Seit den 1980er Jahren beschäftigt sich der Philosoph Walter Seitter mit Phänomenen der westeuropäisch-mittelalterlichen Kultur. Damals begann er auch verstärkt, Bau- und Bildwerke aus dem 13. Jahrhundert zu besuchen und einige davon zu beschreiben, insbesondere solche, die mehr oder weniger entschieden am "romanischen" Stil festgehalten haben, obwohl der "gotische" Stil seinerzeit schon längst über Frankreich hinaus bekannt war.
Die vier Bau- und Bildwerke, die Walter Seitter zwischen 1990 und 2010 besucht hat und in seinem neuen Buch vorführt, gehören unterschiedlichen Landschaften, aber auch sehr unterschiedlichen Gattungen und Rängen an: Da ist die niederösterreichische Landkirche Schöngrabern mit ihrer reichen, ja einzigartigen Skulpturenapplikation an der mächtigen Ostapsis; sodann das von Kaiser Friedrich II. persönlich in Auftrag gegebene und wohl auch maßgeblich bestimmte Schloss Castel der Monte in Apulien; der Dom von Naumburg, vor allem sein Stifterchor im Westen; schließlich das, was von der romanischen Stephanskirche in Wien noch übriggeblieben ist.
Diese ganz persönlichen Begegnungen und Begehungen führen auch dazu, dass Walter Seitter jedes Monument als ein Individuum betrachtet, das in seine Geschichte eingebettet ist, zu der auch die "Nachgeschichte" gehört - also auch all jene Veränderungen, die im Laufe der Zeit den Bauwerken "passiert" sind.
Die geographische Streuung dieser vier Monumente zeigt schon, dass sich das Phänomen der "verspäteten Romanik" nicht auf eine einzige Region beschränkt, auch nicht auf den Ostrand des Heiligen Römischen Reiches. So hat Walter Seitter auch seine Erfahrungen mit dem Mittelalter in Griechenland und Zypern in dieses Buch einfließen lassen. - Sein Resümee im Sinne einer Geopolitik lautet daher: "Die Kunstgeschichte kann es sich heute nicht mehr leisten, die Kunstgeographie zu verdrängen oder nur so halb bewusst mitzuschleppen."
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die vier Bau- und Bildwerke, die Walter Seitter zwischen 1990 und 2010 besucht hat und in seinem neuen Buch vorführt, gehören unterschiedlichen Landschaften, aber auch sehr unterschiedlichen Gattungen und Rängen an: Da ist die niederösterreichische Landkirche Schöngrabern mit ihrer reichen, ja einzigartigen Skulpturenapplikation an der mächtigen Ostapsis; sodann das von Kaiser Friedrich II. persönlich in Auftrag gegebene und wohl auch maßgeblich bestimmte Schloss Castel der Monte in Apulien; der Dom von Naumburg, vor allem sein Stifterchor im Westen; schließlich das, was von der romanischen Stephanskirche in Wien noch übriggeblieben ist.
Diese ganz persönlichen Begegnungen und Begehungen führen auch dazu, dass Walter Seitter jedes Monument als ein Individuum betrachtet, das in seine Geschichte eingebettet ist, zu der auch die "Nachgeschichte" gehört - also auch all jene Veränderungen, die im Laufe der Zeit den Bauwerken "passiert" sind.
Die geographische Streuung dieser vier Monumente zeigt schon, dass sich das Phänomen der "verspäteten Romanik" nicht auf eine einzige Region beschränkt, auch nicht auf den Ostrand des Heiligen Römischen Reiches. So hat Walter Seitter auch seine Erfahrungen mit dem Mittelalter in Griechenland und Zypern in dieses Buch einfließen lassen. - Sein Resümee im Sinne einer Geopolitik lautet daher: "Die Kunstgeschichte kann es sich heute nicht mehr leisten, die Kunstgeographie zu verdrängen oder nur so halb bewusst mitzuschleppen."
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2013Im Kirchgarten brach der Autor einst einen Apfel vom Baume
In dem Buch „Reaktionäre Romanik“ versucht der Medientheoretiker Walter Seitter, den Wandel von Rund- zu Spitzbögen zu erklären. Was ist davon zu halten?
