David J. Chalmers liefert eine verblüffende Analyse unserer technologischen Zukunft. Er argumentiert, dass virtuelle Welten keine Welten zweiter Klasse sind, dass wir in ihnen ein sinnvolles Leben führen können - ja, uns vielleicht schon in einer Simulation befinden! Chalmers nutzt die Technologie der virtuellen Realität, um neue, erhellende Perspektiven auf altbekannte philosophische Fragen zu eröffnen. Woher wissen wir, dass es eine Außenwelt gibt? Gibt es einen Gott? Was ist die Natur der Realität? Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper? Gespickt mit gewitzt veranschaulichenden Illustrationen ist Realität+ ein Grundlagenwerk für die Diskussion über Philosophie, Wissenschaft und Technologie.
»Es ist ein spannendes Gedankenexperiment, das David Chalmers anstellt. Hätte er recht, würden wir mit unseren jetzigen Sorgen und Freuden eben ln einer virtuellen Welt existieren. Was anders wäre? Eigentlich alles, denn es wäre alles nur wie geträumt.« Michael Hesse Frankfurter Rundschau 20230926
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2023Könnte denn alles nur eine Simulation sein?
Genauso gut wie die Wirklichkeit: David J. Chalmers hält ein entschiedenes Plädoyer für virtuelle Welten
Das Metaversum, jene virtuelle Welt, in der wir nach den Vorstellungen mancher Techkonzerne in Zukunft einen großen Teil unseres Lebens verbringen werden, kommt bislang nicht so recht aus den Startlöchern: Die Technik, die man für den Zugang benötigt, ist klobig und teuer, und zu sehen, geschweige denn zu erleben, gibt es auch noch nicht viel. Doch die Zukunft ist in Arbeit. Der Apple-Konzern hat gerade eine neue VR-Brille vorgestellt, die mit der Stimme und Bewegungen der Hände gesteuert werden kann, Zusatzgeräte sind nicht mehr nötig. Erste Versicherungsunternehmen bieten Beratung und Vertragsabschlüsse in virtueller Realität an und zielen damit auf einen technikaffinen, jungen Kundenkreis.
Doch virtuelle Welten versprechen nicht nur neue Märkte, sie sind, spätestens seit Platons Höhlengleichnis, auch ein reicher Quell philosophischer Fragen. Der Philosoph David Chalmers nutzt sie in seinem neuen Buch für eine Reise durch diese Fragestellungen.
Chalmers, der an der New York University und Australian National University lehrt, ist vor allem für seine Arbeiten zum Bewusstsein bekannt und als Schöpfer des Ausdrucks "the hard problem of consciouness", der heute emblematisch die Frage bezeichnet, warum sich für uns überhaupt etwas auf eine bestimmte Weise anfühlt. Chalmers sagt den virtuellen Welten eine große Zukunft voraus. Wie bislang vor allem Autoren apokalyptischer Science-Fiction geht er davon aus, dass die reale Welt in Zukunft weniger attraktiv, die virtuelle hingegen interessanter werden dürfte, eine "Realität+".
Spätestens in der nächsten Pandemie werden wir uns massenhaft in virtuelle Welten begeben, so der Autor, dort werde der größte Teil unserer sozialen Interaktionen stattfinden. Die nötige Technik werde immer besser, die Headsets werden kleiner, man werde zu Retina- oder Gehirnimplantaten übergehen, und in hundert Jahren seien die virtuellen Welten so gut, dass man sie von realen nicht mehr unterscheiden könne. Menschen würden dann viel Zeit, eventuell ihr ganzes Leben, in der virtuellen Realität verbringen, während ihre Körper in einem Lagerhaus verwahrt werden. Eine Horrorvorstellung? Chalmers verwendet fast siebenhundert Seiten darauf, zu erklären, warum man das auch anders sehen kann.
