Die persönlichen, aufschlussreichen Erinnerungen einer der wichtigsten Aktivistinnen unserer Zeit
Im Jahr 2010 veröffentlichte Chelsea Manning geheime Militärdokumente, die sie als Geheimdienstanalystin für die US-Armee im Irak auf der Speicherkarte ihrer Digitalkamera herausgeschmuggelt hatte. Die Armee klagte sie in zweiundzwanzig Punkten im Zusammenhang mit dem unerlaubten Besitz und der Verbreitung von geheimen Dokumenten an und verurteilte sie zu fünfunddreißig Jahren Militärgefängnis. Am Tag nach ihrer Verurteilung erklärte Manning ihre Geschlechtsidentität als Frau und begann die Transition. Im Jahr 2017 verkürzte Präsident Barack Obama ihre Haftstrafe, und Chelsea Manning wurde aus dem Gefängnis entlassen.
In ihren Erinnerungen erzählt Manning von ihrem Einsatz für mehr institutionelle Transparenz und Rechenschaftspflichten der Regierung und von dem Kampf um ihre Rechte als Transfrau. Sie schildert ihre schwierige Kindheit, ihre Kämpfe als Heranwachsende, was sie dazu brachte, dem Militär beizutreten, und beschreibt den unbändigen Stolz, den sie auf ihre Arbeit hatte. Wir erfahren bisher unbekannte Details, wie und warum sie die Entscheidung traf, geheime Militärdokumente an WikiLeaks zu schicken, und welche Folgen dieses Handeln für sie hatte.
Chelsea Mannings Memoiren zählen zu den eindrücklichsten Zeugnissen des digitalen Zeitalters.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Im Jahr 2010 veröffentlichte Chelsea Manning geheime Militärdokumente, die sie als Geheimdienstanalystin für die US-Armee im Irak auf der Speicherkarte ihrer Digitalkamera herausgeschmuggelt hatte. Die Armee klagte sie in zweiundzwanzig Punkten im Zusammenhang mit dem unerlaubten Besitz und der Verbreitung von geheimen Dokumenten an und verurteilte sie zu fünfunddreißig Jahren Militärgefängnis. Am Tag nach ihrer Verurteilung erklärte Manning ihre Geschlechtsidentität als Frau und begann die Transition. Im Jahr 2017 verkürzte Präsident Barack Obama ihre Haftstrafe, und Chelsea Manning wurde aus dem Gefängnis entlassen.
In ihren Erinnerungen erzählt Manning von ihrem Einsatz für mehr institutionelle Transparenz und Rechenschaftspflichten der Regierung und von dem Kampf um ihre Rechte als Transfrau. Sie schildert ihre schwierige Kindheit, ihre Kämpfe als Heranwachsende, was sie dazu brachte, dem Militär beizutreten, und beschreibt den unbändigen Stolz, den sie auf ihre Arbeit hatte. Wir erfahren bisher unbekannte Details, wie und warum sie die Entscheidung traf, geheime Militärdokumente an WikiLeaks zu schicken, und welche Folgen dieses Handeln für sie hatte.
Chelsea Mannings Memoiren zählen zu den eindrücklichsten Zeugnissen des digitalen Zeitalters.
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Rezensent Philipp Bovermann liest Chelsea Mannings Autobiografie als Dokument einer doppelten Befreiung. Die Whistleblowerin erzählt ihm hier vom Aufwachsen bei alkoholsüchtigen Eltern in Oklahoma, von ihrer Flucht ins Militär, vom Gefangensein im männlichen Körper und der Haft nach ihren Leaks. Es ist aber vor allem das Gefühl der Inkongruenz, das den roten Faden des Buches bildet, klärt der Kritiker auf: Die innere Distanz, die sie in Bezug auf ihre geschlechtliche Identität spürte, erlebte sie auch mit Blick auf die Bilder des Irakkriegs, die in den Nachrichten gezeigt wurden und jenen, die sie als Analystin nachrichtendienstlicher Informationen auf ihrem Bildschirm sah. Es sind insbesondere die Bilder des Kriegs, die bei Bovermann lange nachhallen. Mit Interesse liest er aber auch von der "Queerness des Militärs", das, so der Kritiker, zum männlichen Körper ein "ähnliches abstinentes Verhältnis pflegt wie der Katholizismus zum weiblichen". Mannings Text ist angenehm klar verfasst, gelegentlich hätte sich Bovermann allerdings mehr Lebendigkeit gewünscht. Unbedingt lesenswert findet er dieses Plädoyer dafür, sein wahres Selbst zu zeigen, aber allemal.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Was Chelsea Manning über ihr Leben erzählt, seit sie 2010 zur Whistleblowerin wurde, ist ein wichtiges Zeitdokument, schreibt Rezensent Günter Hack. Um bedauernd einzuschränken, dass Manning in ihrem Memoiren nicht über den eigenen Tellerrand hinausschaut. Die Zeit als Analyst für die US-Armee im Irak und in Afghanistan schildert Manning einerseits als eine schwierige Zeit der Auseinandersetzung mit der sexuellen Identität und dem Hohelied der Hacker, alle Informationen allen zugänglich zu machen. Vieles ist Hack über den spektakulären Leak und seine Folgen bekannt. Deshalb vermisst er umso mehr, dass Manning in der Beschreibung ihrer Kontakte zu Wikileaks so vage bleibt und sie - womöglich zum Schutz - sehr distanziert über ihren Landsmann und Kollegen Edward Snowdon schreibt, der inzwischen russischer Staatsbürger ist. Dass ein Datensatz direkten Einblick in die Dokumente gibt, die Manning ins Gefängnis brachten, macht die Enttäuschung für den Rezensenten nicht wett.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2022Sie war der Bösewicht, Snowden der Held
Informationen wollen frei sein: Chelsea Manning erzählt von ihrer Zeit als Whistleblowerin und dem Ringen um ihre sexuelle Identität.
