Virtuelle Realität ist echte Realität! In seinem höchst originellen Buch liefert der international führende Philosoph David J. Chalmers eine verblüffende Analyse unserer technologischen Zukunft. Er argumentiert, dass virtuelle Welten keine Welten zweiter Klasse sind und dass wir in der virtuellen Realität ein sinnvolles Leben führen können - ja, vielleicht befinden wir uns sogar schon in einer Simulation.
Auf dem Weg dorthin unternimmt Chalmers eine mitreißende Tour durch die großen Ideen der Philosophie und der Wissenschaft. Er nutzt die Technologie der virtuellen Realität, um neue Perspektiven auf altbekannte philosophische Fragen zu eröffnen. Woher wissen wir, dass es eine Außenwelt gibt? Gibt es einen Gott? Was ist die Natur der Realität? Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper? Wie können wir ein gutes Leben führen? All diese Fragen werden durch Chalmers' Analyse in ein anderes Licht gerückt und dadurch auf fruchtbare Weise erhellt.
Gespickt mit wunderbar gewitzten Illustrationen, die abstrakte philosophische Themen anschaulich werden lassen, ist Realität+ ein Grundlagenwerk, das die Diskussion über Philosophie, Wissenschaft und Technologie in den kommenden Jahren prägen wird.
Auf dem Weg dorthin unternimmt Chalmers eine mitreißende Tour durch die großen Ideen der Philosophie und der Wissenschaft. Er nutzt die Technologie der virtuellen Realität, um neue Perspektiven auf altbekannte philosophische Fragen zu eröffnen. Woher wissen wir, dass es eine Außenwelt gibt? Gibt es einen Gott? Was ist die Natur der Realität? Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper? Wie können wir ein gutes Leben führen? All diese Fragen werden durch Chalmers' Analyse in ein anderes Licht gerückt und dadurch auf fruchtbare Weise erhellt.
Gespickt mit wunderbar gewitzten Illustrationen, die abstrakte philosophische Themen anschaulich werden lassen, ist Realität+ ein Grundlagenwerk, das die Diskussion über Philosophie, Wissenschaft und Technologie in den kommenden Jahren prägen wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2023Könnte denn alles nur eine Simulation sein?
Genauso gut wie die Wirklichkeit: David J. Chalmers hält ein entschiedenes Plädoyer für virtuelle Welten
Das Metaversum, jene virtuelle Welt, in der wir nach den Vorstellungen mancher Techkonzerne in Zukunft einen großen Teil unseres Lebens verbringen werden, kommt bislang nicht so recht aus den Startlöchern: Die Technik, die man für den Zugang benötigt, ist klobig und teuer, und zu sehen, geschweige denn zu erleben, gibt es auch noch nicht viel. Doch die Zukunft ist in Arbeit. Der Apple-Konzern hat gerade eine neue VR-Brille vorgestellt, die mit der Stimme und Bewegungen der Hände gesteuert werden kann, Zusatzgeräte sind nicht mehr nötig. Erste Versicherungsunternehmen bieten Beratung und Vertragsabschlüsse in virtueller Realität an und zielen damit auf einen technikaffinen, jungen Kundenkreis.
Doch virtuelle Welten versprechen nicht nur neue Märkte, sie sind, spätestens seit Platons Höhlengleichnis, auch ein reicher Quell philosophischer Fragen. Der Philosoph David Chalmers nutzt sie in seinem neuen Buch für eine Reise durch diese Fragestellungen.
Chalmers, der an der New York University und Australian National University lehrt, ist vor allem für seine Arbeiten zum Bewusstsein bekannt und als Schöpfer des Ausdrucks "the hard problem of consciouness", der heute emblematisch die Frage bezeichnet, warum sich für uns überhaupt etwas auf eine bestimmte Weise anfühlt. Chalmers sagt den virtuellen Welten eine große Zukunft voraus. Wie bislang vor allem Autoren apokalyptischer Science-Fiction geht er davon aus, dass die reale Welt in Zukunft weniger attraktiv, die virtuelle hingegen interessanter werden dürfte, eine "Realität+".
Spätestens in der nächsten Pandemie werden wir uns massenhaft in virtuelle Welten begeben, so der Autor, dort werde der größte Teil unserer sozialen Interaktionen stattfinden. Die nötige Technik werde immer besser, die Headsets werden kleiner, man werde zu Retina- oder Gehirnimplantaten übergehen, und in hundert Jahren seien die virtuellen Welten so gut, dass man sie von realen nicht mehr unterscheiden könne. Menschen würden dann viel Zeit, eventuell ihr ganzes Leben, in der virtuellen Realität verbringen, während ihre Körper in einem Lagerhaus verwahrt werden. Eine Horrorvorstellung? Chalmers verwendet fast siebenhundert Seiten darauf, zu erklären, warum man das auch anders sehen kann.
