Alain und Irene, beide vierzig und seit fünfzehn Jahren miteinander verheiratet, sind in der Mitte des Lebens angekommen. Es ist das Jahr 2004. Die Liebe haben sie hinter sich - jetzt beginnt »die vegetarische Zeit ihres Lebens«. Als eine gemeinsame nahe Freundin stirbt, reißen bei beiden alte Wunden auf - und die Erinnerung an einen Sommer an der französischen Atlantikküste, an dem ihre Jugend endgültig zu Ende war. Jetzt, mehr als zwanzig Jahre danach, begegnet Alain seiner großen Liebe Babette wieder. Und Irene verliebt sich schlagartig in einen blonden Dänen, der sich in der Oper neben sie setzt.
Was ist Glück? Später weiß man es.
Vollständig überarbeitete Neuausgabe
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Vollständig überarbeitete Neuausgabe
Ein Roman wie ein langes Liebesspiel [...] ein schalkhaftes Buch [...] Ein Buch, das sich Zeit für philosophische Gedanken nimmt. Esther Schneider Schweizer Radio und Fernsehen 20160905
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Schon mit den ersten Sätzen verfällt Rezensent Tilman Krause Arnold Stadlers neuem Roman "Rauschzeit". Grandios, wie der Autor am Beispiel des Paares Mausi und Alain, beide um die vierzig, biografische Prägungen, Entwicklungen, Sehnsüchte, Schmerzen, Träume und Traumata durchspielt und all das nach dem musikalischen Prinzip der "Durchführung" anordnet, lobt der Kritiker. Wie sich bei Stadler leuchtende Erinnerungen an vergangene "Rauschzeiten" mit der Trauer um Verluste und nicht gelebte Träume verknüpft, gefällt Krause gut. Dass sich der Autor darüber hinaus aber nicht in "nostalgischen Schalmeientönen" erschöpft, sondern auch gekonnt mit Humor, Drastik und Derbheit umzugehen weiß, macht den Kritiker restlos glücklich. Stadler erscheint ihm in diesem Roman wesentlich "heimatverbundener" als sonst, was für den Rezensenten aber nichts Schlechtes bedeutet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.09.2016Schwungrad der
Sehnsucht
Arnold Stadler beschwört die „Rauschzeit“
In der Sprache der Jäger ist die Rauschzeit jener Zyklus zwischen November und Januar, in dem das Schwarzwild paarungsbereit ist. Ein Zustand der sexuellen Höchstleistung also. In Arnold Stadlers neuem Roman ist es mit der Rauschzeit jedoch vorbei, und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Zum einen haben Alain und Irene (die nur Mausi genannt wird), seit fünfzehn Jahren verheiratet und beide vor Kurzem vierzig geworden, ihr Triebleben längst, wie es heißt, in den vegetarischen Modus umgestellt; zumindest, was den Umgang zwischen ihnen beiden betrifft.
Zum anderen ist soeben die beste gemeinsame Freundin aus alten Studientagen gestorben: Elida Elfrida Rauschzeit, genannt Elfi, ist auch gerade einmal vierzig Jahre alt geworden, gestorben möglicherweise durch eigene Hand oder aber auch an einer Leberzirrhose. Es wird ziemlich viel gesoffen in diesem Roman; das ist ein Rausch, der einfach zu haben ist. Allerdings hat Mausi vor nicht allzu langer Zeit ein Fotoalbum in der Wohnung der Berufsfotografin Elfi entdeckt, in dem Alain „mit seinem Schwanz in Elfis Kamera lächelt.“ Das irritiert sie dann schon.