Chelsea Elizabeth Manning steht an einem Kreuzungspunkt mehrerer amerikanischer Kulturkämpfe. Als Whistleblowerin stellt sie die Frage danach, wie viel Transparenz das Militär der USA vertragen will und kann. Als transsexueller Mensch ist sie ebenso Protagonistin wie Opfer einer Identitätspolitik, die auch intimste biologische Eigenschaften im alltäglichen Hegemoniestreit in Stellung bringen will. Und nicht zuletzt sind ihre Datentransfers an Wikileaks im Jahr 2010 auch Argumente im Streit zwischen America-First-Isolationisten und Vertretern einer interventionistischen Politik.
Genug Material für eine Autobiographie, auch wenn Manning erst vierunddreißig Jahre alt ist. Der Schwerpunkt des Texts liegt auf dem Zeitraum zwischen 2010, als Manning unter anderem ein Konvolut von Feldberichten aus den damals aktiven Kriegsschauplätzen im Irak und in Afghanistan, ein Paket mit diplomatischen Depeschen und Videomaterial eines amerikanischen Hubschrauberangriffs, bei dem zwei Reuters-Korrespondenten getötet wurden, auf die Whistleblower-Plattform Wikileaks hochgeladen hat - und ihrer Teilbegnadigung durch Barack Obama im Jahr 2017.
Zu dieser Zeit hieß die Autorin noch Bradley Edward Manning und war als Analyst für die Armee im Irak tätig. Heute lebt sie im New Yorker Stadtteil Brooklyn und arbeitet als IT-Sicherheitsberaterin. Dem ersten Paket mit internen Berichten hat Manning, der Tradition der Software-Branche entsprechend, eine Textdatei mit Erläuterungen unter dem Namen README.txt beigefügt, die vor Sichtung des Materials hätte gelesen werden sollen. Das vorliegende gleichnamige Buch soll nun Mannings Handlungen erklären.
Mannings Job beim Militär bestand darin, Informationen zu sammeln und zu verknüpfen, um daraus Situationsberichte für ihre Vorgesetzten zu erstellen. Nun sitzt ihr Publikum vor einem ihrer Berichte. Was soll Mannings Leserschaft also über sie selbst erfahren? Eine der Kernaussagen des Textes lautet, dass ihr Ringen um ihre sexuelle Identität sie in ständigen Konflikt mit ihrer Umgebung gebracht hat, erst mit ihrer Familie, dann mit dem Militär, in dem sie eigentlich eine Struktur für ihr Leben suchte, denn dort herrschte zu der Zeit noch ein Verbot öffentlicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen, das unter der Direktive "Don't ask, don't tell" gehandhabt wurde: Die Armee fragte nicht nach der sexuellen Neigung ihres Personals, das seinerseits darüber zu schweigen hatte.
Die alte Hacker-Maxime "Informationen wollen frei sein" brachte sie aus den einschlägigen Foren im Netz mit, wo sie ihre technischen Fähigkeiten mit Gleichgesinnten ausprobieren konnte und Anerkennung fand. Folgt man ihrer Erzählung, so wurde sie an ihrer Arbeitsstelle zwar gemobbt und auch mit dem Wissen um ihre sexuelle Identität erpresst, aber ihre Vorgesetzten schätzten ihre Arbeit so sehr, dass sie darüber hinwegsahen. Repressionsmaßnahmen gegen bestimmte sexuelle Orientierungen, so zeigt nicht nur der Fall Manning, schädigen letztlich die Organisation, die sie ausübt. Mittlerweile können auch Homo- und Transsexuelle offen im amerikanischen Militär dienen.
