A FINALIST FOR THE 2020 BOOKER PRIZE A NEW YORK TIMES EDITORS' CHOICE "A blistering coming of age story"-O: The Oprah Magazine One of the year's most talked about novels, following a young man who runs away to a Midwestern university townonly to fight a deeper psychic battle. A novel of rare emotional power that excavates the social intricacies of a late-summer weekend-and a lifetime of buried pain. Almost everything about Wallace, an introverted African-American transplant from Alabama, is at odds with the lakeside Midwestern university town where he is working toward a biochem degree. For reasons of self-preservation, Wallace has enforced a wary distance even within his own circle of friends-some dating each other, some dating women, some feigning straightness. But a series of confrontations with colleagues, and an unexpected encounter with a young straight man, conspire to fracture his defenses, while revealing hidden currents of resentment and desire that threaten the equilibrium of their community. Real Life is a gut punch of a novel, a story that asks if it's ever really possible to overcome our private wounds and buried histories-and at what cost.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Lieber Krieg als Heuchelei
In Brandon Taylors Roman „Real Life“ brechen an einer amerikanischen Kleinstadtuni mühsam verdrängte Konflikte um race, class und gender auf
Bevor sich Wallace, der Protagonist in Brandon Taylors Roman „Real Life“ den Menschen zuwendet, betrachtet er Nematoden. Nematoden sind winzige Würmer, die Wallace zu Forschungszwecken züchtet und kreuzt. Es geht um die „Regulation und Steuerung der Genexpression, Markierung eines Proteins, Entfernen oder Hinzugeben bestimmter Abschnitte des genetischen Materials“. Doch nun ist eine Tragödie passiert: Jemand oder etwas hat die Kulturen verunreinigt, die Nematoden, die Tage zuvor noch „schön und perfekt“ waren, sie sterben. Wallace hat diese Katastrophe bei der Arbeit an seiner Promotion um Monate zurückgeworfen.
Er würde sich am liebsten im Labor einsperren, um allein zu sein mit den Rüttlern, Zentrifugen, Autoklaven und Brutschränken. Doch es ist Freitag, und seine Kommilitonen schicken schon Mails herum, um ein abendliches Treffen am See zu organisieren, Auftakt für ein spätsommerliches Wochenende mit Abendessen und Parties, Tennis, Segeln und Sex, das ihn glücklich machen sollte und ihn doch verzweifelt zurücklässt.
Wallace ist einer der ganz wenigen Schwarzen in dieser Universitätsstadt im Mittleren Westen, die sehr klein ist und enorm viel Lebensqualität besitzt. Er ist auch der erste schwarze Doktorand am Biochemie-Institut. Er kam hierher mit der festen Absicht, ein „alternatives Ich“ zu entwerfen, „eine nach seinen Vorstellungen gestaltete Version seiner selbst, ohne Familie und ohne Vergangenheit“, fernab seiner Kindheit voller Einsamkeit, Missbrauch und Alkoholismus. Doch dieses Projekt scheint an diesem Wochenende endgültig zu scheitern. Vielleicht ist es der Tod seiner Würmer, vielleicht auch der Tod seines Vaters: Die mühsam unterdrückte Fremdheit, die er in dieser weißen Welt empfindet, sie platzt in den Vordergrund seines Bewusstseins. Nun, da seine Nematoden tot sind, richtet er seinen Wissenschaftsblick auch auf die Lebewesen außerhalb des Labors, die er, der dickliche Schwule, begehrt, und die ihn zugleich abstoßen. Er beobachtet die Kontraktion ihrer Muskeln, die Struktur ihrer Knochen, die Glätte ihrer hellen Haut. Die Welt um ihn scheint zu zerfallen in lauter potenzielle Studienobjekte. Mal hält er seine Lupe auf die Nahrung: „Das Essen weißer Leute ist hässlich anzusehen, hat ein fades, gestrecktes, verwässertes Aroma und eine merkwürdige Konsistenz.“ Mal analysiert er das Trinkwasser, es riecht in dieser Stadt „stark nach Chlor und schmeckt alkalisch“. Und wenn dann Rassismus und Klassenunterschiede, Kindheitstraumata und sexuelle Fantasien, die ein paar Semester lang notdürftig verräumt und übertüncht waren, plötzlich bei Craft-Bier und Quinoa-Salat mitten unter den lächelnden Freunden stehen wie böse Geister, dann ist das auch sein Werk. Ihm ist Krieg lieber als geheuchelte Harmonie. Er will sie vorführen mit ihrem verlogenen Verständnistalk und ihren banalen Therapie-Sprüchen. „Egal wie nett sie sind“, konstatiert er kühl, „sie werden sich immer auf die andere Seite schlagen“, die Seite der Weißen nämlich.