„Rauschzeit“, 550 Seiten stark, lässt sich durchaus als Quersumme des bisherigen Stadler’schen Schaffens lesen. Die Grundmotive, die all seine Romane anschlagen, werden hier in einer großen sprachlichen Umwälzanlage mit einer Intensität durchgearbeitet, zu der tatsächlich nur dieser Autor imstande sein dürfte. Die Handlung, bei Stadler geradezu naturgemäß das Unwichtigste, spielt an zwei Junitagen im Jahr 2004. Während Mausi auf der Terrasse der gemeinsamen Berliner Wohnung liegt und dabei den Roman „P. S. I love you“ liest, befindet Alain sich auf einem Symposium in Köln. Sie sind beide Übersetzer von Beruf, Mausi und Alain. Mausi geht am Abend mit Justus und Inge, ebenfalls Übriggebliebene aus der Freiburger Studentenwohnheimzeit, in die Oper. Man hat ihr als Abendbegleitung einen jungen Dänen an die Seite gesetzt, in den Mausi sich rettungslos verguckt. Zur gleichen Zeit trifft Alain in Köln zufällig seine Kindheits- und Jugendliebe Babette wieder, die vor mehr als zwanzig Jahren bei einem gemeinsamen Urlaub in Arcachon zusammen mit Toby verschwunden war.
Da waren sie alle zum letzten Mal beieinander: Alain und Mausi, Justus und Inge, Babette und Toby. Und Elfi und Norbert. Norbert ist mittlerweile an Aids gestorben; vorher hat Elfi ihn noch schnell geheiratet, um den Schein zu wahren vor seiner erzkonservativen Familie. Ohne Sehnsucht geht nichts bei Stadler. Sie ist das Schwungrad, das seine Prosa dreht. Die frühen Achtzigerjahre sind es in diesem Fall, zu denen die Gedanken immer wieder zurückkehren. Geradezu refrainartig werden sie immer wieder besungen, mit scheinbar so leicht dahin geworfenen Sätzen, in denen die großen Geschichten stecken: „Die Zukunft war damals meine Sehnsucht, wie nun die Vergangenheit mein Heimweh ist.“ Oder: „Die Erinnerung ist ein Rückspiegelschmerz, ihr Ort heißt: Ich war einmal.“
„Was ist Glück?“, das ist die erste Frage, die „Rauschzeit“ stellt. Die Antwort lautet: „Nachher weiß man es.“ Das ist Arnold Stadlers Schreibantrieb. Denn die Frage stellen zu können bedeutet zwangsläufig, zuvor ein Leben gehabt zu haben, von dem erzählt werden kann – bei Alain geschieht dies in der ersten, bei Mausi in der dritten Person. Beide sind ganz normale Menschen, das ist es ja gerade. Mausi etwas träger, Alain etwas angespannter. Ein Mann im Joch von Ehe und Beruf. Eine moderne Variante der Martin Walser’schen Angestellten der Siebzigerjahre. Haben Alain und Mausi sich voneinander entfernt? Bestimmt. Lieben sie sich noch? Vielleicht.
Das Chaos ist auch in „Rauschzeit“ Strukturprinzip. So wie die Liebe oder das Glücksempfinden lässt sich für diesen Autor auch die Literatur nicht systematisieren. Wer einen echten Plot sucht, wird bei Stadler nicht fündig werden. Die Sackgasse ist bei ihm kein Irrweg, sondern eine von vielen möglichen Lebensbahnen. Mausi also in der Oper neben dem Dänen, Alain auf einer Bank am Rheinufer, sein Leben rekapitulierend, an Babette denkend. Und beide merken: Das geht also noch, das Blühen.
Man muss das schon alles aushalten und mitmachen wollen, die irren Abschweifungen, die Exkurse in Religion, Politik, Literatur, Popkultur und Sprachkritik. Alain, in Frankreich aufgewachsener Sohn einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters, ist mit einem leichten Tourette-Syndrom geschlagen. Er hat einen Reim- und Wortspielzwang. Der wiederum, befeuert von Alains Reflexionen über den Dichter Jean Paul, ist die Quelle einer Reihe von Neologismen und Ausdrucksideen, wie ebenfalls nur Stadler sie zu produzieren in der Lage ist, von der bereits bekannten „Schwarzwaldtannenschwermut“ bis hin zur „Ingwer-Orange-Fenchel-Stimme“, mit der Justus Mausi im Studentenwohnheim, freundlich gesagt, zu becircen versuchte (sexuelle Belästigung wäre wohl eher der richtige Ausdruck).