Das Militär schaffte es zwar, Manning eine Aufgabe zuzuteilen, die ihren Fähigkeiten entsprach - sie lobt die flachen Hierarchien in ihrem Bereich -, aber mit der Versetzung in die Basis "Hammer" bei Bagdad erodierte ihre Motivation angesichts des herrschenden Nihilismus im "Kampf gegen den Terror". Vor Ort wusste jeder ihrer Kollegen, dass der Krieg nicht zu gewinnen war und die Truppenpräsenz nur aus politischen Gründen aufrechterhalten wurde: "Besonders frustrierte mich der erschütternde Gegensatz zwischen dem, was wir in den Kampfgebieten wussten, und dem, was man in Amerika zu wissen glaubte", schreibt Manning. "Das betraf sämtliche Bereiche. Die Menschen brauchten mehr Informationen, um zu begreifen, was vor Ort los war."
Die meisten Stationen in Mannings Erzählung sind der interessierten Öffentlichkeit bereits bekannt: Die Veröffentlichung der Dokumente auf Wikileaks und verschiedenen traditionellen Medienplattformen, der Verrat an die Behörden durch den Hacker Adrian Lamo, die fürchterlichen Haftbedingungen unter vermeintlichem Selbstmordschutz in verschiedenen Militärgefängnissen und schließlich die Hormonbehandlung zur Vorbereitung der Geschlechtsumwandlung.
Der eigentliche Kern ihrer Geschichte, der Kontakt mit Wikileaks, bleibt auf die Dokumenten-Uploads und vage Chats mit einem pseudonymen Akteur beschränkt, bei dem es sich um Julian Assange oder um dessen damaligen Mitstreiter Daniel Domscheit-Berg gehandelt haben mag. Beide bezeichnet Manning als "eher die Provokation suchende Nihilistenfraktion" von Wikileaks. "Die seriöseren verantwortungsbewussteren Gruppenmitglieder - das heißt, die technikaffinen journalistischen ebenso wie die politisch gut vernetzten - traten in den Hintergrund."
Dabei habe sie vor dem Upload zu Wikileaks versucht, ihre Dokumente traditionellen Medien wie der "Washington Post" anzubieten, die aber noch keine sicheren Kontaktmöglichkeiten für Whistleblower angeboten oder kein Interesse gezeigt hätten. Ein Versuch, die Informationen auf einem physischen Datenträger an das Team der Nachrichten-Website "Politico" zu übergeben, sei wegen widriger Wetterbedingungen fehlgeschlagen.
Es entsteht der Eindruck, dass Manning den immer noch in Haft sitzenden Julian Assange nicht belasten will, sie distanziert sich aber von ihm. Auch die knappen Passagen zum zweiten prominenten Whistleblower im amerikanischen Sicherheitsapparat der frühen 2010er-Jahre, Edward Snowden, sind in unterkühltem Tonfall verfasst, denn seine NSA-Enthüllungen waren mitten in Mannings Prozess geplatzt. "Seit meiner Verhaftung hatte sich die öffentliche Meinung zu unseren Gunsten gedreht, aber nun stand ich plötzlich als der böse Informant da, derjenige, der im Gefängnis saß, der kein Interview geben durfte, der mit den angeblichen persönlichen Problemen. Ed dagegen war der gute Informant, der Held."
Edward Snowden besitzt mittlerweile einen russischen Pass. Angesichts des Angriffskriegs seines neuen Heimatlands gegen die Ukraine wirken die Taten und die zu deren Rechtfertigung vorgebrachten Argumente der Whistleblower aus den Zehnerjahren etwas aus der Zeit gefallen. Einem Europa, das nicht in der Lage ist, sich ohne amerikanische Unterstützung wirksam zu verteidigen, kann der Zustand der Streitkräfte des wichtigsten NATO-Mitgliedslands nicht egal sein, aber Mannings Buch bleibt ein Zeitdokument, das abseits offensichtlicher Schlussfolgerungen zu wenig über den eigenen Fall hinausweist. GÜNTER HACK
Chelsea Manning: "README.txt". Meine Geschichte.
Aus dem Englischen von Katrin Harlaß, Enrico Heinemann und Anne Emmert. HarperCollins Verlag, Hamburg, 2022. 336 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Informationen wollen frei sein: Chelsea Manning erzählt von ihrer Zeit als Whistleblowerin und dem Ringen um ihre sexuelle Identität.
Chelsea Elizabeth Manning steht an einem Kreuzungspunkt mehrerer amerikanischer Kulturkämpfe. Als Whistleblowerin stellt sie die Frage danach, wie viel Transparenz das Militär der USA vertragen will und kann. Als transsexueller Mensch ist sie ebenso Protagonistin wie Opfer einer Identitätspolitik, die auch intimste biologische Eigenschaften im alltäglichen Hegemoniestreit in Stellung bringen will. Und nicht zuletzt sind ihre Datentransfers an Wikileaks im Jahr 2010 auch Argumente im Streit zwischen America-First-Isolationisten und Vertretern einer interventionistischen Politik.