Seine Vision beruht auf viel Vertrauen in die zukünftige Entwicklung der Technik, aber erst einmal geht es ihm, ganz philosophisch, ums Prinzip: Was wäre, wenn eine solche Realität+ wahr würde? Chalmers beginnt bei der indischen Philosophie ebenso wie der aus der griechischen Antike überlieferten Überlegung, die er Simulationshypothese nennt: Können wir sicher sein, dass wir nicht ohnehin in einer Simulation leben? (Spoiler: Können wir nicht, aber es fehlen die Hinweise, die in Matrix-Geschichten sonst Verdacht erwecken; uns fallen in der Regel keine Bühnenscheinwerfer vor die Füße wie dem Helder der Truman-Show, und die "grafische Oberfläche" ist auch ganz überzeugend.) Ausführlich diskutiert Chalmers die Idee des täuschenden Dämons, wie sie sich bei Teresa von Ávila und Descartes findet, und dessen moderne Variante, das Gedankenexperiment vom Gehirn im Tank. Er versucht auch, die Wahrscheinlichkeit, zu berechnen, dass wir alle Simulationen sind: Sie betrage mindestens fünfundzwanzig Prozent.
Die größte Herausforderung des Buches ist zweifellos, der Intuition beizukommen, dass eine virtuelle Welt, sei sie auch noch so faszinierend, eben doch eine Scheinwelt ist und das Leben darin nur eine Art Kopie oder Spiel sein kann. Für Chalmers hingegen ist ein erfülltes Leben nicht weniger erfüllt, Leiden nicht weniger leidvoll, das Glück nicht weniger glücklich, wenn es "nur" in einer Simulation stattfindet. Virtuellen Realismus nennt er diese Position. Für sie sprechen Berichte, nach denen sich etwa Übergriffe selbst in den rudimentären virtuellen Welten, die wir heute kennen, ausgesprochen real und bedrohlich anfühlen. So wie Farben nicht wirklich an den Objekten seien, sondern erst im Gehirn entstehen und trotzdem für uns völlig real sind, seien eben auch die virtuellen Objekte real. Für den virtuellen Realisten ist die simulierte Katze keine Illusion, sondern ein echtes, allerdings digitales Objekt. VR-Geräte seien daher auch keine Illusions-, sondern Realitätsmaschinen.
Aus der Erkenntnistheorie wechselt Chalmers in die Ontologie, konstatiert, es müsse Hierarchien von Welten geben, denn der Computer, der die Simulation berechnet, stehe in einer höheren, umfassenderen Welt als diese Simulation. Der Schöpfer oder die Schöpferin der Simulation verhalte sich zu dieser wie ein göttliches Wesen. So wird für den, der davon überzeugt ist, in einer Simulation zu leben, die Simulationshypothese zu einem Gottesbeweis, das Nachdenken über die Eigenschaften des Schöpfers einer simulierten Welt zur "Simulationstheologie". Er sei nicht religiös, versichert Chalmers, seit er über Simulationen nachdenke, aber offen für den Gedanken eines höheren Wesens - solang es nicht angebetet werden wolle.
Nach den ersten drei Teilen des Buches kann man seine Grundthese etwa so zusammenfassen: Alles um uns herum könnte eine Simulation sein, das macht aber nichts. Die folgenden Kapitel, in denen er die Konsequenzen dieser Annahme unter anderem für die Natur des Geistes diskutiert und die Frage zu beantworten versucht, welche Bedeutung Werte in der Simulation haben können, sind unabhängig voneinander zu lesen, man kann sich die Reihenfolge aussuchen.
Natürlich darf auch Chalmers' großes Thema nicht fehlen - das Bewusstsein. Kann es in einer Simulation subjektives Erleben geben? Kann man vom Bewusstsein der anderen wissen? Können Maschinen Bewusstsein entwickeln? (Spoiler: Im Prinzip schon.) Wenn man sich darauf einlassen möchte, sein Bewusstsein in ein Computersystem zu laden, möge man dies aber auf jeden Fall langsam tun, empfiehlt Chalmers. Wenn man sich daran orientiere, wie in biologischen Gehirnen nach und nach Neuronen ersetzt werden, ohne dass sich dadurch unsere Persönlichkeit verändert, seien die Chancen, den Prozess zu überleben und bei Bewusstsein zu bleiben, am höchsten. Im letzten Teil geht es dann noch einmal in die richtig abstrakten Themen, um das Verhältnis von Mathematik und Physik etwa, um die Bedeutung von Wörtern und den freien Willen.
In "Realität+" lernt man eine Menge über die Geschichte, auch die Kulturgeschichte der virtuellen Realität. Man bekommt einen Grundkurs in Philosophie, einen Vertiefungskurs in philosophischer Skepsis und einen Ausblick auf potentielle zukünftige Geschäftsfelder wie etwa die "Gehirnsicherheit", die sich damit befassen soll, zu verhindern, dass wir in Fake-Realitäten gelockt werden.