Es fällt schwer, „Real Life“ nicht auch als eine Abrechnung Taylors zu lesen. Der 1989 geborene Autor, dessen Buch 2020 auf der Shortlist des Booker Prize stand, ist ebenfalls schwarz und schwul, ebenfalls in Alabama aufgewachsen und studierte ebenfalls Biochemie, bevor er an Unis im Mittleren Westen Schriftsteller wurde. Heute lebt er in Iowa City.
Gnadenlos stellt er nun das ihm offenkundig bestens vertraute Smalltalk-Geklapper, das seinen Protagonisten in den Wahnsinn treibt, im Maßstab 1:1 aus. Deutet aber auch auf die Ödnis und Flachheit in dessen Leben: Was passiert zum Beispiel, wenn er geduscht hat? „Die Luft im Badezimmer ist feucht.“ Es ist ein riskantes Verfahren, denn auch sein Buch droht dabei öde zu werden. Immer mal wieder versteigt er sich auch zu prätentiösem Blabla: „Er kocht nicht oft für andere und muss deshalb auch nicht die Landschaft fremder Vorlieben kartieren.“ In den vielen guten Momenten jedoch erzeugt er aus der kargen Monotonie einen kraftvollen, erstaunlich sinnlichen Minimalismus. Dieser Kargheit und Kühle steht eine irritierende Intensität gegenüber. Besonders in der zweiten Hälfte, als Wallace aus dem Kreis seiner Freunde driftet und hinein in eine hitzige Beziehung mit dem Hetero Morris, erlaubt Taylor dem Leser kaum noch Distanz. Man gäbe einiges für einen gelegentlichen Schwenk über den Horizont, für einen Ortswechsel, für einen Song aus dem Radio. Statt dessen fällt einem beim Lesen die Decke auf den Kopf. Der Raum wird immer enger, immer klaustrophobischer.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Das Essen weißer Leute ist
hässlich anzusehen, hat
ein fades, verwässertes Aroma
Brandon Taylor:
Real Life.
Roman. Aus dem
Englischen von Eva Bonné.
Piper Verlag,
München 2021.
352 Seiten, 22 Seiten.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Brandon Taylors Roman „Real Life“ brechen an einer amerikanischen Kleinstadtuni mühsam verdrängte Konflikte um race, class und gender auf
Bevor sich Wallace, der Protagonist in Brandon Taylors Roman „Real Life“ den Menschen zuwendet, betrachtet er Nematoden. Nematoden sind winzige Würmer, die Wallace zu Forschungszwecken züchtet und kreuzt. Es geht um die „Regulation und Steuerung der Genexpression, Markierung eines Proteins, Entfernen oder Hinzugeben bestimmter Abschnitte des genetischen Materials“. Doch nun ist eine Tragödie passiert: Jemand oder etwas hat die Kulturen verunreinigt, die Nematoden, die Tage zuvor noch „schön und perfekt“ waren, sie sterben. Wallace hat diese Katastrophe bei der Arbeit an seiner Promotion um Monate zurückgeworfen.
Er würde sich am liebsten im Labor einsperren, um allein zu sein mit den Rüttlern, Zentrifugen, Autoklaven und Brutschränken. Doch es ist Freitag, und seine Kommilitonen schicken schon Mails herum, um ein abendliches Treffen am See zu organisieren, Auftakt für ein spätsommerliches Wochenende mit Abendessen und Parties, Tennis, Segeln und Sex, das ihn glücklich machen sollte und ihn doch verzweifelt zurücklässt.
