An analysis by recently retired Supreme Court Justice Stephen Breyer that deconstructs the textualist philosophy of the current Supreme Court's supermajority and makes the case for a better way to interpret the Constitution.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2024Die Methode der Konservativen
Stephen Bryer nimmt eine Tendenz der Rechtsauslegung am Supreme Court ins Visier
Wenn Mrs. Breyer ihrem Mann zuruft, es sei keine Butter da, versteht er auch ohne weitere Erläuterung, dass sie nicht behauptet, es gebe in der ganzen Stadt keine Butter, sondern ihm mitteilt, was im heimischen Kühlschrank fehlt. Und wenn der Fahrkartenkontrolleur sich gegenüber der Biologielehrerin, die einen Weidenkorb mit zwanzig Schlangen bei sich hat, auf das Bahnreglement beruft, dem zufolge mitgeführte Tiere nicht nur in Körbe gesperrt werden müssen, sondern auch Fahrkarten für sie zu lösen sind, dann sollte er besser überlegen, was der Sinn und Zweck der Regel ist und wie mit dem Transport von Mücken umzugehen wäre.
Stephen Breyer, der vor zwei Jahren von seinem Amt als Richter des Obersten Gerichts der USA zurückgetreten ist und es damit Joe Biden ermöglicht hat, für die frei gewordene Stelle eine Nachfolgerin zu nominieren, erläutert in seinem jüngsten Buch mit solchen Beispielen, vor allem aber anhand zahlreicher, nur zum Teil die Verfassung betreffender Fälle aus der Rechtsprechung, dass die Bedeutung sprachlicher Äußerungen von außersprachlichen Kontexten abhängig sein kann und der Sinn einer Norm sich oft nur durch Bezugnahme auf ihren Zweck und auf die Folgen dieser oder jener Auslegung sinnvoll bestimmen lässt. Sein methodisches Credo lautet, dass eine allein oder vorwiegend am Text orientierte (textualistische) oder gar auf die Wortbedeutung zum Zeitpunkt des Erlasses fixierte (originalistische) Auslegung, keinen oder jedenfalls keinen vernünftigen Sinn ergibt. Eine auf Dauer praktikable, demokratiekompatible und dem Institutionenvertrauen dienliche Auslegung müsse alle Möglichkeiten der Sinnermittlung nutzen, auch die Gesetzgebungsgeschichte, und insbesondere den Zweck (purpose) der jeweiligen Normen.
Bei deutschen Juristen rennt man mit solchen Thesen offene Türen ein. Den textorientierten Auslegungsmethoden - der Interpretation nach dem Wortlaut der auszulegenden Stelle und nach der Systematik des Gesetzes, also beispielsweise danach, wie ein Begriff, um dessen Bedeutung es geht, an anderer Stelle verwendet wird - wird Gewicht beigemessen. Zu den anerkannten Standardmethoden gehört aber auch die Auswertung der Gesetzgebungsgeschichte ("historische Auslegung") und die Berücksichtigung des Zwecks gesetzlicher Regelungen, einschließlich der Frage, ob eine bestimmten Auslegung angesichts ihrer Folgen diesem Zweck dient oder nicht ("teleologische Auslegung"), wobei jeweils auch der Kontext der Gesetzesentstehung erhellend sein kann.
In den USA kämpfen dagegen Textualisten und Anhänger der als zweckorientiert ("purposive") oder pragmatisch bezeichneten Richtung, für die Breyer steht und deren ausgeprägtester Vertreter er auch innerhalb des Supreme Court war, um die Vorherrschaft in den Gerichten. Von Interesse ist Breyers Buch hierzulande vor diesem Hintergrund nicht in erster Linie der Argumente wegen, mit denen er für seine methodischen Überzeugungen wirbt, sondern als Dokument der rechtskulturellen Entwicklung in den USA.