Genug Material für eine Autobiographie, auch wenn Manning erst vierunddreißig Jahre alt ist. Der Schwerpunkt des Texts liegt auf dem Zeitraum zwischen 2010, als Manning unter anderem ein Konvolut von Feldberichten aus den damals aktiven Kriegsschauplätzen im Irak und in Afghanistan, ein Paket mit diplomatischen Depeschen und Videomaterial eines amerikanischen Hubschrauberangriffs, bei dem zwei Reuters-Korrespondenten getötet wurden, auf die Whistleblower-Plattform Wikileaks hochgeladen hat - und ihrer Teilbegnadigung durch Barack Obama im Jahr 2017.
Zu dieser Zeit hieß die Autorin noch Bradley Edward Manning und war als Analyst für die Armee im Irak tätig. Heute lebt sie im New Yorker Stadtteil Brooklyn und arbeitet als IT-Sicherheitsberaterin. Dem ersten Paket mit internen Berichten hat Manning, der Tradition der Software-Branche entsprechend, eine Textdatei mit Erläuterungen unter dem Namen README.txt beigefügt, die vor Sichtung des Materials hätte gelesen werden sollen. Das vorliegende gleichnamige Buch soll nun Mannings Handlungen erklären.
Mannings Job beim Militär bestand darin, Informationen zu sammeln und zu verknüpfen, um daraus Situationsberichte für ihre Vorgesetzten zu erstellen. Nun sitzt ihr Publikum vor einem ihrer Berichte. Was soll Mannings Leserschaft also über sie selbst erfahren? Eine der Kernaussagen des Textes lautet, dass ihr Ringen um ihre sexuelle Identität sie in ständigen Konflikt mit ihrer Umgebung gebracht hat, erst mit ihrer Familie, dann mit dem Militär, in dem sie eigentlich eine Struktur für ihr Leben suchte, denn dort herrschte zu der Zeit noch ein Verbot öffentlicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen, das unter der Direktive "Don't ask, don't tell" gehandhabt wurde: Die Armee fragte nicht nach der sexuellen Neigung ihres Personals, das seinerseits darüber zu schweigen hatte.
Die alte Hacker-Maxime "Informationen wollen frei sein" brachte sie aus den einschlägigen Foren im Netz mit, wo sie ihre technischen Fähigkeiten mit Gleichgesinnten ausprobieren konnte und Anerkennung fand. Folgt man ihrer Erzählung, so wurde sie an ihrer Arbeitsstelle zwar gemobbt und auch mit dem Wissen um ihre sexuelle Identität erpresst, aber ihre Vorgesetzten schätzten ihre Arbeit so sehr, dass sie darüber hinwegsahen. Repressionsmaßnahmen gegen bestimmte sexuelle Orientierungen, so zeigt nicht nur der Fall Manning, schädigen letztlich die Organisation, die sie ausübt. Mittlerweile können auch Homo- und Transsexuelle offen im amerikanischen Militär dienen.
Das Militär schaffte es zwar, Manning eine Aufgabe zuzuteilen, die ihren Fähigkeiten entsprach - sie lobt die flachen Hierarchien in ihrem Bereich -, aber mit der Versetzung in die Basis "Hammer" bei Bagdad erodierte ihre Motivation angesichts des herrschenden Nihilismus im "Kampf gegen den Terror". Vor Ort wusste jeder ihrer Kollegen, dass der Krieg nicht zu gewinnen war und die Truppenpräsenz nur aus politischen Gründen aufrechterhalten wurde: "Besonders frustrierte mich der erschütternde Gegensatz zwischen dem, was wir in den Kampfgebieten wussten, und dem, was man in Amerika zu wissen glaubte", schreibt Manning. "Das betraf sämtliche Bereiche. Die Menschen brauchten mehr Informationen, um zu begreifen, was vor Ort los war."
Die meisten Stationen in Mannings Erzählung sind der interessierten Öffentlichkeit bereits bekannt: Die Veröffentlichung der Dokumente auf Wikileaks und verschiedenen traditionellen Medienplattformen, der Verrat an die Behörden durch den Hacker Adrian Lamo, die fürchterlichen Haftbedingungen unter vermeintlichem Selbstmordschutz in verschiedenen Militärgefängnissen und schließlich die Hormonbehandlung zur Vorbereitung der Geschlechtsumwandlung.
Der eigentliche Kern ihrer Geschichte, der Kontakt mit Wikileaks, bleibt auf die Dokumenten-Uploads und vage Chats mit einem pseudonymen Akteur beschränkt, bei dem es sich um Julian Assange oder um dessen damaligen Mitstreiter Daniel Domscheit-Berg gehandelt haben mag. Beide bezeichnet Manning als "eher die Provokation suchende Nihilistenfraktion" von Wikileaks. "Die seriöseren verantwortungsbewussteren Gruppenmitglieder - das heißt, die technikaffinen journalistischen ebenso wie die politisch gut vernetzten - traten in den Hintergrund."