Wir kennen sie alle: die Rundbögen der Romanik, die Spitzbögen der Gotik. Eine Epochenwende der europäischen Kultur. Was steckt dahinter? Walter Seitter, Medientheoretiker und verdienstvoller Übersetzer Michel Foucaults, versucht sich jetzt in seinem neuen Buch an einer Antwort. Sie folgt subjektiven Impressionen: „Ich besuche, erblicke, bespreche.“ Fünf annotierende Essays, nicht strenge wissenschaftliche Abhandlungen, zu vier berühmten Bauwerken des 13. Jahrhunderts und eine Konklusion deuten den Chor der Dorfkirche im österreichischen Schöngrabern, das kaiserliche Castel del Monte in Apulien, die Naumburger Stifterfiguren sowie den Wiener Stephansdom vor seiner Erhebung zur Bischofskirche. Äußerungen späterer Besucher oder Betrachter der vier Objekte kontrastieren das eigene Erleben oder Nichterleben. Das abschließende Kapitel gilt dem „Widerstand gegen den gotischen Fortschritt“.
Der rätselhafte Figurenschmuck an der Außenseite des Schöngraberner Chores, in deren Kirchgarten der Autor einst einen Apfel vom Baume brach, dient als Exempel dafür, dass die „moderne Wissensgeschichte (über die Kirche) auf eine größere Wissens-, Nicht-Wissens-, Erkenntnis-und Verdeckungsgeschichte“ bezogen wird. Nichts ist bekannt über die Bauherren und Baumeister, verborgen die Deutung der Figuren, die viele Auslegungen gestatten, verborgen der Sinn des Ganzen. Dennoch, „Konklusionen“, nur „eigene Meinungen“, werden angeboten: Die Figuren besäßen ihre eigene Ordnung, die nicht von Texten abhängig sei; ihre „Bildordnung“ sei nur „visuell“ zu erfassen und nötige zu einem „Lesen“, das doch ein „Sehen“ bleibe.
Die Impressionen zu Friedrichs II. Castel del Monte, das der Kaiser wohl nie bewohnte, folgen einem Besuch am 6. September 1994. Seitter schildert den fortifikatorischen Eindruck, den das achteckige Bauwerk auf ihn machte und mit dem das Kastell „spiele“, empfindet weiter einen klösterlichen Charakter des Innern und schließt daraus mit Blick auf die (vermutlich) zisterziensische Bauhütte auf eine „monumentarisch-symbolische Herrschaftsmetastase, welche die zisterziensische und rittermönchische Dynamik in sich eingebaut hat“. Das Ganze aber sei – so mit Berufung auf E. H. Kantorowicz – eine „Verkörperung einer unsichtbaren Krone“ Friedrichs II., mehr noch: „der Zweitkörper oder Metakörper des Kaisers“.
Man kann es auch anders sehen. Dysfunktional, nämlich quasi-militärisch und quasi-sakral, ist da nichts. Militärisches ist nicht zu entdecken, und von einem Sakralraum fehlt jede Spur, nicht einmal der Herrscherkult des Kaisers als Vater und Sohn der Gerechtigkeit schlug sich nieder. Die Architektur gleicht keinem Kloster; keines besitzt wie Castel del Monte jeweils durch Türen miteinander verbundene oder nur durch ein Wegelabyrinth zu betretende Zellen. Hier fehlt alles, was ein Kloster ausmachte. Arabische Architektur mag den Bauherrn inspiriert haben; aber der Vergleich mit muslimischen Militärklöstern wird der zweifellos intendierten Eigennutzung durch den Kaiser nicht gerecht.
Die Doppelchoranlage von Naumburg, deren gotische Teile sich nicht verbergen, unterliege, so Seitter, einem unzeitgemäßen romanischen Strukturprinzip. Doch angesichts der Baugeschichte der Kirche überzeugt die unzeitgemäße Betrachtung nicht, die an der neueren bau- und kunsthistorischen Forschung vorbeigeht.