Nach Breyers Diagnose befindet sich der Textualismus, den innerhalb und außerhalb des Gerichts am prominentesten und wirkmächtigsten sein 2016 verstorbener Kontrahent Antonin Scalia vertrat, seit Jahren im Aufwind. Was den Supreme Court angeht, bestätigt sich das in den Entscheidungen, die Breyer in seinem Buch als methodisch interessante analysiert. Sie stammen zum allergrößten Teil aus seiner achtundzwanzigjähren Amtszeit als dortiger Richter. Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich um Fälle, in denen er dissentierte, also nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis von der Mehrheit abwich. Vor allem die Anzahl der Fälle, in denen er sich mit solchem Dissens in sehr kleiner Gesellschaft befand oder gar ganz allein stand, nahm in seinen späten Dienstjahren zu.
Diese Entwicklung verwundert nicht. Der Textualismus ist die von Konservativen bevorzugte Methode. In seiner Ausprägung als Originalismus, der in der Auslegung auf die Entstehungszeit abstellt, kann man ihn als die Methode der Reaktionäre bezeichnen. Angesichts einer Verfassung, die aus dem achtzehnten Jahrhundert stammt, liefert er am verlässlichsten Argumente gegen fast alles, was sich für konservative Republikaner in den USA als Verirrung darstellt. So zum Beispiel gegen Interpretationen der Verfassung, die ein - sei es auch gegen das Lebensrecht Ungeborener abzuwägendes - Recht von Frauen zum Schwangerschaftsabbruch in irgendeiner Phase und aus noch so dringenden Gründen aus ihr ableiten, oder die ihr eine Billigung homosexueller Lebensgemeinschaften entnehmen, oder die die Todesstrafe als grausam und ungewöhnlich und deshalb durch den achten Verfassungszusatz verboten einstufen. Dadurch, dass in Donald Trumps nur vierjähriger Amtszeit mit Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett drei von ihm nominierte neue Richter an den Supreme Court gelangten, haben sich die Gewichte zugunsten des Textualismus verschoben. Dass der zweckorientierte Ansatz unter diesen Umständen noch über die Verkleinerung seiner innergerichtlichen Anhängerschaft an Bedeutung verloren hat, erklärt Breyer damit, dass nun auch die wenigen Richter, die nicht zur konservativen Riege zählen - derzeit sind das nur noch Elena Kagan, Sonia Sotomayor und Breyers Nachfolgerin Ketanji Brown Jackson - textualistisch argumentieren müssen, wenn sie irgendeine Aussicht haben wollen, eine Mehrheit für ihre Meinung zu einem Fall zu gewinnen.
Ganz abgesehen davon, dass unter Trump auch viele Richterstellen an anderen Gerichten neu besetzt wurden, wirken diese Veränderungen weit über das Oberste Gericht hinaus. Hat nach alledem die von Breyer favorisierte, für alle Erkenntnisquellen offene Auslegungsmethode, die er anhand eines Falles aus dem Jahr 1819 listig als die traditionelle und mit ihrer Flexibilität dem überkommenen Fallrecht des Common Law am meisten gemäße präsentiert, keine Zukunft mehr? Hat der Textualismus schon auf ganzer Linie gesiegt, oder steht ein solcher Sieg bevor?
Breyer wirft diese Fragen auf und verneint sie. Seine optimistische Antwort stützt sich auf einzelne Fälle aus jüngster Zeit, in denen das Gericht zweckorientiert oder jedenfalls nicht textorientiert argumentiert habe - was bleibt ihm auch anderes übrig, wenn der Normtext für die Streitfrage nichts hergibt, möchte man einwenden -, und auf die Annahme, dass der Endsieg der textualistischen Auslegungsmethode an ihrer Dysfunktionalität scheitern werde. Hinweise darauf, dass auch ein vom Normtext abgekoppeltes Entscheiden dysfunktional werden kann, findet man in seinem Buch nicht.