Das Buch schildert ein großes Gedankenexperiment, das immer dort, wo es wenig plausibel ist, mit dem Verweis auf eine in der Zukunft sicher viel überzeugendere Technik mit ganz neuen Möglichkeiten aufrechterhalten wird. Wenn die Simulation erst perfekt ist, werden wir nichts mehr vermissen - außer vielleicht Geburt und Tod. Dann könne man in dieser Simulation ein erfülltes Leben führen. Und wenn die Erdoberfläche erst durch Atomkrieg und Klimawandel zerstört sei und man die Wahl zwischen einem entbehrungsreichen Leben in ständiger Angst und einem angenehmen in einer virtuellen Welt habe, könnte es eine vernünftige Entscheidung sein, die virtuelle Welt zu wählen.
Ausführlich diskutiert Chalmers, was er die Wertfrage nennt: Das virtuelle Leben sei nicht weniger wert als das echte. Leider fehlt in dem Buch die Machtfrage: Wer unterhält die virtuellen Welten? Wer gestaltet sie und regelt den Zugang? Wer profitiert davon, wenn sich der ökonomisch abgehängte Teil der Menschheit in virtuelle Welten absentiert, statt zu protestieren? Natürlich spricht nichts dagegen, sich philosophische Gedanken zu machen, aber in einem Buch, das sich so viel Raum nimmt, um das Thema zu beleuchten, wirkt es realitätsvergessen, von fantastischen simulierten Welten zu schwärmen (dystopische Welten zu schaffen würde verboten), ohne zu thematisieren, warum (große?) Teile der Menschheit in der Zukunft vor der Wahl zwischen einem elenden realen und einem schönen simulierten Leben stehen könnten.
Natürlich sollte es in der virtuellen Welt anständig zugehen, aber es ist dreist, Fragen guter Regierung und Verteilungsgerechtigkeit ausschließlich für die Simulation zu verhandeln, statt die Verhältnisse , die hinter der Entwicklung dieser Welten stehen, zu thematisieren. Es sei schwer einzusehen, was an der Schaffung einer glücklichen Simulation unmoralisch sein sollte, schreibt Chalmers. So fehlt dem umfänglichen Werk leider die Verankerung in der schnöden Wirklichkeit. MANUELA LENZEN
David J. Chalmers:
"Realität+". Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie.
Aus dem Englischen von Björn Brodowski und Jan-Erik Strasser. Suhrkamp, Berlin 2023. 638 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Genauso gut wie die Wirklichkeit: David J. Chalmers hält ein entschiedenes Plädoyer für virtuelle Welten
Das Metaversum, jene virtuelle Welt, in der wir nach den Vorstellungen mancher Techkonzerne in Zukunft einen großen Teil unseres Lebens verbringen werden, kommt bislang nicht so recht aus den Startlöchern: Die Technik, die man für den Zugang benötigt, ist klobig und teuer, und zu sehen, geschweige denn zu erleben, gibt es auch noch nicht viel. Doch die Zukunft ist in Arbeit. Der Apple-Konzern hat gerade eine neue VR-Brille vorgestellt, die mit der Stimme und Bewegungen der Hände gesteuert werden kann, Zusatzgeräte sind nicht mehr nötig. Erste Versicherungsunternehmen bieten Beratung und Vertragsabschlüsse in virtueller Realität an und zielen damit auf einen technikaffinen, jungen Kundenkreis.
Doch virtuelle Welten versprechen nicht nur neue Märkte, sie sind, spätestens seit Platons Höhlengleichnis, auch ein reicher Quell philosophischer Fragen. Der Philosoph David Chalmers nutzt sie in seinem neuen Buch für eine Reise durch diese Fragestellungen.
Chalmers, der an der New York University und Australian National University lehrt, ist vor allem für seine Arbeiten zum Bewusstsein bekannt und als Schöpfer des Ausdrucks "the hard problem of consciouness", der heute emblematisch die Frage bezeichnet, warum sich für uns überhaupt etwas auf eine bestimmte Weise anfühlt. Chalmers sagt den virtuellen Welten eine große Zukunft voraus. Wie bislang vor allem Autoren apokalyptischer Science-Fiction geht er davon aus, dass die reale Welt in Zukunft weniger attraktiv, die virtuelle hingegen interessanter werden dürfte, eine "Realität+".