Wer sich in den „Rauschzeit“-Kosmos begibt, wird reich belohnt. In der vermeintlichen Leichtigkeit des philosophischen Plaudertons erreicht der Roman eine ungeheure emotionale Beschreibungsgenauigkeit. Den Zwischenzustand von schmerzhafter Erinnerung an die verlorenen „Days of sweet expectations and light dressed happiness“ am Cap Ferret und dem augenblickhaften Aufflackern eines Restbestands von schwärmerischer Potenz hält Stadler in großen erzählerischen Bögen fest. Wird Mausi ihren Dänen bekommen und Alain Babette? Wenigstens für einen Tag? Es ist nicht wichtig. Am Morgen von Elfis Beerdigung wacht Alain auf. „Mein Körper war nicht viel mehr als ein Prellbock meiner Einsamkeit. Möglicherweise mein Leben lang nie zur rechten Zeit glücklich. Das konnte ich spüren, mein Körper war mein Widerstand. Wahrscheinlich lebte ich noch. Mein Gesicht glich aber nun eher einer Minusfresse. Es war Leben im Konkavbereich gewesen, bis dahin, bis zu dieser Stelle.“
Auch Arnold Stadler ist ein Übersetzer wie Mausi und Alain. Er transportiert Biografien in seine Sprache, in seinen Gedankenraum. Erlösung kann er seinen Figuren nicht schenken. Aber zumindest die Gnade des ironisch-melancholischen Erzählens.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Arnold Stadler:
Rauschzeit. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt
am Main 2016.
548 Seiten, 26 Euro.
E-Book 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sehnsucht
Arnold Stadler beschwört die „Rauschzeit“
In der Sprache der Jäger ist die Rauschzeit jener Zyklus zwischen November und Januar, in dem das Schwarzwild paarungsbereit ist. Ein Zustand der sexuellen Höchstleistung also. In Arnold Stadlers neuem Roman ist es mit der Rauschzeit jedoch vorbei, und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Zum einen haben Alain und Irene (die nur Mausi genannt wird), seit fünfzehn Jahren verheiratet und beide vor Kurzem vierzig geworden, ihr Triebleben längst, wie es heißt, in den vegetarischen Modus umgestellt; zumindest, was den Umgang zwischen ihnen beiden betrifft.
Zum anderen ist soeben die beste gemeinsame Freundin aus alten Studientagen gestorben: Elida Elfrida Rauschzeit, genannt Elfi, ist auch gerade einmal vierzig Jahre alt geworden, gestorben möglicherweise durch eigene Hand oder aber auch an einer Leberzirrhose. Es wird ziemlich viel gesoffen in diesem Roman; das ist ein Rausch, der einfach zu haben ist. Allerdings hat Mausi vor nicht allzu langer Zeit ein Fotoalbum in der Wohnung der Berufsfotografin Elfi entdeckt, in dem Alain „mit seinem Schwanz in Elfis Kamera lächelt.“ Das irritiert sie dann schon.
„Rauschzeit“, 550 Seiten stark, lässt sich durchaus als Quersumme des bisherigen Stadler’schen Schaffens lesen. Die Grundmotive, die all seine Romane anschlagen, werden hier in einer großen sprachlichen Umwälzanlage mit einer Intensität durchgearbeitet, zu der tatsächlich nur dieser Autor imstande sein dürfte. Die Handlung, bei Stadler geradezu naturgemäß das Unwichtigste, spielt an zwei Junitagen im Jahr 2004. Während Mausi auf der Terrasse der gemeinsamen Berliner Wohnung liegt und dabei den Roman „P. S. I love you“ liest, befindet Alain sich auf einem Symposium in Köln. Sie sind beide Übersetzer von Beruf, Mausi und Alain. Mausi geht am Abend mit Justus und Inge, ebenfalls Übriggebliebene aus der Freiburger Studentenwohnheimzeit, in die Oper. Man hat ihr als Abendbegleitung einen jungen Dänen an die Seite gesetzt, in den Mausi sich rettungslos verguckt. Zur gleichen Zeit trifft Alain in Köln zufällig seine Kindheits- und Jugendliebe Babette wieder, die vor mehr als zwanzig Jahren bei einem gemeinsamen Urlaub in Arcachon zusammen mit Toby verschwunden war.