Aufschlussreicher ist da ein Gespräch, das an der Harvard-Universität mit der liberalen Richterin Elena Kagan geführt wurde. Mit den Suchworten "2015 Scalia Lecture" ist es bei Youtube leicht aufzufinden. Kagan erklärt darin, "wir" - die Richter des Supreme Court - seien inzwischen "alle Textualisten". Den textualistischen Extremismus eines Antonin Scalia, mit dem sie in wichtigen Fällen in der Regel nicht übereinstimmte, unterschreibt sie damit keineswegs. Sie plädiert vielmehr, insoweit ganz auf Breyers Linie, für die Nutzung aller Auslegungsmethoden, zollt aber Scalia Anerkennung dafür, dass er die systematische und gründliche Befassung mit dem Normtext überhaupt auf die Tagesordnung gebracht habe, und zwar an deren Beginn. Dafür werde Scalia als einer der bedeutendsten Richter in der Geschichte der USA in Erinnerung bleiben, wenn sie selbst und andere Kollegen längst weitgehend vergessen seien. Zu ihrer Studienzeit hätten Methoden der Gesetzesauslegung in der Ausbildung keinerlei Rolle gespielt, und die übliche Auslegung sei eine auf den wünschenswerten Inhalt der Norm gerichtete, nicht vom Bewusstsein des Unterschiedes zwischen der Rolle des Gesetzgebers und der des Rechtsanwenders geprägte gewesen. Dass sich das inzwischen fundamental geändert habe, selbst für Stephen Breyer, und richterliche Auslegung heute beim Normtext ansetze, sei Scalias Verdienst.
Solche emphatische Anerkennung eines berechtigten Kerns in Positionen, die sich in widersinnige Extreme gesteigert haben, entfaltet in den USA längst nicht mehr die konsensstiftende Wirkung, die man ihr zutrauen möchte. Dazu ist die allgemeine politische Polarisierung, die auch den Methodenstreit befeuert, und das damit einhergehende Misstrauen zu weit gediehen. In Deutschland ist es so weit zum Glück, auch dank einer insgesamt integrativer wirkenden Institutionenordnung, noch nicht, und hoffentlich wird es so weit auch nicht kommen. Auch hier sollte man aber im Auge behalten, dass die weitgehende Akzeptanz, die ein recht freier Umgang der Gerichte mit Normtexten in der Vergangenheit gefunden hat, eine breite Vertrauensbasis voraussetzt, die im Schwinden begriffen ist. GERTRUDE LÜBBE-WOLFF
Stephen Breyer: "Reading the Constitution". Why I Chose Pragmatism, Not Textualism.
Simon & Schuster, New York 2024.
368 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stephen Bryer nimmt eine Tendenz der Rechtsauslegung am Supreme Court ins Visier
Wenn Mrs. Breyer ihrem Mann zuruft, es sei keine Butter da, versteht er auch ohne weitere Erläuterung, dass sie nicht behauptet, es gebe in der ganzen Stadt keine Butter, sondern ihm mitteilt, was im heimischen Kühlschrank fehlt. Und wenn der Fahrkartenkontrolleur sich gegenüber der Biologielehrerin, die einen Weidenkorb mit zwanzig Schlangen bei sich hat, auf das Bahnreglement beruft, dem zufolge mitgeführte Tiere nicht nur in Körbe gesperrt werden müssen, sondern auch Fahrkarten für sie zu lösen sind, dann sollte er besser überlegen, was der Sinn und Zweck der Regel ist und wie mit dem Transport von Mücken umzugehen wäre.
Stephen Breyer, der vor zwei Jahren von seinem Amt als Richter des Obersten Gerichts der USA zurückgetreten ist und es damit Joe Biden ermöglicht hat, für die frei gewordene Stelle eine Nachfolgerin zu nominieren, erläutert in seinem jüngsten Buch mit solchen Beispielen, vor allem aber anhand zahlreicher, nur zum Teil die Verfassung betreffender Fälle aus der Rechtsprechung, dass die Bedeutung sprachlicher Äußerungen von außersprachlichen Kontexten abhängig sein kann und der Sinn einer Norm sich oft nur durch Bezugnahme auf ihren Zweck und auf die Folgen dieser oder jener Auslegung sinnvoll bestimmen lässt. Sein methodisches Credo lautet, dass eine allein oder vorwiegend am Text orientierte (textualistische) oder gar auf die Wortbedeutung zum Zeitpunkt des Erlasses fixierte (originalistische) Auslegung, keinen oder jedenfalls keinen vernünftigen Sinn ergibt. Eine auf Dauer praktikable, demokratiekompatible und dem Institutionenvertrauen dienliche Auslegung müsse alle Möglichkeiten der Sinnermittlung nutzen, auch die Gesetzgebungsgeschichte, und insbesondere den Zweck (purpose) der jeweiligen Normen.