Dabei habe sie vor dem Upload zu Wikileaks versucht, ihre Dokumente traditionellen Medien wie der "Washington Post" anzubieten, die aber noch keine sicheren Kontaktmöglichkeiten für Whistleblower angeboten oder kein Interesse gezeigt hätten. Ein Versuch, die Informationen auf einem physischen Datenträger an das Team der Nachrichten-Website "Politico" zu übergeben, sei wegen widriger Wetterbedingungen fehlgeschlagen.
Es entsteht der Eindruck, dass Manning den immer noch in Haft sitzenden Julian Assange nicht belasten will, sie distanziert sich aber von ihm. Auch die knappen Passagen zum zweiten prominenten Whistleblower im amerikanischen Sicherheitsapparat der frühen 2010er-Jahre, Edward Snowden, sind in unterkühltem Tonfall verfasst, denn seine NSA-Enthüllungen waren mitten in Mannings Prozess geplatzt. "Seit meiner Verhaftung hatte sich die öffentliche Meinung zu unseren Gunsten gedreht, aber nun stand ich plötzlich als der böse Informant da, derjenige, der im Gefängnis saß, der kein Interview geben durfte, der mit den angeblichen persönlichen Problemen. Ed dagegen war der gute Informant, der Held."
Edward Snowden besitzt mittlerweile einen russischen Pass. Angesichts des Angriffskriegs seines neuen Heimatlands gegen die Ukraine wirken die Taten und die zu deren Rechtfertigung vorgebrachten Argumente der Whistleblower aus den Zehnerjahren etwas aus der Zeit gefallen. Einem Europa, das nicht in der Lage ist, sich ohne amerikanische Unterstützung wirksam zu verteidigen, kann der Zustand der Streitkräfte des wichtigsten NATO-Mitgliedslands nicht egal sein, aber Mannings Buch bleibt ein Zeitdokument, das abseits offensichtlicher Schlussfolgerungen zu wenig über den eigenen Fall hinausweist. GÜNTER HACK
Chelsea Manning: "README.txt". Meine Geschichte.
Aus dem Englischen von Katrin Harlaß, Enrico Heinemann und Anne Emmert. HarperCollins Verlag, Hamburg, 2022. 336 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2022Identitätsaußenpolitik
Ein wohltuend nüchternes Plädoyer dafür, der Welt sein wahres Ich
zu zeigen: Die Memoiren der Whistleblowerin Chelsea Manning
VON PHILIPP BOVERMANN
Als Chelsea Manning im Mai 2018 die Hauptbühne der Digitalkulturkonferenz Republica in Berlin betrat, war da eine Stille, die in der Erinnerung derer, die dabei waren, immer tiefer und andächtiger wird. Leuchtende Displays und das elektrisierende Gefühl, dass die Kameraobjektive ein Stückchen Weltgeist aufsaugen. Es war Mannings erster Besuch außerhalb der USA seit der Haftentlassung. Ein Jahr zuvor hatte der scheidende Präsident Barack Obama ihr den Rest der 35-jährigen Haftstrafe erlassen, die sie absaß, weil sie als im Irak stationierte Militäranalystin geheime Dokumente der amerikanischen Armee veröffentlicht hatte. Manning hatte die Wahrheit über die Kriege in Afghanistan und Irak enthüllt, und die Wahrheit hatte die Diskussion in den amerikanischen Medien über diese Einsätze verändert.
„Man muss Chelsea Manning nicht als Heldin sehen“, schrieb der Spiegel nach ihrer Begnadigung. Heißt im Umkehrschluss: Aber man kann. So viel zur Frage, warum man Chelsea Mannings nun erschienene Autobiografie „README.txt“ lesen sollte. Ihr Buch ist ein wohltuend nüchternes Plädoyer dafür, der Welt sein wahres Selbst zu zeigen, aber auch seine Vorstellungen, wie die Welt sein sollte, in die Tat umzusetzen. Das Ich und die Spur, die es in der Welt hinterlässt – Identitätspolitik und Identitätsaußenpolitik –, gehören zusammen. Ganz besonders bei Chelsea Manning, die doppelt gefangen war, wie sie an einer Stelle schreibt: im Körper eines Mannes und im Gefängnis einer Staatsgewalt, die sie herausgefordert hatte.
Mannings lange verheimlichte Geschlechtsidentitätsinkongruenz bildet den einen Strang des Buches. Das ländliche Oklahoma, in dem sie „auf gut zwei Hektar Land in einer schmalen Senke direkt am Oklahoma State Highway 74“ aufwuchs, war für eine junge Frau im Körper eines jungen Mannes von Anfang an feindliches Terrain. Der Vater war Alkoholiker, ehemaliger Navy-Offizier und schnell mit dem Gürtel bei der Hand, wenn die Kinder nicht spurten, die Mutter trank sich aus der Welt hinaus, in der sie nie richtig Fuß fasste. Da war kein Geld, nur „eine Wolke aus Selbstverachtung“, Computerspiele, Herumtrollen im Internet, Allmachtsgefühle hinter Pseudonym, immaterielle Überlegenheit im Cyberspace, zeitweise Obdachlosigkeit. Manning floh ins Militär, in die Uniform, die den Körper gerade macht, um endlich Ruhe vor ihm zu haben.