Da waren sie alle zum letzten Mal beieinander: Alain und Mausi, Justus und Inge, Babette und Toby. Und Elfi und Norbert. Norbert ist mittlerweile an Aids gestorben; vorher hat Elfi ihn noch schnell geheiratet, um den Schein zu wahren vor seiner erzkonservativen Familie. Ohne Sehnsucht geht nichts bei Stadler. Sie ist das Schwungrad, das seine Prosa dreht. Die frühen Achtzigerjahre sind es in diesem Fall, zu denen die Gedanken immer wieder zurückkehren. Geradezu refrainartig werden sie immer wieder besungen, mit scheinbar so leicht dahin geworfenen Sätzen, in denen die großen Geschichten stecken: „Die Zukunft war damals meine Sehnsucht, wie nun die Vergangenheit mein Heimweh ist.“ Oder: „Die Erinnerung ist ein Rückspiegelschmerz, ihr Ort heißt: Ich war einmal.“
„Was ist Glück?“, das ist die erste Frage, die „Rauschzeit“ stellt. Die Antwort lautet: „Nachher weiß man es.“ Das ist Arnold Stadlers Schreibantrieb. Denn die Frage stellen zu können bedeutet zwangsläufig, zuvor ein Leben gehabt zu haben, von dem erzählt werden kann – bei Alain geschieht dies in der ersten, bei Mausi in der dritten Person. Beide sind ganz normale Menschen, das ist es ja gerade. Mausi etwas träger, Alain etwas angespannter. Ein Mann im Joch von Ehe und Beruf. Eine moderne Variante der Martin Walser’schen Angestellten der Siebzigerjahre. Haben Alain und Mausi sich voneinander entfernt? Bestimmt. Lieben sie sich noch? Vielleicht.
Das Chaos ist auch in „Rauschzeit“ Strukturprinzip. So wie die Liebe oder das Glücksempfinden lässt sich für diesen Autor auch die Literatur nicht systematisieren. Wer einen echten Plot sucht, wird bei Stadler nicht fündig werden. Die Sackgasse ist bei ihm kein Irrweg, sondern eine von vielen möglichen Lebensbahnen. Mausi also in der Oper neben dem Dänen, Alain auf einer Bank am Rheinufer, sein Leben rekapitulierend, an Babette denkend. Und beide merken: Das geht also noch, das Blühen.
Man muss das schon alles aushalten und mitmachen wollen, die irren Abschweifungen, die Exkurse in Religion, Politik, Literatur, Popkultur und Sprachkritik. Alain, in Frankreich aufgewachsener Sohn einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters, ist mit einem leichten Tourette-Syndrom geschlagen. Er hat einen Reim- und Wortspielzwang. Der wiederum, befeuert von Alains Reflexionen über den Dichter Jean Paul, ist die Quelle einer Reihe von Neologismen und Ausdrucksideen, wie ebenfalls nur Stadler sie zu produzieren in der Lage ist, von der bereits bekannten „Schwarzwaldtannenschwermut“ bis hin zur „Ingwer-Orange-Fenchel-Stimme“, mit der Justus Mausi im Studentenwohnheim, freundlich gesagt, zu becircen versuchte (sexuelle Belästigung wäre wohl eher der richtige Ausdruck).
