschäftigte. Andernorts führt die gelassene Plauderei zu Problemen, etwa wenn Wagners Invektiven gegen Mendelssohn nicht klar antisemitisch etikettiert sind, sondern für sich stehen bleiben.
Dem Buch ist kein intellektuelles Konzept zu eigen, kein neuer Blick auf Altbekanntes. Man befindet sich stattdessen auf einer literarischen Reise im arabesken Plaudertonfall gelehrter Belesenheit, mit einer Tendenz ins Grobe. So stellt sich die Frage, an wen sich das Buch richtet. Sicher nicht an Musikwissenschaftler, die die fehlenden Zitathinweise, den veralteten Forschungsstand, die Klischee-Dichte oder auch die unscharfen Analysen bemängeln müssen. Denn trotz der Notenbeispiele, die ein Nachlesen der Themen erlauben, bleibt der Bezug zur Musik rein assoziativer Natur.
Auch ist wohl weniger der Kenner denn der Liebhaber der Musik angesprochen. Vielleicht jemand, der sich vor dem Konzertbesuch in diesem überlangen Programmheft einlesen und erinnern will? Durchs Foyer schlendernd kann man an diesem oder jenem intellektuellen Aperçu nippen und sich animieren lassen. Da kommt es weniger auf die Vernunft, denn auf das Gefühl an. Auch das ist ein berechtigter Zugang zu Beethovens Musik. Ein Zugang, dem auch einmal - ganz schülerhaft - die vernünftigen Worte fehlen dürfen: "Rausch, Seligkeit, Bum, Schluss".
CHRISTIANE WIESENFELDT.
Karl-Heinz Ott: "Rausch und Stille". Beethovens Sinfonien.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019. 272 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heiterer Rausch,
feine Stille
Karl-Heinz Ott führt durch
Beethovens sinfonische Welt
Es ist ein unterhaltsam geschriebenes Bildungsbüchlein, in dem es nicht nur um den Komponisten Ludwig van Beethoven und die detaillierte Beschreibung seiner neun Sinfonien geht, sondern um viel mehr. Karl-Heinz Ott, Autor von Romanen und Sachbüchern, zuletzt über Georg Friedrich Händel, fördert viel Wissenswertes zutage, manchmal auch recht lapidar hingeworfenes Schulwissen, dann wieder Tiefergehendes für Kenner und Neugierige. Dabei geriert er sich selten als Besserwisser, sondern ködert den Leser meist mit schlauem Geplauder über die historischen und philosophischen Hintergründe der tiefgreifenden Umbrüche in der Ästhetik der Wiener Klassik. Was den Autor von einem strengen Musikwissenschaftler unterscheidet, ist die publikumswirksame Mischung aus Anekdote und Sachunterricht, vor allem aber der publizistisch immer ergiebige Kurzschluss von Schöpfer und Werk.
Dabei wirft Ott die Angel manchmal sehr weit aus, sodass der Köder auch mal durchs Trübe gleitet. Dass man etwa den Beethoven-Darstellungen in Öl entnehmen soll, dass „Beethoven nicht die Freundlichkeit in Person gewesen“ sei, ist dummes Zeug. Die meisten Porträts wurde erst nach seinem Tod gemalt, und wohl in keinem Fall in dokumentarischer Absicht, sondern bereits umfassend kontaminiert mit sentimentalen Künstler-Klischees. Beethoven war nicht im Servicebereich tätig, sondern auf dem Gebiet der Aufklärung und Aufrüttelung der Menschheit bei gleichzeitiger Verschönerung der Welt. Das kann nur gelingen, wenn man zur Menschheit eine gesunde Distanz behauptet.
Wie sehr man einem Künstler Gerechtigkeit und Menschlichkeit widerfahren lässt, wenn man sein Werk strikt von seiner Person trennt, zeigen die – leider nur lapidar hingeworfenen – Beispiele groben Missbrauchs der Musik Beethovens. Am schlimmsten hat es wohl die Neunte getroffen, von der im allgemeinen Bewusstsein oft nur noch das gesungene Chorende präsent ist. Bernstein dichtete es nach dem Mauerfall zum Freiheitsliedchen um, und bevor es Europahymne wurde, schmückte es auch schon als Nationalhymne den Apartheidstaat Rhodesien, musste dem ein oder anderen Popschlager auf die Sprünge helfen und auch sonst allerlei mit sich machen lassen, wovon ja immer auch ein bisschen auf den Komponisten abfärbt. Staatspräsident François Mitterrand, der große Esoteriker, ließ die „Ode an die Freude“ spielen, während er aufs Pantheon zuschritt, desgleichen Emmanuel Macron, dessen Weg über den Hof des Louvre führte, wo Mitterrand seine symbolübersättigte Glaspyramide hinpflanzen ließ.