Der zweite Strang ist die Inkongruenz zwischen den Bildern des Kriegs in den Fernsehnachrichten und dem blinden Chaos der Gewalt, das Manning täglich als Analystin nachrichtendienstlicher Informationen auf ihrem Bildschirm sichtete – das sie, schlimmer noch, erzeugen half. „Es war, als wären die Tragödien und Schlachten ein Muster der Natur, schockierend und doch völlig vorhersehbar, wie die Gezeiten oder der Sonnenstand oder das Wachstum der Pflanzen. Aber das Chaos ging von uns aus, den Agenten der Zerstörung.“ Der Job passte zu jemandem, der es gewohnt war, solche Inkongruenzen auszuhalten. „Innerlich Distanz wahren konnte ich gut“, schreibt sie, da es „Leuten wie mir offiziell verboten war, sich im Dienst offen zu sich selbst zu bekennen“. Im US-Militär galt noch die „Don’t ask, don’t tell“-Doktrin: Man durfte von der sexuellen Norm abweichen – aber es nicht zeigen oder mit irgendjemandem darüber reden.
Der Stil des Buchs ist Zeugnis dieses Trainings zur Distanz. „Mehr Feuer“, feuerten sie die Redakteure der Zeitungen an, für die sie vom Gefängnis aus Gastbeiträge verfasste. Mehr Feuer hätte auch dem Buch an einigen Stellen sicher nicht geschadet. Bisweilen schreibt sie über Tod, Verzweiflung, ihre Suizidversuche, darüber, wie sie in Isolationshaft anfing, „zu lallen, zu schreien und den Kopf gegen die Wand zu schlagen“, als verfasse sie einen militärischen Bericht an ihre vorgesetzten Offiziere. Es dauert eine Weile, bis man die Queerness dieser Distanziertheit zu spüren beginnt – bis man anfängt, sich Gedanken über die Queerness des Militärs zu machen, das zum männlichen Körper ein ähnlich lustvoll abstinentes Verhältnis pflegt wie der Katholizismus zum weiblichen.
„Während mein neuer Körper Gestalt annahm, klärte sich mein Geist, und ich wurde innerlich freier“
Es sind die schrägen Bilder des Krieges, die hängen bleiben: wie Manning im Irak jeden Abend von ihrem Wohncontainer zu einer als Sicherheitsbereich umfunktionierten ehemaligen Basketballhalle geht, auf einem Matschweg, „vorbei an einem riesigen, unablässig dröhnenden Stromgenerator und mehreren MRAPs, minensicheren Transportern, die uns überragten wie die Kampfläufer auf Tatooine“, in einen schwach beleuchteten, fensterlosen, mit Kabeln vollgestopften Raum – das Herz der Finsternis des 21. Jahrhunderts. Nur echt mit „Star Wars“-Referenz.
Manning weidet solche Motive nicht aus, ihre Selbsterkundung ist kein postmoderner Feldzug der Sprache. Es ist mehr an Fakten als an Sprache interessiert, sowohl am „Dammbruch“ eines queeren Selbst als auch dem Coming-out einer geheimen, chaotischen Wirklichkeit der Welt. Sie reduziert das eine aber nicht auf das andere. Manning wurde ihrer Lesart zufolge nicht zur Whistleblowerin, weil sie daran litt, ihr wahres Geschlecht verheimlichen zu müssen. „Die Wahrheit ist: Trotz aller Belastungen, die wahrscheinlich in gewisser Weise dazu beigetragen haben, tat ich, was ich tat, weil ich sah, was ich sah, kurz: wegen der Werte, an die ich glaube und vertrete.“
Das Buch hat viele dunkle Passagen. Die Schilderungen des durch sie als „Collateral Murder“ bekannt gewordenen Videos etwa: zwei US- Hubschrauber, die das Feuer auf eine Gruppe am Boden eröffnen und die Menschen niedermähen, weil sie die Fotokameras zweier Reuters-Journalisten für Granatwerfer halten, bevor sie mit panzerbrechender Munition auf einen Van schießen, der den Verwundeten zu Hilfe eilt. Auf dem Rücksitz werden zwei Kinder verletzt. „Die sind doch selbst schuld, wenn sie Kinder mit in den Kampf nehmen“, sagt ein Soldat im Hubschrauber.
Und doch gibt es die Hoffnung – die Hoffnung auf Wahrheit. „Während mein neuer Körper Gestalt annahm, klärte sich mein Geist, und ich wurde innerlich freier“, schreibt Manning. Nach langen bürokratischen Widerständen konnte sie als erste amerikanische Militärgefangene überhaupt eine Hormontherapie beginnen. Das Leak war erschienen. Die Welt hörte nun zu. „Ich fing an, darüber nachzudenken, wie ich mich kleiden würde, wenn ich rauskam: praktische Kleider und Utility-Gürtel, dazu Springerstiefel, um zu signalisieren, dass ich mich zu wehren wusste.“
Als Chelsea Manning auf der Republica in Berlin war, befand sie sich schon in ihrem persönlichen Happy End. Sie saß da, leicht lächelnd, mit geschminkten Lippen, die langen blonden Haare zurückgebunden, in dieser großen, tiefen Stille, dann im brandenden Applaus, in Springerstiefeln.