Wer sich in den „Rauschzeit“-Kosmos begibt, wird reich belohnt. In der vermeintlichen Leichtigkeit des philosophischen Plaudertons erreicht der Roman eine ungeheure emotionale Beschreibungsgenauigkeit. Den Zwischenzustand von schmerzhafter Erinnerung an die verlorenen „Days of sweet expectations and light dressed happiness“ am Cap Ferret und dem augenblickhaften Aufflackern eines Restbestands von schwärmerischer Potenz hält Stadler in großen erzählerischen Bögen fest. Wird Mausi ihren Dänen bekommen und Alain Babette? Wenigstens für einen Tag? Es ist nicht wichtig. Am Morgen von Elfis Beerdigung wacht Alain auf. „Mein Körper war nicht viel mehr als ein Prellbock meiner Einsamkeit. Möglicherweise mein Leben lang nie zur rechten Zeit glücklich. Das konnte ich spüren, mein Körper war mein Widerstand. Wahrscheinlich lebte ich noch. Mein Gesicht glich aber nun eher einer Minusfresse. Es war Leben im Konkavbereich gewesen, bis dahin, bis zu dieser Stelle.“
Auch Arnold Stadler ist ein Übersetzer wie Mausi und Alain. Er transportiert Biografien in seine Sprache, in seinen Gedankenraum. Erlösung kann er seinen Figuren nicht schenken. Aber zumindest die Gnade des ironisch-melancholischen Erzählens.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Arnold Stadler:
Rauschzeit. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt
am Main 2016.
548 Seiten, 26 Euro.
E-Book 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2016Bereit für jede Sehnsucht
Ein sanft schaukelnder Lebensgefühlsroman: In Arnold Stadlers "Rauschzeit" ist Redundanz das auffälligste Merkmal
Mausi, die eigentlich Irene heißt und seit fünfzehn Jahren verheiratet ist mit Alain, liegt ausgestreckt auf einem Bruno-Paul-Korbmöbel und raucht. "Bereit für jede Sehnsucht", empfängt sie den Leser, und diese Sehnsucht hat neuerdings einen Namen: Jesper. ein blonder Däne, quasi ein Pleonasmus von einem Mann, der Mausi während eines Besuchs der Tosca zugespielt wurde. Da sitzt sie also auf ihrer Schöneberger Dachterrassenlandschaft: zu allem bereit, aber erst mal nur theoretisch.
Mit Alain unterhält Mausi eine liebevolle, aber "vegetarische" Ehe und: "Auf den Tag genau vor einer Woche hatten sie ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert, was steuerlich nicht absetzbar war." Mausi, die als Literaturübersetzerin arbeitet, wovon aber nichts Genaueres im Roman bekanntgegeben wird, zeichnet sich vor allem durch eine Begabung aus: das Nichtstun so elegant zu praktizieren, dass sie nicht mal sinnfällig dazu rauchen muss, um es gewichtiger erscheinen zu lassen. Jetzt gilt das aber natürlich nicht. Denn Mausis Gefühle sind außer Rand und Band, und am Ende dieser Generationenscharteke wird sich Mausi in einen irren Sehnsuchtsrausch hineingesoffen haben - nämlich so, dass die Bruno-Paul-Liegemöbel noch mal so richtig wie beim product placement zur Geltung kommen und mit ihnen die Expertise des Autors.
Alain heißt die zweite Hauptfigur aus Arnold Stadlers "Rauschzeit", welche die kurze Paarungsspanne des Schwarzwilds bezeichnet, die Alain bereits hinter sich hat. Und dieser Mann von vierzig Jahren weilt auf einer Übersetzerkonferenz in Köln, wo er nichts ahnt von den Kapricen seiner Frau. Er selbst hat anderes zu denken. Seine Jugendliebe, die während eines Urlaubs mit der Clique aus Freiburger Studententagen auf Nimmerwiedersehen getürmt war, taucht auf der gleichen Konferenz auf und sagt: "Du bist grau geworden." Und weil es Liebe war, sofern die Liebe auch gelegentlich eine "blöde Kuh" ist, muss es wohl auch heute noch Liebe sein oder zumindest Sehnsucht nach der Liebe, wie man sie mit zwanzig empfunden hat. So gibt es also außer einem Vortrag zu Jean Paul auch in Köln jede Menge Gewarte, Gesehne und Geträume.