Und natürlich auch der: Hitler ließ sich die Neunte, allerdings die komplette, zum Geburtstag vorspielen. Der Weg zum Führerkitsch war nicht weit, den der Musikwissenschaftler Arnold Schering in seiner hermeneutischen Aufladung der Fünften Symphonie auslebte. Das war selbst eingefleischten Nazis zuviel und man kann kaum glauben, dass er selber von dem überzeugt war, was er dem geneigten Publikum zu hören aufgab: Beethovens Fünfte sei das Bild eines Volkes, das „in kindlicher Demut zu Gott betet, dass er ihm einen Retter, einen Führer aus Schmach und Elend sende“. Für den beschwingten Einstieg in den zweiten Satz der Fünften hat er dafür sogar ein passendes Gebet gedichtet.
Was heute absurd anmutet, liegt dennoch im Rahmen dessen, was all jene öffentlichen und privaten Deuter jener Musik angetan haben und weiter antun, die textlos ist und damit schon für viele Zeitgenossen Beethovens inhaltsleer, bedeutungslos, schließlich sinnlos. Die Versuche, das vermeintliche Manko auszugleichen, beginnen mit der Entstehung der von Richard Wagner so genannten absoluten Musik. Ob als Parodien oder pathetische Hohlgebirge – es ist alles dabei, was man sich denken kann, und auch alles, worauf man nicht gekommen ist. Das Bedürfnis nach begrifflich fassbarem Sinn war groß, auch noch nach dem Tod Beethovens liefen Menschen aus Konzerten, in denen seine Musik gespielt wurde. Sie fühlten sich angegriffen, waren irritiert.
Ott bringt anschauliche Beispiele aus der Literatur, etwa eine Szene aus dem Roman „Howards End“, auf welch’ unterschiedliche Arten man Musik erfahren kann. Auch die Antagonismen zwischen Rameau und Rousseau sind hier wichtig, vor allem deren Fortsetzung bei Tolstoi. Auch in den Einzeldarstellungen der Sinfonien legt Ott großen Wert darauf, unterschiedliche Sichtweisen und Deutungen darzustellen. Die sind nicht alle für sich bemerkenswert, befördern aber die fröhliche dialektische Grundlaune enorm.
HELMUT MAURÓ
Karl-Heinz Ott: Rausch und Stille. Beethovens Sinfonien. Verlag Hoffman und Campe, Hamburg 2019. 285 Seiten, 24 Euro.
Distanz zur Menschheit
hilft beim Verschönern
der Welt
Die Darstellung verschiedener
Sichtweisen fördert die
dialektische Grundlaune
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
feine Stille
Karl-Heinz Ott führt durch
Beethovens sinfonische Welt
Es ist ein unterhaltsam geschriebenes Bildungsbüchlein, in dem es nicht nur um den Komponisten Ludwig van Beethoven und die detaillierte Beschreibung seiner neun Sinfonien geht, sondern um viel mehr. Karl-Heinz Ott, Autor von Romanen und Sachbüchern, zuletzt über Georg Friedrich Händel, fördert viel Wissenswertes zutage, manchmal auch recht lapidar hingeworfenes Schulwissen, dann wieder Tiefergehendes für Kenner und Neugierige. Dabei geriert er sich selten als Besserwisser, sondern ködert den Leser meist mit schlauem Geplauder über die historischen und philosophischen Hintergründe der tiefgreifenden Umbrüche in der Ästhetik der Wiener Klassik. Was den Autor von einem strengen Musikwissenschaftler unterscheidet, ist die publikumswirksame Mischung aus Anekdote und Sachunterricht, vor allem aber der publizistisch immer ergiebige Kurzschluss von Schöpfer und Werk.