Wallace ist einer der ganz wenigen Schwarzen in dieser Universitätsstadt im Mittleren Westen, die sehr klein ist und enorm viel Lebensqualität besitzt. Er ist auch der erste schwarze Doktorand am Biochemie-Institut. Er kam hierher mit der festen Absicht, ein „alternatives Ich“ zu entwerfen, „eine nach seinen Vorstellungen gestaltete Version seiner selbst, ohne Familie und ohne Vergangenheit“, fernab seiner Kindheit voller Einsamkeit, Missbrauch und Alkoholismus. Doch dieses Projekt scheint an diesem Wochenende endgültig zu scheitern. Vielleicht ist es der Tod seiner Würmer, vielleicht auch der Tod seines Vaters: Die mühsam unterdrückte Fremdheit, die er in dieser weißen Welt empfindet, sie platzt in den Vordergrund seines Bewusstseins. Nun, da seine Nematoden tot sind, richtet er seinen Wissenschaftsblick auch auf die Lebewesen außerhalb des Labors, die er, der dickliche Schwule, begehrt, und die ihn zugleich abstoßen. Er beobachtet die Kontraktion ihrer Muskeln, die Struktur ihrer Knochen, die Glätte ihrer hellen Haut. Die Welt um ihn scheint zu zerfallen in lauter potenzielle Studienobjekte. Mal hält er seine Lupe auf die Nahrung: „Das Essen weißer Leute ist hässlich anzusehen, hat ein fades, gestrecktes, verwässertes Aroma und eine merkwürdige Konsistenz.“ Mal analysiert er das Trinkwasser, es riecht in dieser Stadt „stark nach Chlor und schmeckt alkalisch“. Und wenn dann Rassismus und Klassenunterschiede, Kindheitstraumata und sexuelle Fantasien, die ein paar Semester lang notdürftig verräumt und übertüncht waren, plötzlich bei Craft-Bier und Quinoa-Salat mitten unter den lächelnden Freunden stehen wie böse Geister, dann ist das auch sein Werk. Ihm ist Krieg lieber als geheuchelte Harmonie. Er will sie vorführen mit ihrem verlogenen Verständnistalk und ihren banalen Therapie-Sprüchen. „Egal wie nett sie sind“, konstatiert er kühl, „sie werden sich immer auf die andere Seite schlagen“, die Seite der Weißen nämlich.
Es fällt schwer, „Real Life“ nicht auch als eine Abrechnung Taylors zu lesen. Der 1989 geborene Autor, dessen Buch 2020 auf der Shortlist des Booker Prize stand, ist ebenfalls schwarz und schwul, ebenfalls in Alabama aufgewachsen und studierte ebenfalls Biochemie, bevor er an Unis im Mittleren Westen Schriftsteller wurde. Heute lebt er in Iowa City.
Gnadenlos stellt er nun das ihm offenkundig bestens vertraute Smalltalk-Geklapper, das seinen Protagonisten in den Wahnsinn treibt, im Maßstab 1:1 aus. Deutet aber auch auf die Ödnis und Flachheit in dessen Leben: Was passiert zum Beispiel, wenn er geduscht hat? „Die Luft im Badezimmer ist feucht.“ Es ist ein riskantes Verfahren, denn auch sein Buch droht dabei öde zu werden. Immer mal wieder versteigt er sich auch zu prätentiösem Blabla: „Er kocht nicht oft für andere und muss deshalb auch nicht die Landschaft fremder Vorlieben kartieren.“ In den vielen guten Momenten jedoch erzeugt er aus der kargen Monotonie einen kraftvollen, erstaunlich sinnlichen Minimalismus. Dieser Kargheit und Kühle steht eine irritierende Intensität gegenüber. Besonders in der zweiten Hälfte, als Wallace aus dem Kreis seiner Freunde driftet und hinein in eine hitzige Beziehung mit dem Hetero Morris, erlaubt Taylor dem Leser kaum noch Distanz. Man gäbe einiges für einen gelegentlichen Schwenk über den Horizont, für einen Ortswechsel, für einen Song aus dem Radio. Statt dessen fällt einem beim Lesen die Decke auf den Kopf. Der Raum wird immer enger, immer klaustrophobischer.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Das Essen weißer Leute ist
hässlich anzusehen, hat
ein fades, verwässertes Aroma
Brandon Taylor:
Real Life.
Roman. Aus dem
Englischen von Eva Bonné.
Piper Verlag,
München 2021.
352 Seiten, 22 Seiten.
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