„Während mein neuer Körper
Gestalt annahm, klärte sich mein
Geist, und ich wurde freier“
Einst doppelt gefangen, im Körper eines Mannes und im Gefängnis einer Staatsgewalt, die sie herausgefordert hatte: Chelsea Manning
Foto: Jonas Walzberg/Picture Allliance/dpa
Chelsea Manning:
README.txt – Meine
Geschichte. Aus dem
Englischen von Kathrin Harlaß, Enrico Heinemann, Anne Emmert.
HarperCollins, Hamburg 2022. 336 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein wohltuend nüchternes Plädoyer dafür, der Welt sein wahres Ich
zu zeigen: Die Memoiren der Whistleblowerin Chelsea Manning
VON PHILIPP BOVERMANN
Als Chelsea Manning im Mai 2018 die Hauptbühne der Digitalkulturkonferenz Republica in Berlin betrat, war da eine Stille, die in der Erinnerung derer, die dabei waren, immer tiefer und andächtiger wird. Leuchtende Displays und das elektrisierende Gefühl, dass die Kameraobjektive ein Stückchen Weltgeist aufsaugen. Es war Mannings erster Besuch außerhalb der USA seit der Haftentlassung. Ein Jahr zuvor hatte der scheidende Präsident Barack Obama ihr den Rest der 35-jährigen Haftstrafe erlassen, die sie absaß, weil sie als im Irak stationierte Militäranalystin geheime Dokumente der amerikanischen Armee veröffentlicht hatte. Manning hatte die Wahrheit über die Kriege in Afghanistan und Irak enthüllt, und die Wahrheit hatte die Diskussion in den amerikanischen Medien über diese Einsätze verändert.
„Man muss Chelsea Manning nicht als Heldin sehen“, schrieb der Spiegel nach ihrer Begnadigung. Heißt im Umkehrschluss: Aber man kann. So viel zur Frage, warum man Chelsea Mannings nun erschienene Autobiografie „README.txt“ lesen sollte. Ihr Buch ist ein wohltuend nüchternes Plädoyer dafür, der Welt sein wahres Selbst zu zeigen, aber auch seine Vorstellungen, wie die Welt sein sollte, in die Tat umzusetzen. Das Ich und die Spur, die es in der Welt hinterlässt – Identitätspolitik und Identitätsaußenpolitik –, gehören zusammen. Ganz besonders bei Chelsea Manning, die doppelt gefangen war, wie sie an einer Stelle schreibt: im Körper eines Mannes und im Gefängnis einer Staatsgewalt, die sie herausgefordert hatte.
Mannings lange verheimlichte Geschlechtsidentitätsinkongruenz bildet den einen Strang des Buches. Das ländliche Oklahoma, in dem sie „auf gut zwei Hektar Land in einer schmalen Senke direkt am Oklahoma State Highway 74“ aufwuchs, war für eine junge Frau im Körper eines jungen Mannes von Anfang an feindliches Terrain. Der Vater war Alkoholiker, ehemaliger Navy-Offizier und schnell mit dem Gürtel bei der Hand, wenn die Kinder nicht spurten, die Mutter trank sich aus der Welt hinaus, in der sie nie richtig Fuß fasste. Da war kein Geld, nur „eine Wolke aus Selbstverachtung“, Computerspiele, Herumtrollen im Internet, Allmachtsgefühle hinter Pseudonym, immaterielle Überlegenheit im Cyberspace, zeitweise Obdachlosigkeit. Manning floh ins Militär, in die Uniform, die den Körper gerade macht, um endlich Ruhe vor ihm zu haben.
Der zweite Strang ist die Inkongruenz zwischen den Bildern des Kriegs in den Fernsehnachrichten und dem blinden Chaos der Gewalt, das Manning täglich als Analystin nachrichtendienstlicher Informationen auf ihrem Bildschirm sichtete – das sie, schlimmer noch, erzeugen half. „Es war, als wären die Tragödien und Schlachten ein Muster der Natur, schockierend und doch völlig vorhersehbar, wie die Gezeiten oder der Sonnenstand oder das Wachstum der Pflanzen. Aber das Chaos ging von uns aus, den Agenten der Zerstörung.“ Der Job passte zu jemandem, der es gewohnt war, solche Inkongruenzen auszuhalten. „Innerlich Distanz wahren konnte ich gut“, schreibt sie, da es „Leuten wie mir offiziell verboten war, sich im Dienst offen zu sich selbst zu bekennen“. Im US-Militär galt noch die „Don’t ask, don’t tell“-Doktrin: Man durfte von der sexuellen Norm abweichen – aber es nicht zeigen oder mit irgendjemandem darüber reden.