Im Naumburger Westchor stehen die berühmten Stifterfiguren. Walter Seitter interpretiert ihr Ensemble als „eine aufwendige Maschine zum Stifter-Werden“, nur möglich in der dem Weltlichen und Heidnischen noch zugewandten Mitte des 13. Jahrhunderts, überhöht gar die Apparatur als „eine wirkungsvolle Maschine zur paritätischen, fast demokratischen, zur aristokratisch-liberalen sowie zur christlich-bekehrenden Mehrung der Würdenträger“. Wer das mittelalterliche Toten- und Stiftergedenken, das kulturstiftende Memorialwesen, die Formen einstiger Religiosität kennt, wird mit solchen Aussagen wenig anfangen können. Doch das Buch dreht sich ja weniger um die Zeitgenossen des 13./14. Jahrhunderts, als vielmehr um Walter Seitter und seine Blicke auf die Figuren.
Die Impressionen zu Wiens Stephanskirche beschränken sich auf ihre romanischen Reste, auf die als konservativ eingestufte „Fürstenempore“ im Westen und auf die beiden Bündelpfeiler beidseits des „Riesentores“, die für Phallus und Vulva gelten, als weltliche Zeichen, vielleicht heidnische Relikte.
Abschließend werden im wichtigsten Kapitel dieses Bandes Romanik und Gotik phänomenologisch differenziert: Die gotische Kathedrale wird mit Hans Sedlmayrs Buch von 1950 als Abbild des Himmels gedeutet. Ihm folgend, unterscheidet Seitter die beiden „Raumsysteme“ des Kirchenbaus. Die Gotik breche mit der romanischen Heterotopie. Der Vierungsturm, das Westwerk, die Krypta verschwänden, stattdessen ragten Fassade, hohe Wände, Maßwerk und Strebepfeiler empor.
Zweifel drängen sich auf. Westwerke etwa treten keineswegs an allen Stifts- und Klosterkirchen auf, gewöhnlich nicht in Bischofs- oder Pfarrkirchen. Sie verschwinden mit dem 11. Jahrhundert, erreichen also nicht die Hochromanik. Eine Empore ist auch kein „Westwerk“. Seitter vermengt die kunsthistorischen Kategorien so weit, dass sie für keine Typologie mehr brauchbar sind. Emporen im Westen – wie im romanischen Teil der Stephanskirche – weisen ungezählte gotische Kirchen auf, sie können schwerlich als „reaktionär“ gelten.
Und die Krypta? Die Kathedrale von Chartres, um nur diesen wegweisenden gotischen Bau zu nennen, hat die ältere romanische Krypta beibehalten. Nicht ein vorgegebenes Raumsystem änderte den Bauplan, vielmehr die scholastische Theologie, die zeitgenössische Liturgie, die gewandelten Bedürfnisse der neuen Intellektuellen und geistlichen Gemeinschaften, der bevölkerungsstarken Stadtgemeinden und wachsenden Pilgerströme, nicht zuletzt das aufkommende Ablasswesen. Von alldem schweigt Walter Seitter.
Wichtig aber ist ihm, die Romanik einem Großraum, „Groß-Romanik“ genannt, einzubinden, der sich von Westeuropa über Byzanz nach Asien (Armenien) und Afrika erstreckt habe. Damit soll, verstehe ich es recht, die „Geopolitik“ im Untertitel des Buches legitimiert werden. Der gotische „Fortschritt“ habe diese Einheit beendet, habe das lateinische Europa isoliert, es „westlich“ gemacht. Ein zerstörerischer „Atlantic-Turn“ des Westens.
Meinetwegen. Doch wieso „Fortschritt“? Warum liegt im Verzicht beispielsweise auf die Vierungskuppel ein „Fortschritt“? Was das Reaktionäre dieser Romanik sein soll, wird nicht deutlich. Die Zeitstellung, dass nämlich in einigen Regionen West-, Süd- oder Mitteleuropas noch „romanisch“ gebaut wurde, obgleich in der Île de France die ersten gotischen Kirchen emporwuchsen, kann ein so politisches Urteil schwerlich begründen. Auch die Romanik verharrte nicht im Stillstand. War es Fortschritt, dass die Bauherren des Westens sich nicht am Speyrer Dom orientierten?
Warum sollte man die französische Gotik aufgreifen? Zweieinhalb Jahrhunderte später wird sie verachtet werden. Die „unaufhörliche Macht der Gotik“, die in England wirksam gewesen sein soll, lässt sich als bloße sprachliche Metapher, die das Hergebrachte und Fortgeschriebene hypostasiert und dämonisiert, kaum für den Gotik-Erfolg in Anspruch nehmen. Ihr würde eine „Macht der Romanik“ entsprechen, die der Autor gar nicht erst aufkommen lässt, weil er die Ästhetik des Stils sogleich zur „symbolische(n) politische(n) Kontinuität“ umwertet.