Seine Vision beruht auf viel Vertrauen in die zukünftige Entwicklung der Technik, aber erst einmal geht es ihm, ganz philosophisch, ums Prinzip: Was wäre, wenn eine solche Realität+ wahr würde? Chalmers beginnt bei der indischen Philosophie ebenso wie der aus der griechischen Antike überlieferten Überlegung, die er Simulationshypothese nennt: Können wir sicher sein, dass wir nicht ohnehin in einer Simulation leben? (Spoiler: Können wir nicht, aber es fehlen die Hinweise, die in Matrix-Geschichten sonst Verdacht erwecken; uns fallen in der Regel keine Bühnenscheinwerfer vor die Füße wie dem Helder der Truman-Show, und die "grafische Oberfläche" ist auch ganz überzeugend.) Ausführlich diskutiert Chalmers die Idee des täuschenden Dämons, wie sie sich bei Teresa von Ávila und Descartes findet, und dessen moderne Variante, das Gedankenexperiment vom Gehirn im Tank. Er versucht auch, die Wahrscheinlichkeit, zu berechnen, dass wir alle Simulationen sind: Sie betrage mindestens fünfundzwanzig Prozent.
Die größte Herausforderung des Buches ist zweifellos, der Intuition beizukommen, dass eine virtuelle Welt, sei sie auch noch so faszinierend, eben doch eine Scheinwelt ist und das Leben darin nur eine Art Kopie oder Spiel sein kann. Für Chalmers hingegen ist ein erfülltes Leben nicht weniger erfüllt, Leiden nicht weniger leidvoll, das Glück nicht weniger glücklich, wenn es "nur" in einer Simulation stattfindet. Virtuellen Realismus nennt er diese Position. Für sie sprechen Berichte, nach denen sich etwa Übergriffe selbst in den rudimentären virtuellen Welten, die wir heute kennen, ausgesprochen real und bedrohlich anfühlen. So wie Farben nicht wirklich an den Objekten seien, sondern erst im Gehirn entstehen und trotzdem für uns völlig real sind, seien eben auch die virtuellen Objekte real. Für den virtuellen Realisten ist die simulierte Katze keine Illusion, sondern ein echtes, allerdings digitales Objekt. VR-Geräte seien daher auch keine Illusions-, sondern Realitätsmaschinen.
Aus der Erkenntnistheorie wechselt Chalmers in die Ontologie, konstatiert, es müsse Hierarchien von Welten geben, denn der Computer, der die Simulation berechnet, stehe in einer höheren, umfassenderen Welt als diese Simulation. Der Schöpfer oder die Schöpferin der Simulation verhalte sich zu dieser wie ein göttliches Wesen. So wird für den, der davon überzeugt ist, in einer Simulation zu leben, die Simulationshypothese zu einem Gottesbeweis, das Nachdenken über die Eigenschaften des Schöpfers einer simulierten Welt zur "Simulationstheologie". Er sei nicht religiös, versichert Chalmers, seit er über Simulationen nachdenke, aber offen für den Gedanken eines höheren Wesens - solang es nicht angebetet werden wolle.
Nach den ersten drei Teilen des Buches kann man seine Grundthese etwa so zusammenfassen: Alles um uns herum könnte eine Simulation sein, das macht aber nichts. Die folgenden Kapitel, in denen er die Konsequenzen dieser Annahme unter anderem für die Natur des Geistes diskutiert und die Frage zu beantworten versucht, welche Bedeutung Werte in der Simulation haben können, sind unabhängig voneinander zu lesen, man kann sich die Reihenfolge aussuchen.
Natürlich darf auch Chalmers' großes Thema nicht fehlen - das Bewusstsein. Kann es in einer Simulation subjektives Erleben geben? Kann man vom Bewusstsein der anderen wissen? Können Maschinen Bewusstsein entwickeln? (Spoiler: Im Prinzip schon.) Wenn man sich darauf einlassen möchte, sein Bewusstsein in ein Computersystem zu laden, möge man dies aber auf jeden Fall langsam tun, empfiehlt Chalmers. Wenn man sich daran orientiere, wie in biologischen Gehirnen nach und nach Neuronen ersetzt werden, ohne dass sich dadurch unsere Persönlichkeit verändert, seien die Chancen, den Prozess zu überleben und bei Bewusstsein zu bleiben, am höchsten. Im letzten Teil geht es dann noch einmal in die richtig abstrakten Themen, um das Verhältnis von Mathematik und Physik etwa, um die Bedeutung von Wörtern und den freien Willen.