Der Stil des Buchs ist Zeugnis dieses Trainings zur Distanz. „Mehr Feuer“, feuerten sie die Redakteure der Zeitungen an, für die sie vom Gefängnis aus Gastbeiträge verfasste. Mehr Feuer hätte auch dem Buch an einigen Stellen sicher nicht geschadet. Bisweilen schreibt sie über Tod, Verzweiflung, ihre Suizidversuche, darüber, wie sie in Isolationshaft anfing, „zu lallen, zu schreien und den Kopf gegen die Wand zu schlagen“, als verfasse sie einen militärischen Bericht an ihre vorgesetzten Offiziere. Es dauert eine Weile, bis man die Queerness dieser Distanziertheit zu spüren beginnt – bis man anfängt, sich Gedanken über die Queerness des Militärs zu machen, das zum männlichen Körper ein ähnlich lustvoll abstinentes Verhältnis pflegt wie der Katholizismus zum weiblichen.
„Während mein neuer Körper Gestalt annahm, klärte sich mein Geist, und ich wurde innerlich freier“
Es sind die schrägen Bilder des Krieges, die hängen bleiben: wie Manning im Irak jeden Abend von ihrem Wohncontainer zu einer als Sicherheitsbereich umfunktionierten ehemaligen Basketballhalle geht, auf einem Matschweg, „vorbei an einem riesigen, unablässig dröhnenden Stromgenerator und mehreren MRAPs, minensicheren Transportern, die uns überragten wie die Kampfläufer auf Tatooine“, in einen schwach beleuchteten, fensterlosen, mit Kabeln vollgestopften Raum – das Herz der Finsternis des 21. Jahrhunderts. Nur echt mit „Star Wars“-Referenz.
Manning weidet solche Motive nicht aus, ihre Selbsterkundung ist kein postmoderner Feldzug der Sprache. Es ist mehr an Fakten als an Sprache interessiert, sowohl am „Dammbruch“ eines queeren Selbst als auch dem Coming-out einer geheimen, chaotischen Wirklichkeit der Welt. Sie reduziert das eine aber nicht auf das andere. Manning wurde ihrer Lesart zufolge nicht zur Whistleblowerin, weil sie daran litt, ihr wahres Geschlecht verheimlichen zu müssen. „Die Wahrheit ist: Trotz aller Belastungen, die wahrscheinlich in gewisser Weise dazu beigetragen haben, tat ich, was ich tat, weil ich sah, was ich sah, kurz: wegen der Werte, an die ich glaube und vertrete.“
Das Buch hat viele dunkle Passagen. Die Schilderungen des durch sie als „Collateral Murder“ bekannt gewordenen Videos etwa: zwei US- Hubschrauber, die das Feuer auf eine Gruppe am Boden eröffnen und die Menschen niedermähen, weil sie die Fotokameras zweier Reuters-Journalisten für Granatwerfer halten, bevor sie mit panzerbrechender Munition auf einen Van schießen, der den Verwundeten zu Hilfe eilt. Auf dem Rücksitz werden zwei Kinder verletzt. „Die sind doch selbst schuld, wenn sie Kinder mit in den Kampf nehmen“, sagt ein Soldat im Hubschrauber.
Und doch gibt es die Hoffnung – die Hoffnung auf Wahrheit. „Während mein neuer Körper Gestalt annahm, klärte sich mein Geist, und ich wurde innerlich freier“, schreibt Manning. Nach langen bürokratischen Widerständen konnte sie als erste amerikanische Militärgefangene überhaupt eine Hormontherapie beginnen. Das Leak war erschienen. Die Welt hörte nun zu. „Ich fing an, darüber nachzudenken, wie ich mich kleiden würde, wenn ich rauskam: praktische Kleider und Utility-Gürtel, dazu Springerstiefel, um zu signalisieren, dass ich mich zu wehren wusste.“
Als Chelsea Manning auf der Republica in Berlin war, befand sie sich schon in ihrem persönlichen Happy End. Sie saß da, leicht lächelnd, mit geschminkten Lippen, die langen blonden Haare zurückgebunden, in dieser großen, tiefen Stille, dann im brandenden Applaus, in Springerstiefeln.
„Während mein neuer Körper
Gestalt annahm, klärte sich mein
Geist, und ich wurde freier“
Einst doppelt gefangen, im Körper eines Mannes und im Gefängnis einer Staatsgewalt, die sie herausgefordert hatte: Chelsea Manning
Foto: Jonas Walzberg/Picture Allliance/dpa
Chelsea Manning:
README.txt – Meine
Geschichte. Aus dem
Englischen von Kathrin Harlaß, Enrico Heinemann, Anne Emmert.
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«Ein Memoir, das als Hintergrundgeschichte zum Digitalzeitalter gelesen werden kann.« Welt am Sonntag 20221106