Treffender für die Begründung des Erfolgs des neuen gotischen Baustils könnte der Hinweis auf den neuen Orden der Zisterzienser sein. Doch dieser nahm gerade nicht vom Herzen Frankreichs, dem Heimatland der Gotik, seinen Ausgang, sondern von Burgund; Stephan Harding, der für den ersten Erfolg der Zisterzienser entscheidende Abt, kam aus England, Bernhard von Clairvaux aus Burgund. Und der gotischen Kathedrale ähneln die Zisterzen nicht im Entferntesten.
Wichtiger freilich als der Orden mit seinem nüchternen Baustil dürfte – von Walter Seitter unbeachtet – die endlose Reihe der Studenten an den Hohen Schulen der Île de France gewesen sein. Sie lebten jahrelang im Schatten der neuen Kathedralen, sie formten an ihnen ihr Stilempfinden und trugen ihr Sehen als Wissen und Verlangen nach Hause. Nicht zuletzt beflügelte dann Konkurrenz unter den Kirchenfürsten, Kirchenstiftern oder bauwilligen Kommunen die Innovation. „Musste“ man es nicht dem Nachbarn gleichtun? Prächtiger die Fassaden, höher die Türme, reicher das Maßwerk, größer die Rosetten . . .
Das freilich hat mit „nordisch“, „germanisch“ und „keltisch“ nichts zu schaffen – Wörter, die Walter Seitter, auf Sedlmayr gestützt, anbietet, um das „Gotische“ zu fassen. Typologisierungen mithilfe derartiger Zuschreibungen wecken anachronistische ideologische Assoziationen, die Vergangenheit sein sollten. Es gab zu keiner Zeit eine „germanische“ oder eine „keltische“ Kultur. Man bedenke doch: Vercingetorix, Cäsars Prototyp des Kelten, hatte einen „keltischen“ Vater und eine „germanische“ Mutter. Die Artus-Epik entstand gerade nicht in der Île de France, wo die königlichen Kathedralen sich auftürmten, sondern im anglonormannischen Reich. Die Minnelyrik besaß ihre Wurzeln in Aquitanien und jenseits der Pyrenäen und gerade nicht im königlichen Frankreich.
Das Erblicken und Besprechen, die Arbeitsmaxime Walter Seitters in diesem Buch, mag in Verbindung mit erinnertem Wissen für einen ersten Eindruck stehen: Ich sehe, was ich in Worte fassen kann. Doch zur Deutung großer Monumente – „reaktionär“, gar „Widerstand gegen gotischen Fortschritt“, „Geopolitik“ – ist es sachlich unzureichend und analytisch unangemessen. Man reist wohl doch besser mit einem aktuellen Kunstführer in der Hand. Er hat schon in Worte gefasst, was es zu sehen gibt.
JOHANNES FRIED
Gab es „Widerstand gegen den
gotischen Fortschritt“, der Europa
„westlich“ gemacht hat?
Prächtiger die
Fassaden,
höher die Türme . . .
Was ist die „Macht der Romanik“? Rätselhafter Figurenschmuck an der Dorfkirche von Schöngrabern in Niederösterreich, 13. Jahrhundert.
FOTO: ULLSTEIN BILD
Walter Seitter: Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik. Sonderzahl
Verlag, Wien 2012.
139 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In dem Buch „Reaktionäre Romanik“ versucht der Medientheoretiker Walter Seitter, den Wandel von Rund- zu Spitzbögen zu erklären. Was ist davon zu halten?
Wir kennen sie alle: die Rundbögen der Romanik, die Spitzbögen der Gotik. Eine Epochenwende der europäischen Kultur. Was steckt dahinter? Walter Seitter, Medientheoretiker und verdienstvoller Übersetzer Michel Foucaults, versucht sich jetzt in seinem neuen Buch an einer Antwort. Sie folgt subjektiven Impressionen: „Ich besuche, erblicke, bespreche.“ Fünf annotierende Essays, nicht strenge wissenschaftliche Abhandlungen, zu vier berühmten Bauwerken des 13. Jahrhunderts und eine Konklusion deuten den Chor der Dorfkirche im österreichischen Schöngrabern, das kaiserliche Castel del Monte in Apulien, die Naumburger Stifterfiguren sowie den Wiener Stephansdom vor seiner Erhebung zur Bischofskirche. Äußerungen späterer Besucher oder Betrachter der vier Objekte kontrastieren das eigene Erleben oder Nichterleben. Das abschließende Kapitel gilt dem „Widerstand gegen den gotischen Fortschritt“.