In "Realität+" lernt man eine Menge über die Geschichte, auch die Kulturgeschichte der virtuellen Realität. Man bekommt einen Grundkurs in Philosophie, einen Vertiefungskurs in philosophischer Skepsis und einen Ausblick auf potentielle zukünftige Geschäftsfelder wie etwa die "Gehirnsicherheit", die sich damit befassen soll, zu verhindern, dass wir in Fake-Realitäten gelockt werden.
Das Buch schildert ein großes Gedankenexperiment, das immer dort, wo es wenig plausibel ist, mit dem Verweis auf eine in der Zukunft sicher viel überzeugendere Technik mit ganz neuen Möglichkeiten aufrechterhalten wird. Wenn die Simulation erst perfekt ist, werden wir nichts mehr vermissen - außer vielleicht Geburt und Tod. Dann könne man in dieser Simulation ein erfülltes Leben führen. Und wenn die Erdoberfläche erst durch Atomkrieg und Klimawandel zerstört sei und man die Wahl zwischen einem entbehrungsreichen Leben in ständiger Angst und einem angenehmen in einer virtuellen Welt habe, könnte es eine vernünftige Entscheidung sein, die virtuelle Welt zu wählen.
Ausführlich diskutiert Chalmers, was er die Wertfrage nennt: Das virtuelle Leben sei nicht weniger wert als das echte. Leider fehlt in dem Buch die Machtfrage: Wer unterhält die virtuellen Welten? Wer gestaltet sie und regelt den Zugang? Wer profitiert davon, wenn sich der ökonomisch abgehängte Teil der Menschheit in virtuelle Welten absentiert, statt zu protestieren? Natürlich spricht nichts dagegen, sich philosophische Gedanken zu machen, aber in einem Buch, das sich so viel Raum nimmt, um das Thema zu beleuchten, wirkt es realitätsvergessen, von fantastischen simulierten Welten zu schwärmen (dystopische Welten zu schaffen würde verboten), ohne zu thematisieren, warum (große?) Teile der Menschheit in der Zukunft vor der Wahl zwischen einem elenden realen und einem schönen simulierten Leben stehen könnten.
Natürlich sollte es in der virtuellen Welt anständig zugehen, aber es ist dreist, Fragen guter Regierung und Verteilungsgerechtigkeit ausschließlich für die Simulation zu verhandeln, statt die Verhältnisse , die hinter der Entwicklung dieser Welten stehen, zu thematisieren. Es sei schwer einzusehen, was an der Schaffung einer glücklichen Simulation unmoralisch sein sollte, schreibt Chalmers. So fehlt dem umfänglichen Werk leider die Verankerung in der schnöden Wirklichkeit. MANUELA LENZEN
David J. Chalmers:
"Realität+". Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie.
Aus dem Englischen von Björn Brodowski und Jan-Erik Strasser. Suhrkamp, Berlin 2023. 638 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Genauso gut wie die Wirklichkeit: David J. Chalmers hält ein entschiedenes Plädoyer für virtuelle Welten
Das Metaversum, jene virtuelle Welt, in der wir nach den Vorstellungen mancher Techkonzerne in Zukunft einen großen Teil unseres Lebens verbringen werden, kommt bislang nicht so recht aus den Startlöchern: Die Technik, die man für den Zugang benötigt, ist klobig und teuer, und zu sehen, geschweige denn zu erleben, gibt es auch noch nicht viel. Doch die Zukunft ist in Arbeit. Der Apple-Konzern hat gerade eine neue VR-Brille vorgestellt, die mit der Stimme und Bewegungen der Hände gesteuert werden kann, Zusatzgeräte sind nicht mehr nötig. Erste Versicherungsunternehmen bieten Beratung und Vertragsabschlüsse in virtueller Realität an und zielen damit auf einen technikaffinen, jungen Kundenkreis.
Doch virtuelle Welten versprechen nicht nur neue Märkte, sie sind, spätestens seit Platons Höhlengleichnis, auch ein reicher Quell philosophischer Fragen. Der Philosoph David Chalmers nutzt sie in seinem neuen Buch für eine Reise durch diese Fragestellungen.
Chalmers, der an der New York University und Australian National University lehrt, ist vor allem für seine Arbeiten zum Bewusstsein bekannt und als Schöpfer des Ausdrucks "the hard problem of consciouness", der heute emblematisch die Frage bezeichnet, warum sich für uns überhaupt etwas auf eine bestimmte Weise anfühlt. Chalmers sagt den virtuellen Welten eine große Zukunft voraus. Wie bislang vor allem Autoren apokalyptischer Science-Fiction geht er davon aus, dass die reale Welt in Zukunft weniger attraktiv, die virtuelle hingegen interessanter werden dürfte, eine "Realität+".