Bei deutschen Juristen rennt man mit solchen Thesen offene Türen ein. Den textorientierten Auslegungsmethoden - der Interpretation nach dem Wortlaut der auszulegenden Stelle und nach der Systematik des Gesetzes, also beispielsweise danach, wie ein Begriff, um dessen Bedeutung es geht, an anderer Stelle verwendet wird - wird Gewicht beigemessen. Zu den anerkannten Standardmethoden gehört aber auch die Auswertung der Gesetzgebungsgeschichte ("historische Auslegung") und die Berücksichtigung des Zwecks gesetzlicher Regelungen, einschließlich der Frage, ob eine bestimmten Auslegung angesichts ihrer Folgen diesem Zweck dient oder nicht ("teleologische Auslegung"), wobei jeweils auch der Kontext der Gesetzesentstehung erhellend sein kann.
In den USA kämpfen dagegen Textualisten und Anhänger der als zweckorientiert ("purposive") oder pragmatisch bezeichneten Richtung, für die Breyer steht und deren ausgeprägtester Vertreter er auch innerhalb des Supreme Court war, um die Vorherrschaft in den Gerichten. Von Interesse ist Breyers Buch hierzulande vor diesem Hintergrund nicht in erster Linie der Argumente wegen, mit denen er für seine methodischen Überzeugungen wirbt, sondern als Dokument der rechtskulturellen Entwicklung in den USA.
Nach Breyers Diagnose befindet sich der Textualismus, den innerhalb und außerhalb des Gerichts am prominentesten und wirkmächtigsten sein 2016 verstorbener Kontrahent Antonin Scalia vertrat, seit Jahren im Aufwind. Was den Supreme Court angeht, bestätigt sich das in den Entscheidungen, die Breyer in seinem Buch als methodisch interessante analysiert. Sie stammen zum allergrößten Teil aus seiner achtundzwanzigjähren Amtszeit als dortiger Richter. Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich um Fälle, in denen er dissentierte, also nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis von der Mehrheit abwich. Vor allem die Anzahl der Fälle, in denen er sich mit solchem Dissens in sehr kleiner Gesellschaft befand oder gar ganz allein stand, nahm in seinen späten Dienstjahren zu.
Diese Entwicklung verwundert nicht. Der Textualismus ist die von Konservativen bevorzugte Methode. In seiner Ausprägung als Originalismus, der in der Auslegung auf die Entstehungszeit abstellt, kann man ihn als die Methode der Reaktionäre bezeichnen. Angesichts einer Verfassung, die aus dem achtzehnten Jahrhundert stammt, liefert er am verlässlichsten Argumente gegen fast alles, was sich für konservative Republikaner in den USA als Verirrung darstellt. So zum Beispiel gegen Interpretationen der Verfassung, die ein - sei es auch gegen das Lebensrecht Ungeborener abzuwägendes - Recht von Frauen zum Schwangerschaftsabbruch in irgendeiner Phase und aus noch so dringenden Gründen aus ihr ableiten, oder die ihr eine Billigung homosexueller Lebensgemeinschaften entnehmen, oder die die Todesstrafe als grausam und ungewöhnlich und deshalb durch den achten Verfassungszusatz verboten einstufen. Dadurch, dass in Donald Trumps nur vierjähriger Amtszeit mit Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett drei von ihm nominierte neue Richter an den Supreme Court gelangten, haben sich die Gewichte zugunsten des Textualismus verschoben. Dass der zweckorientierte Ansatz unter diesen Umständen noch über die Verkleinerung seiner innergerichtlichen Anhängerschaft an Bedeutung verloren hat, erklärt Breyer damit, dass nun auch die wenigen Richter, die nicht zur konservativen Riege zählen - derzeit sind das nur noch Elena Kagan, Sonia Sotomayor und Breyers Nachfolgerin Ketanji Brown Jackson - textualistisch argumentieren müssen, wenn sie irgendeine Aussicht haben wollen, eine Mehrheit für ihre Meinung zu einem Fall zu gewinnen.