Fluchtpunkt sind zwei Sommertage des Jahres 2004 und der plötzliche Alkoholtod einer gemeinsamen Freundin, der zu Rückblicken einlädt. Stadler nimmt, mal aus Mausis, mal aus Alains Sicht, Fühlung mit der Vergangenheit auf. Urlaube in Arcachon, Baggerseen um Freiburg, Spielarten der freien Liebe, Sommer, Sehnsucht. Der schöne Norbert wird als eines der ersten Aidsopfer einen verfrühten Todesschatten über die unsterbliche Jugend werfen. Arrangements, Vegetarismus und schließlich Elfis Tod tun ein Übriges, um festzustellen, dass zwar die Jugend unsterblich ist, aber nicht der Mensch. Arnold Stadler variiert damit sein altes Thema: die Ergründung dessen, was die Liebe sei, wenn man sie als etwas immer schon Gewesenes oder noch zu Kommendes gezwungen wäre, auf den Punkt zu bringen.
Wer damit über das Vergehen der Zeit schreiben möchte, darf ihre Schleifenförmigkeit nicht scheuen. "Nur im Liebesroman war die Zeit aufgehoben, und alle durften sich ins Unglück stürzen." Bei Stadler gibt es keine allzu theatralischen Unglücke, sondern einfach nur das Leben, wie es in seinem Zusammenprall von Realität und Einbildung jeweils Gestalt annimmt. Daher hat Stadler das Gegenteil von einem Plot anzubieten: keine harten Brüche, keine Peripetien. Am Ende gibt es so etwas wie die Perspektive auf Sex. Mehr ist nicht. Und das ist nach Proust ein ziemlich heikles Geschäft geworden, wenn man sein Publikum nicht zu Tode langweilen will.
Wie ein Schiff auf wogender See fühlt sich der Leser dieses Lebensgefühlsromans. Sanft wird er hin- und hergeschaukelt, und irgendwann stellt er fest: Ihm ist ganz blümerant geworden von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Redundanz ist das dominierende Formschema. Motive werden aufgeworfen, durchgeführt, umspielt, variiert, verschiedenen Figuren in den Kopf gelegt. Sprache verselbständigt sich. Ein Satz dreht seine Runden: "Du bist grau geworden" oder "Ein Eilbrief für sie". So geht es dahin, bis man darauf kommt, dass die Redundanz selbst das Merkmal des von Stadler beschriebenen Menschenschlags sein könnte. Denn alle Figuren zeichnen sich durch eine brummkreiselnde Selbstbezüglichkeit aus. Da liegt man nun auf seiner Dachterrassenliegelandschaft und weiß auch nicht, wozu man auf der Welt ist. "Ich war nun eigentlich schon in einem Alter", schreibt Alain, "von dem die Menschen von einem wie mir annahmen, es sei für ihn leichter, einen Liebesroman zu schreiben, als geliebt zu werden." Kinder hat man keine in die Welt gesetzt. Man frequentiert die Oper, trinkt - auch generationentypisch - schweren Rotwein in gesundheitsbedenklichen Mengen und leidet stilvoll an unstillbaren Sehnsüchten.
Das Ganze kann man furchtbar öde finden, und doch trifft Stadler wohl ein Gefühl, mit dem sich viele, die in den frühen achtziger Jahren jung waren, identifizieren können. Mit vierzig haben seine Figuren ihre besten, will meinen: freiesten Momente schon hinter sich. Mit dem Erbe von Tante Mausi lässt sich sogar als Übersetzerpärchen ganz gut leben. Eigentlich wartet man darauf, dass die Liebe doch noch einmal vorbeischneien möge und nicht immer bloß der Tod, der in seiner Absolutheit ja irgendwie mit ihr verwandt ist. Und weil es jetzt ja doch ein Roman ist und kein Fahrtenbuch, kommt es auch dazu. "Dass die Liebe das Warten auf die Liebe war", ahnten wir bereits auf den ersten Seiten. Nun steht es da schwarz auf weiß. Über Goethes Mann von fünfzig Jahren spottete einst Hermann Hesse: "Von der Wiege bis zur Bahre / sind es fünfzig Jahre, / dann beginnt der Tod. / Man vertrottelt, man versauert, / man verwahrlost, man verbauert / und zum Teufel gehn die Haare. / Auch die Zähne gehen flöten, / und statt daß wir mit Entzücken / junge Mädchen an uns drücken, / lesen wir ein Buch von Goethen." Das wäre die andere, die pragmatischere Herangehensweise an die Midlife-Crisis des Bildungsbürgertums.