Spätestens in der nächsten Pandemie werden wir uns massenhaft in virtuelle Welten begeben, so der Autor, dort werde der größte Teil unserer sozialen Interaktionen stattfinden. Die nötige Technik werde immer besser, die Headsets werden kleiner, man werde zu Retina- oder Gehirnimplantaten übergehen, und in hundert Jahren seien die virtuellen Welten so gut, dass man sie von realen nicht mehr unterscheiden könne. Menschen würden dann viel Zeit, eventuell ihr ganzes Leben, in der virtuellen Realität verbringen, während ihre Körper in einem Lagerhaus verwahrt werden. Eine Horrorvorstellung? Chalmers verwendet fast siebenhundert Seiten darauf, zu erklären, warum man das auch anders sehen kann.
Seine Vision beruht auf viel Vertrauen in die zukünftige Entwicklung der Technik, aber erst einmal geht es ihm, ganz philosophisch, ums Prinzip: Was wäre, wenn eine solche Realität+ wahr würde? Chalmers beginnt bei der indischen Philosophie ebenso wie der aus der griechischen Antike überlieferten Überlegung, die er Simulationshypothese nennt: Können wir sicher sein, dass wir nicht ohnehin in einer Simulation leben? (Spoiler: Können wir nicht, aber es fehlen die Hinweise, die in Matrix-Geschichten sonst Verdacht erwecken; uns fallen in der Regel keine Bühnenscheinwerfer vor die Füße wie dem Helder der Truman-Show, und die "grafische Oberfläche" ist auch ganz überzeugend.) Ausführlich diskutiert Chalmers die Idee des täuschenden Dämons, wie sie sich bei Teresa von Ávila und Descartes findet, und dessen moderne Variante, das Gedankenexperiment vom Gehirn im Tank. Er versucht auch, die Wahrscheinlichkeit, zu berechnen, dass wir alle Simulationen sind: Sie betrage mindestens fünfundzwanzig Prozent.
Die größte Herausforderung des Buches ist zweifellos, der Intuition beizukommen, dass eine virtuelle Welt, sei sie auch noch so faszinierend, eben doch eine Scheinwelt ist und das Leben darin nur eine Art Kopie oder Spiel sein kann. Für Chalmers hingegen ist ein erfülltes Leben nicht weniger erfüllt, Leiden nicht weniger leidvoll, das Glück nicht weniger glücklich, wenn es "nur" in einer Simulation stattfindet. Virtuellen Realismus nennt er diese Position. Für sie sprechen Berichte, nach denen sich etwa Übergriffe selbst in den rudimentären virtuellen Welten, die wir heute kennen, ausgesprochen real und bedrohlich anfühlen. So wie Farben nicht wirklich an den Objekten seien, sondern erst im Gehirn entstehen und trotzdem für uns völlig real sind, seien eben auch die virtuellen Objekte real. Für den virtuellen Realisten ist die simulierte Katze keine Illusion, sondern ein echtes, allerdings digitales Objekt. VR-Geräte seien daher auch keine Illusions-, sondern Realitätsmaschinen.
Aus der Erkenntnistheorie wechselt Chalmers in die Ontologie, konstatiert, es müsse Hierarchien von Welten geben, denn der Computer, der die Simulation berechnet, stehe in einer höheren, umfassenderen Welt als diese Simulation. Der Schöpfer oder die Schöpferin der Simulation verhalte sich zu dieser wie ein göttliches Wesen. So wird für den, der davon überzeugt ist, in einer Simulation zu leben, die Simulationshypothese zu einem Gottesbeweis, das Nachdenken über die Eigenschaften des Schöpfers einer simulierten Welt zur "Simulationstheologie". Er sei nicht religiös, versichert Chalmers, seit er über Simulationen nachdenke, aber offen für den Gedanken eines höheren Wesens - solang es nicht angebetet werden wolle.
Nach den ersten drei Teilen des Buches kann man seine Grundthese etwa so zusammenfassen: Alles um uns herum könnte eine Simulation sein, das macht aber nichts. Die folgenden Kapitel, in denen er die Konsequenzen dieser Annahme unter anderem für die Natur des Geistes diskutiert und die Frage zu beantworten versucht, welche Bedeutung Werte in der Simulation haben können, sind unabhängig voneinander zu lesen, man kann sich die Reihenfolge aussuchen.