Dabei wirft Ott die Angel manchmal sehr weit aus, sodass der Köder auch mal durchs Trübe gleitet. Dass man etwa den Beethoven-Darstellungen in Öl entnehmen soll, dass „Beethoven nicht die Freundlichkeit in Person gewesen“ sei, ist dummes Zeug. Die meisten Porträts wurde erst nach seinem Tod gemalt, und wohl in keinem Fall in dokumentarischer Absicht, sondern bereits umfassend kontaminiert mit sentimentalen Künstler-Klischees. Beethoven war nicht im Servicebereich tätig, sondern auf dem Gebiet der Aufklärung und Aufrüttelung der Menschheit bei gleichzeitiger Verschönerung der Welt. Das kann nur gelingen, wenn man zur Menschheit eine gesunde Distanz behauptet.
Wie sehr man einem Künstler Gerechtigkeit und Menschlichkeit widerfahren lässt, wenn man sein Werk strikt von seiner Person trennt, zeigen die – leider nur lapidar hingeworfenen – Beispiele groben Missbrauchs der Musik Beethovens. Am schlimmsten hat es wohl die Neunte getroffen, von der im allgemeinen Bewusstsein oft nur noch das gesungene Chorende präsent ist. Bernstein dichtete es nach dem Mauerfall zum Freiheitsliedchen um, und bevor es Europahymne wurde, schmückte es auch schon als Nationalhymne den Apartheidstaat Rhodesien, musste dem ein oder anderen Popschlager auf die Sprünge helfen und auch sonst allerlei mit sich machen lassen, wovon ja immer auch ein bisschen auf den Komponisten abfärbt. Staatspräsident François Mitterrand, der große Esoteriker, ließ die „Ode an die Freude“ spielen, während er aufs Pantheon zuschritt, desgleichen Emmanuel Macron, dessen Weg über den Hof des Louvre führte, wo Mitterrand seine symbolübersättigte Glaspyramide hinpflanzen ließ.
Und natürlich auch der: Hitler ließ sich die Neunte, allerdings die komplette, zum Geburtstag vorspielen. Der Weg zum Führerkitsch war nicht weit, den der Musikwissenschaftler Arnold Schering in seiner hermeneutischen Aufladung der Fünften Symphonie auslebte. Das war selbst eingefleischten Nazis zuviel und man kann kaum glauben, dass er selber von dem überzeugt war, was er dem geneigten Publikum zu hören aufgab: Beethovens Fünfte sei das Bild eines Volkes, das „in kindlicher Demut zu Gott betet, dass er ihm einen Retter, einen Führer aus Schmach und Elend sende“. Für den beschwingten Einstieg in den zweiten Satz der Fünften hat er dafür sogar ein passendes Gebet gedichtet.
Was heute absurd anmutet, liegt dennoch im Rahmen dessen, was all jene öffentlichen und privaten Deuter jener Musik angetan haben und weiter antun, die textlos ist und damit schon für viele Zeitgenossen Beethovens inhaltsleer, bedeutungslos, schließlich sinnlos. Die Versuche, das vermeintliche Manko auszugleichen, beginnen mit der Entstehung der von Richard Wagner so genannten absoluten Musik. Ob als Parodien oder pathetische Hohlgebirge – es ist alles dabei, was man sich denken kann, und auch alles, worauf man nicht gekommen ist. Das Bedürfnis nach begrifflich fassbarem Sinn war groß, auch noch nach dem Tod Beethovens liefen Menschen aus Konzerten, in denen seine Musik gespielt wurde. Sie fühlten sich angegriffen, waren irritiert.
Ott bringt anschauliche Beispiele aus der Literatur, etwa eine Szene aus dem Roman „Howards End“, auf welch’ unterschiedliche Arten man Musik erfahren kann. Auch die Antagonismen zwischen Rameau und Rousseau sind hier wichtig, vor allem deren Fortsetzung bei Tolstoi. Auch in den Einzeldarstellungen der Sinfonien legt Ott großen Wert darauf, unterschiedliche Sichtweisen und Deutungen darzustellen. Die sind nicht alle für sich bemerkenswert, befördern aber die fröhliche dialektische Grundlaune enorm.
HELMUT MAURÓ
Karl-Heinz Ott: Rausch und Stille. Beethovens Sinfonien. Verlag Hoffman und Campe, Hamburg 2019. 285 Seiten, 24 Euro.
Distanz zur Menschheit
hilft beim Verschönern
der Welt
Die Darstellung verschiedener
Sichtweisen fördert die
dialektische Grundlaune
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Eines der schönsten Bücher über Beethoven.« René Aguigah Das Blaue Sofa 20191018