KATHARINA TEUTSCH
Arnold Stadler: "Rauschzeit". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 550 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein sanft schaukelnder Lebensgefühlsroman: In Arnold Stadlers "Rauschzeit" ist Redundanz das auffälligste Merkmal
Mausi, die eigentlich Irene heißt und seit fünfzehn Jahren verheiratet ist mit Alain, liegt ausgestreckt auf einem Bruno-Paul-Korbmöbel und raucht. "Bereit für jede Sehnsucht", empfängt sie den Leser, und diese Sehnsucht hat neuerdings einen Namen: Jesper. ein blonder Däne, quasi ein Pleonasmus von einem Mann, der Mausi während eines Besuchs der Tosca zugespielt wurde. Da sitzt sie also auf ihrer Schöneberger Dachterrassenlandschaft: zu allem bereit, aber erst mal nur theoretisch.
Mit Alain unterhält Mausi eine liebevolle, aber "vegetarische" Ehe und: "Auf den Tag genau vor einer Woche hatten sie ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert, was steuerlich nicht absetzbar war." Mausi, die als Literaturübersetzerin arbeitet, wovon aber nichts Genaueres im Roman bekanntgegeben wird, zeichnet sich vor allem durch eine Begabung aus: das Nichtstun so elegant zu praktizieren, dass sie nicht mal sinnfällig dazu rauchen muss, um es gewichtiger erscheinen zu lassen. Jetzt gilt das aber natürlich nicht. Denn Mausis Gefühle sind außer Rand und Band, und am Ende dieser Generationenscharteke wird sich Mausi in einen irren Sehnsuchtsrausch hineingesoffen haben - nämlich so, dass die Bruno-Paul-Liegemöbel noch mal so richtig wie beim product placement zur Geltung kommen und mit ihnen die Expertise des Autors.
Alain heißt die zweite Hauptfigur aus Arnold Stadlers "Rauschzeit", welche die kurze Paarungsspanne des Schwarzwilds bezeichnet, die Alain bereits hinter sich hat. Und dieser Mann von vierzig Jahren weilt auf einer Übersetzerkonferenz in Köln, wo er nichts ahnt von den Kapricen seiner Frau. Er selbst hat anderes zu denken. Seine Jugendliebe, die während eines Urlaubs mit der Clique aus Freiburger Studententagen auf Nimmerwiedersehen getürmt war, taucht auf der gleichen Konferenz auf und sagt: "Du bist grau geworden." Und weil es Liebe war, sofern die Liebe auch gelegentlich eine "blöde Kuh" ist, muss es wohl auch heute noch Liebe sein oder zumindest Sehnsucht nach der Liebe, wie man sie mit zwanzig empfunden hat. So gibt es also außer einem Vortrag zu Jean Paul auch in Köln jede Menge Gewarte, Gesehne und Geträume.
Fluchtpunkt sind zwei Sommertage des Jahres 2004 und der plötzliche Alkoholtod einer gemeinsamen Freundin, der zu Rückblicken einlädt. Stadler nimmt, mal aus Mausis, mal aus Alains Sicht, Fühlung mit der Vergangenheit auf. Urlaube in Arcachon, Baggerseen um Freiburg, Spielarten der freien Liebe, Sommer, Sehnsucht. Der schöne Norbert wird als eines der ersten Aidsopfer einen verfrühten Todesschatten über die unsterbliche Jugend werfen. Arrangements, Vegetarismus und schließlich Elfis Tod tun ein Übriges, um festzustellen, dass zwar die Jugend unsterblich ist, aber nicht der Mensch. Arnold Stadler variiert damit sein altes Thema: die Ergründung dessen, was die Liebe sei, wenn man sie als etwas immer schon Gewesenes oder noch zu Kommendes gezwungen wäre, auf den Punkt zu bringen.