Natürlich darf auch Chalmers' großes Thema nicht fehlen - das Bewusstsein. Kann es in einer Simulation subjektives Erleben geben? Kann man vom Bewusstsein der anderen wissen? Können Maschinen Bewusstsein entwickeln? (Spoiler: Im Prinzip schon.) Wenn man sich darauf einlassen möchte, sein Bewusstsein in ein Computersystem zu laden, möge man dies aber auf jeden Fall langsam tun, empfiehlt Chalmers. Wenn man sich daran orientiere, wie in biologischen Gehirnen nach und nach Neuronen ersetzt werden, ohne dass sich dadurch unsere Persönlichkeit verändert, seien die Chancen, den Prozess zu überleben und bei Bewusstsein zu bleiben, am höchsten. Im letzten Teil geht es dann noch einmal in die richtig abstrakten Themen, um das Verhältnis von Mathematik und Physik etwa, um die Bedeutung von Wörtern und den freien Willen.
In "Realität+" lernt man eine Menge über die Geschichte, auch die Kulturgeschichte der virtuellen Realität. Man bekommt einen Grundkurs in Philosophie, einen Vertiefungskurs in philosophischer Skepsis und einen Ausblick auf potentielle zukünftige Geschäftsfelder wie etwa die "Gehirnsicherheit", die sich damit befassen soll, zu verhindern, dass wir in Fake-Realitäten gelockt werden.
Das Buch schildert ein großes Gedankenexperiment, das immer dort, wo es wenig plausibel ist, mit dem Verweis auf eine in der Zukunft sicher viel überzeugendere Technik mit ganz neuen Möglichkeiten aufrechterhalten wird. Wenn die Simulation erst perfekt ist, werden wir nichts mehr vermissen - außer vielleicht Geburt und Tod. Dann könne man in dieser Simulation ein erfülltes Leben führen. Und wenn die Erdoberfläche erst durch Atomkrieg und Klimawandel zerstört sei und man die Wahl zwischen einem entbehrungsreichen Leben in ständiger Angst und einem angenehmen in einer virtuellen Welt habe, könnte es eine vernünftige Entscheidung sein, die virtuelle Welt zu wählen.
Ausführlich diskutiert Chalmers, was er die Wertfrage nennt: Das virtuelle Leben sei nicht weniger wert als das echte. Leider fehlt in dem Buch die Machtfrage: Wer unterhält die virtuellen Welten? Wer gestaltet sie und regelt den Zugang? Wer profitiert davon, wenn sich der ökonomisch abgehängte Teil der Menschheit in virtuelle Welten absentiert, statt zu protestieren? Natürlich spricht nichts dagegen, sich philosophische Gedanken zu machen, aber in einem Buch, das sich so viel Raum nimmt, um das Thema zu beleuchten, wirkt es realitätsvergessen, von fantastischen simulierten Welten zu schwärmen (dystopische Welten zu schaffen würde verboten), ohne zu thematisieren, warum (große?) Teile der Menschheit in der Zukunft vor der Wahl zwischen einem elenden realen und einem schönen simulierten Leben stehen könnten.
Natürlich sollte es in der virtuellen Welt anständig zugehen, aber es ist dreist, Fragen guter Regierung und Verteilungsgerechtigkeit ausschließlich für die Simulation zu verhandeln, statt die Verhältnisse , die hinter der Entwicklung dieser Welten stehen, zu thematisieren. Es sei schwer einzusehen, was an der Schaffung einer glücklichen Simulation unmoralisch sein sollte, schreibt Chalmers. So fehlt dem umfänglichen Werk leider die Verankerung in der schnöden Wirklichkeit. MANUELA LENZEN
David J. Chalmers:
"Realität+". Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie.
Aus dem Englischen von Björn Brodowski und Jan-Erik Strasser. Suhrkamp, Berlin 2023. 638 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Das Buch des Philosophen David Chalmers bringt den Rezensenten Michael Hesse zum Nachdenken. Leben wir in der Realität oder nur in einer von einer KI simulierten Wirklichkeit? Nach der Lektüre ist sich Hesse da nicht mehr so sicher, auch wenn er ein bisschen skeptisch bleibt, ob die Ausführungen des Autors nicht mit seiner Vergangenheit als Computerspielefreak zu tun haben. Ein spannendes Gedankenexperiment ist das Buch allemal, versichert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Es ist ein spannendes Gedankenexperiment, das David Chalmers anstellt. Hätte er recht, würden wir mit unseren jetzigen Sorgen und Freuden eben ln einer virtuellen Welt existieren. Was anders wäre? Eigentlich alles, denn es wäre alles nur wie geträumt.« Michael Hesse Frankfurter Rundschau 20230926