Der rätselhafte Figurenschmuck an der Außenseite des Schöngraberner Chores, in deren Kirchgarten der Autor einst einen Apfel vom Baume brach, dient als Exempel dafür, dass die „moderne Wissensgeschichte (über die Kirche) auf eine größere Wissens-, Nicht-Wissens-, Erkenntnis-und Verdeckungsgeschichte“ bezogen wird. Nichts ist bekannt über die Bauherren und Baumeister, verborgen die Deutung der Figuren, die viele Auslegungen gestatten, verborgen der Sinn des Ganzen. Dennoch, „Konklusionen“, nur „eigene Meinungen“, werden angeboten: Die Figuren besäßen ihre eigene Ordnung, die nicht von Texten abhängig sei; ihre „Bildordnung“ sei nur „visuell“ zu erfassen und nötige zu einem „Lesen“, das doch ein „Sehen“ bleibe.
Die Impressionen zu Friedrichs II. Castel del Monte, das der Kaiser wohl nie bewohnte, folgen einem Besuch am 6. September 1994. Seitter schildert den fortifikatorischen Eindruck, den das achteckige Bauwerk auf ihn machte und mit dem das Kastell „spiele“, empfindet weiter einen klösterlichen Charakter des Innern und schließt daraus mit Blick auf die (vermutlich) zisterziensische Bauhütte auf eine „monumentarisch-symbolische Herrschaftsmetastase, welche die zisterziensische und rittermönchische Dynamik in sich eingebaut hat“. Das Ganze aber sei – so mit Berufung auf E. H. Kantorowicz – eine „Verkörperung einer unsichtbaren Krone“ Friedrichs II., mehr noch: „der Zweitkörper oder Metakörper des Kaisers“.
Man kann es auch anders sehen. Dysfunktional, nämlich quasi-militärisch und quasi-sakral, ist da nichts. Militärisches ist nicht zu entdecken, und von einem Sakralraum fehlt jede Spur, nicht einmal der Herrscherkult des Kaisers als Vater und Sohn der Gerechtigkeit schlug sich nieder. Die Architektur gleicht keinem Kloster; keines besitzt wie Castel del Monte jeweils durch Türen miteinander verbundene oder nur durch ein Wegelabyrinth zu betretende Zellen. Hier fehlt alles, was ein Kloster ausmachte. Arabische Architektur mag den Bauherrn inspiriert haben; aber der Vergleich mit muslimischen Militärklöstern wird der zweifellos intendierten Eigennutzung durch den Kaiser nicht gerecht.
Die Doppelchoranlage von Naumburg, deren gotische Teile sich nicht verbergen, unterliege, so Seitter, einem unzeitgemäßen romanischen Strukturprinzip. Doch angesichts der Baugeschichte der Kirche überzeugt die unzeitgemäße Betrachtung nicht, die an der neueren bau- und kunsthistorischen Forschung vorbeigeht.
Im Naumburger Westchor stehen die berühmten Stifterfiguren. Walter Seitter interpretiert ihr Ensemble als „eine aufwendige Maschine zum Stifter-Werden“, nur möglich in der dem Weltlichen und Heidnischen noch zugewandten Mitte des 13. Jahrhunderts, überhöht gar die Apparatur als „eine wirkungsvolle Maschine zur paritätischen, fast demokratischen, zur aristokratisch-liberalen sowie zur christlich-bekehrenden Mehrung der Würdenträger“. Wer das mittelalterliche Toten- und Stiftergedenken, das kulturstiftende Memorialwesen, die Formen einstiger Religiosität kennt, wird mit solchen Aussagen wenig anfangen können. Doch das Buch dreht sich ja weniger um die Zeitgenossen des 13./14. Jahrhunderts, als vielmehr um Walter Seitter und seine Blicke auf die Figuren.