Wer damit über das Vergehen der Zeit schreiben möchte, darf ihre Schleifenförmigkeit nicht scheuen. "Nur im Liebesroman war die Zeit aufgehoben, und alle durften sich ins Unglück stürzen." Bei Stadler gibt es keine allzu theatralischen Unglücke, sondern einfach nur das Leben, wie es in seinem Zusammenprall von Realität und Einbildung jeweils Gestalt annimmt. Daher hat Stadler das Gegenteil von einem Plot anzubieten: keine harten Brüche, keine Peripetien. Am Ende gibt es so etwas wie die Perspektive auf Sex. Mehr ist nicht. Und das ist nach Proust ein ziemlich heikles Geschäft geworden, wenn man sein Publikum nicht zu Tode langweilen will.
Wie ein Schiff auf wogender See fühlt sich der Leser dieses Lebensgefühlsromans. Sanft wird er hin- und hergeschaukelt, und irgendwann stellt er fest: Ihm ist ganz blümerant geworden von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Redundanz ist das dominierende Formschema. Motive werden aufgeworfen, durchgeführt, umspielt, variiert, verschiedenen Figuren in den Kopf gelegt. Sprache verselbständigt sich. Ein Satz dreht seine Runden: "Du bist grau geworden" oder "Ein Eilbrief für sie". So geht es dahin, bis man darauf kommt, dass die Redundanz selbst das Merkmal des von Stadler beschriebenen Menschenschlags sein könnte. Denn alle Figuren zeichnen sich durch eine brummkreiselnde Selbstbezüglichkeit aus. Da liegt man nun auf seiner Dachterrassenliegelandschaft und weiß auch nicht, wozu man auf der Welt ist. "Ich war nun eigentlich schon in einem Alter", schreibt Alain, "von dem die Menschen von einem wie mir annahmen, es sei für ihn leichter, einen Liebesroman zu schreiben, als geliebt zu werden." Kinder hat man keine in die Welt gesetzt. Man frequentiert die Oper, trinkt - auch generationentypisch - schweren Rotwein in gesundheitsbedenklichen Mengen und leidet stilvoll an unstillbaren Sehnsüchten.
Das Ganze kann man furchtbar öde finden, und doch trifft Stadler wohl ein Gefühl, mit dem sich viele, die in den frühen achtziger Jahren jung waren, identifizieren können. Mit vierzig haben seine Figuren ihre besten, will meinen: freiesten Momente schon hinter sich. Mit dem Erbe von Tante Mausi lässt sich sogar als Übersetzerpärchen ganz gut leben. Eigentlich wartet man darauf, dass die Liebe doch noch einmal vorbeischneien möge und nicht immer bloß der Tod, der in seiner Absolutheit ja irgendwie mit ihr verwandt ist. Und weil es jetzt ja doch ein Roman ist und kein Fahrtenbuch, kommt es auch dazu. "Dass die Liebe das Warten auf die Liebe war", ahnten wir bereits auf den ersten Seiten. Nun steht es da schwarz auf weiß. Über Goethes Mann von fünfzig Jahren spottete einst Hermann Hesse: "Von der Wiege bis zur Bahre / sind es fünfzig Jahre, / dann beginnt der Tod. / Man vertrottelt, man versauert, / man verwahrlost, man verbauert / und zum Teufel gehn die Haare. / Auch die Zähne gehen flöten, / und statt daß wir mit Entzücken / junge Mädchen an uns drücken, / lesen wir ein Buch von Goethen." Das wäre die andere, die pragmatischere Herangehensweise an die Midlife-Crisis des Bildungsbürgertums.
KATHARINA TEUTSCH
Arnold Stadler: "Rauschzeit". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 550 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main