Ganz abgesehen davon, dass unter Trump auch viele Richterstellen an anderen Gerichten neu besetzt wurden, wirken diese Veränderungen weit über das Oberste Gericht hinaus. Hat nach alledem die von Breyer favorisierte, für alle Erkenntnisquellen offene Auslegungsmethode, die er anhand eines Falles aus dem Jahr 1819 listig als die traditionelle und mit ihrer Flexibilität dem überkommenen Fallrecht des Common Law am meisten gemäße präsentiert, keine Zukunft mehr? Hat der Textualismus schon auf ganzer Linie gesiegt, oder steht ein solcher Sieg bevor?
Breyer wirft diese Fragen auf und verneint sie. Seine optimistische Antwort stützt sich auf einzelne Fälle aus jüngster Zeit, in denen das Gericht zweckorientiert oder jedenfalls nicht textorientiert argumentiert habe - was bleibt ihm auch anderes übrig, wenn der Normtext für die Streitfrage nichts hergibt, möchte man einwenden -, und auf die Annahme, dass der Endsieg der textualistischen Auslegungsmethode an ihrer Dysfunktionalität scheitern werde. Hinweise darauf, dass auch ein vom Normtext abgekoppeltes Entscheiden dysfunktional werden kann, findet man in seinem Buch nicht.
Aufschlussreicher ist da ein Gespräch, das an der Harvard-Universität mit der liberalen Richterin Elena Kagan geführt wurde. Mit den Suchworten "2015 Scalia Lecture" ist es bei Youtube leicht aufzufinden. Kagan erklärt darin, "wir" - die Richter des Supreme Court - seien inzwischen "alle Textualisten". Den textualistischen Extremismus eines Antonin Scalia, mit dem sie in wichtigen Fällen in der Regel nicht übereinstimmte, unterschreibt sie damit keineswegs. Sie plädiert vielmehr, insoweit ganz auf Breyers Linie, für die Nutzung aller Auslegungsmethoden, zollt aber Scalia Anerkennung dafür, dass er die systematische und gründliche Befassung mit dem Normtext überhaupt auf die Tagesordnung gebracht habe, und zwar an deren Beginn. Dafür werde Scalia als einer der bedeutendsten Richter in der Geschichte der USA in Erinnerung bleiben, wenn sie selbst und andere Kollegen längst weitgehend vergessen seien. Zu ihrer Studienzeit hätten Methoden der Gesetzesauslegung in der Ausbildung keinerlei Rolle gespielt, und die übliche Auslegung sei eine auf den wünschenswerten Inhalt der Norm gerichtete, nicht vom Bewusstsein des Unterschiedes zwischen der Rolle des Gesetzgebers und der des Rechtsanwenders geprägte gewesen. Dass sich das inzwischen fundamental geändert habe, selbst für Stephen Breyer, und richterliche Auslegung heute beim Normtext ansetze, sei Scalias Verdienst.
Solche emphatische Anerkennung eines berechtigten Kerns in Positionen, die sich in widersinnige Extreme gesteigert haben, entfaltet in den USA längst nicht mehr die konsensstiftende Wirkung, die man ihr zutrauen möchte. Dazu ist die allgemeine politische Polarisierung, die auch den Methodenstreit befeuert, und das damit einhergehende Misstrauen zu weit gediehen. In Deutschland ist es so weit zum Glück, auch dank einer insgesamt integrativer wirkenden Institutionenordnung, noch nicht, und hoffentlich wird es so weit auch nicht kommen. Auch hier sollte man aber im Auge behalten, dass die weitgehende Akzeptanz, die ein recht freier Umgang der Gerichte mit Normtexten in der Vergangenheit gefunden hat, eine breite Vertrauensbasis voraussetzt, die im Schwinden begriffen ist. GERTRUDE LÜBBE-WOLFF
Stephen Breyer: "Reading the Constitution". Why I Chose Pragmatism, Not Textualism.
Simon & Schuster, New York 2024.
368 S., geb., 30,- Euro.
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