Die Impressionen zu Wiens Stephanskirche beschränken sich auf ihre romanischen Reste, auf die als konservativ eingestufte „Fürstenempore“ im Westen und auf die beiden Bündelpfeiler beidseits des „Riesentores“, die für Phallus und Vulva gelten, als weltliche Zeichen, vielleicht heidnische Relikte.
Abschließend werden im wichtigsten Kapitel dieses Bandes Romanik und Gotik phänomenologisch differenziert: Die gotische Kathedrale wird mit Hans Sedlmayrs Buch von 1950 als Abbild des Himmels gedeutet. Ihm folgend, unterscheidet Seitter die beiden „Raumsysteme“ des Kirchenbaus. Die Gotik breche mit der romanischen Heterotopie. Der Vierungsturm, das Westwerk, die Krypta verschwänden, stattdessen ragten Fassade, hohe Wände, Maßwerk und Strebepfeiler empor.
Zweifel drängen sich auf. Westwerke etwa treten keineswegs an allen Stifts- und Klosterkirchen auf, gewöhnlich nicht in Bischofs- oder Pfarrkirchen. Sie verschwinden mit dem 11. Jahrhundert, erreichen also nicht die Hochromanik. Eine Empore ist auch kein „Westwerk“. Seitter vermengt die kunsthistorischen Kategorien so weit, dass sie für keine Typologie mehr brauchbar sind. Emporen im Westen – wie im romanischen Teil der Stephanskirche – weisen ungezählte gotische Kirchen auf, sie können schwerlich als „reaktionär“ gelten.
Und die Krypta? Die Kathedrale von Chartres, um nur diesen wegweisenden gotischen Bau zu nennen, hat die ältere romanische Krypta beibehalten. Nicht ein vorgegebenes Raumsystem änderte den Bauplan, vielmehr die scholastische Theologie, die zeitgenössische Liturgie, die gewandelten Bedürfnisse der neuen Intellektuellen und geistlichen Gemeinschaften, der bevölkerungsstarken Stadtgemeinden und wachsenden Pilgerströme, nicht zuletzt das aufkommende Ablasswesen. Von alldem schweigt Walter Seitter.
Wichtig aber ist ihm, die Romanik einem Großraum, „Groß-Romanik“ genannt, einzubinden, der sich von Westeuropa über Byzanz nach Asien (Armenien) und Afrika erstreckt habe. Damit soll, verstehe ich es recht, die „Geopolitik“ im Untertitel des Buches legitimiert werden. Der gotische „Fortschritt“ habe diese Einheit beendet, habe das lateinische Europa isoliert, es „westlich“ gemacht. Ein zerstörerischer „Atlantic-Turn“ des Westens.
Meinetwegen. Doch wieso „Fortschritt“? Warum liegt im Verzicht beispielsweise auf die Vierungskuppel ein „Fortschritt“? Was das Reaktionäre dieser Romanik sein soll, wird nicht deutlich. Die Zeitstellung, dass nämlich in einigen Regionen West-, Süd- oder Mitteleuropas noch „romanisch“ gebaut wurde, obgleich in der Île de France die ersten gotischen Kirchen emporwuchsen, kann ein so politisches Urteil schwerlich begründen. Auch die Romanik verharrte nicht im Stillstand. War es Fortschritt, dass die Bauherren des Westens sich nicht am Speyrer Dom orientierten?
Warum sollte man die französische Gotik aufgreifen? Zweieinhalb Jahrhunderte später wird sie verachtet werden. Die „unaufhörliche Macht der Gotik“, die in England wirksam gewesen sein soll, lässt sich als bloße sprachliche Metapher, die das Hergebrachte und Fortgeschriebene hypostasiert und dämonisiert, kaum für den Gotik-Erfolg in Anspruch nehmen. Ihr würde eine „Macht der Romanik“ entsprechen, die der Autor gar nicht erst aufkommen lässt, weil er die Ästhetik des Stils sogleich zur „symbolische(n) politische(n) Kontinuität“ umwertet.
Treffender für die Begründung des Erfolgs des neuen gotischen Baustils könnte der Hinweis auf den neuen Orden der Zisterzienser sein. Doch dieser nahm gerade nicht vom Herzen Frankreichs, dem Heimatland der Gotik, seinen Ausgang, sondern von Burgund; Stephan Harding, der für den ersten Erfolg der Zisterzienser entscheidende Abt, kam aus England, Bernhard von Clairvaux aus Burgund. Und der gotischen Kathedrale ähneln die Zisterzen nicht im Entferntesten.
Wichtiger freilich als der Orden mit seinem nüchternen Baustil dürfte – von Walter Seitter unbeachtet – die endlose Reihe der Studenten an den Hohen Schulen der Île de France gewesen sein. Sie lebten jahrelang im Schatten der neuen Kathedralen, sie formten an ihnen ihr Stilempfinden und trugen ihr Sehen als Wissen und Verlangen nach Hause. Nicht zuletzt beflügelte dann Konkurrenz unter den Kirchenfürsten, Kirchenstiftern oder bauwilligen Kommunen die Innovation. „Musste“ man es nicht dem Nachbarn gleichtun? Prächtiger die Fassaden, höher die Türme, reicher das Maßwerk, größer die Rosetten . . .
Das freilich hat mit „nordisch“, „germanisch“ und „keltisch“ nichts zu schaffen – Wörter, die Walter Seitter, auf Sedlmayr gestützt, anbietet, um das „Gotische“ zu fassen. Typologisierungen mithilfe derartiger Zuschreibungen wecken anachronistische ideologische Assoziationen, die Vergangenheit sein sollten. Es gab zu keiner Zeit eine „germanische“ oder eine „keltische“ Kultur. Man bedenke doch: Vercingetorix, Cäsars Prototyp des Kelten, hatte einen „keltischen“ Vater und eine „germanische“ Mutter. Die Artus-Epik entstand gerade nicht in der Île de France, wo die königlichen Kathedralen sich auftürmten, sondern im anglonormannischen Reich. Die Minnelyrik besaß ihre Wurzeln in Aquitanien und jenseits der Pyrenäen und gerade nicht im königlichen Frankreich.
Das Erblicken und Besprechen, die Arbeitsmaxime Walter Seitters in diesem Buch, mag in Verbindung mit erinnertem Wissen für einen ersten Eindruck stehen: Ich sehe, was ich in Worte fassen kann. Doch zur Deutung großer Monumente – „reaktionär“, gar „Widerstand gegen gotischen Fortschritt“, „Geopolitik“ – ist es sachlich unzureichend und analytisch unangemessen. Man reist wohl doch besser mit einem aktuellen Kunstführer in der Hand. Er hat schon in Worte gefasst, was es zu sehen gibt.
JOHANNES FRIED
Gab es „Widerstand gegen den
gotischen Fortschritt“, der Europa
„westlich“ gemacht hat?
Prächtiger die
Fassaden,
höher die Türme . . .
Was ist die „Macht der Romanik“? Rätselhafter Figurenschmuck an der Dorfkirche von Schöngrabern in Niederösterreich, 13. Jahrhundert.
FOTO: ULLSTEIN BILD
Walter Seitter: Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik. Sonderzahl
Verlag, Wien 2012.
139 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Walter Seitter verspricht in seinem Buch "Reaktionäre Romanik" fünf Essays über den architektonischen und kulturellen Wandel von der Romanik zur Gotik, keine strengen wissenschaftlichen Abhandlungen sollen sie sein, sondern nur seine "eigene Meinung", berichtet Johannes Fried. Aber auch Meinungen müssen gewissen Ansprüchen genügen, findet der Rezensent, und Seitters seien "sachlich unzureichend und analytisch unangemessen". Friedrichs II. Castel del Monte unterstellt der Autor beispielsweise eine "rittermönchische Dynamik", halb Festung, halb Kloster, dabei ist in Wahrheit weder Militärisches noch Sakrales zu entdecken, wundert sich der Rezensent. Wer sich mit dem mittelalterlichen Stiftergedenken auskennt, wird sich auch mit Seitters anschließender Interpretation der Figuren im Naumburger Westchor nicht anfreunden können, warnt Fried. Wenn der Autor nur schildern möchte, was er sieht, sollte er mit verallgemeinernden Aussagen über eine "reaktionäre Romanik" vorsichtiger sein, findet Fried, ein erster Eindruck ersetze nun mal keine umfangreiche Forschung. Mit einem aktuellen Kunstreiseführer in der Hand reist es sich immer noch besser, vermutet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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