Spätestens in der nächsten Pandemie werden wir uns massenhaft in virtuelle Welten begeben, so der Autor, dort werde der größte Teil unserer sozialen Interaktionen stattfinden. Die nötige Technik werde immer besser, die Headsets werden kleiner, man werde zu Retina- oder Gehirnimplantaten übergehen, und in hundert Jahren seien die virtuellen Welten so gut, dass man sie von realen nicht mehr unterscheiden könne. Menschen würden dann viel Zeit, eventuell ihr ganzes Leben, in der virtuellen Realität verbringen, während ihre Körper in einem Lagerhaus verwahrt werden. Eine Horrorvorstellung? Chalmers verwendet fast siebenhundert Seiten darauf, zu erklären, warum man das auch anders sehen kann.
Seine Vision beruht auf viel Vertrauen in die zukünftige Entwicklung der Technik, aber erst einmal geht es ihm, ganz philosophisch, ums Prinzip: Was wäre, wenn eine solche Realität+ wahr würde? Chalmers beginnt bei der indischen Philosophie ebenso wie der aus der griechischen Antike überlieferten Überlegung, die er Simulationshypothese nennt: Können wir sicher sein, dass wir nicht ohnehin in einer Simulation leben? (Spoiler: Können wir nicht, aber es fehlen die Hinweise, die in Matrix-Geschichten sonst Verdacht erwecken; uns fallen in der Regel keine Bühnenscheinwerfer vor die Füße wie dem Helder der Truman-Show, und die "grafische Oberfläche" ist auch ganz überzeugend.) Ausführlich diskutiert Chalmers die Idee des täuschenden Dämons, wie sie sich bei Teresa von Ávila und Descartes findet, und dessen moderne Variante, das Gedankenexperiment vom Gehirn im Tank. Er versucht auch, die Wahrscheinlichkeit, zu berechnen, dass wir alle Simulationen sind: Sie betrage mindestens fünfundzwanzig Prozent.
Die größte Herausforderung des Buches ist zweifellos, der Intuition beizukommen, dass eine virtuelle Welt, sei sie auch noch so faszinierend, eben doch eine Scheinwelt ist und das Leben darin nur eine Art Kopie oder Spiel sein kann. Für Chalmers hingegen ist ein erfülltes Leben nicht weniger erfüllt, Leiden nicht weniger leidvoll, das Glück nicht weniger glücklich, wenn es "nur" in einer Simulation stattfindet. Virtuellen Realismus nennt er diese Position. Für sie sprechen Berichte, nach denen sich etwa Übergriffe selbst in den rudimentären virtuellen Welten, die wir heute kennen, ausgesprochen real und bedrohlich anfühlen. So wie Farben nicht wirklich an den Objekten seien, sondern erst im Gehirn entstehen und trotzdem für uns völlig real sind, seien eben auch die virtuellen Objekte real. Für den virtuellen Realisten ist die simulierte Katze keine Illusion, sondern ein echtes, allerdings digitales Objekt. VR-Geräte seien daher auch keine Illusions-, sondern Realitätsmaschinen.
Aus der Erkenntnistheorie wechselt Chalmers in die Ontologie, konstatiert, es müsse Hierarchien von Welten geben, denn der Computer, der die Simulation berechnet, stehe in einer höheren, umfassenderen Welt als diese Simulation. Der Schöpfer oder die Schöpferin der Simulation verhalte sich zu dieser wie ein göttliches Wesen. So wird für den, der davon überzeugt ist, in einer Simulation zu leben, die Simulationshypothese zu einem Gottesbeweis, das Nachdenken über die Eigenschaften des Schöpfers einer simulierten Welt zur "Simulationstheologie". Er sei nicht religiös, versichert Chalmers, seit er über Simulationen nachdenke, aber offen für den Gedanken eines höheren Wesens - solang es nicht angebetet werden wolle.
Nach den ersten drei Teilen des Buches kann man seine Grundthese etwa so zusammenfassen: Alles um uns herum könnte eine Simulation sein, das macht aber nichts. Die folgenden Kapitel, in denen er die Konsequenzen dieser Annahme unter anderem für die Natur des Geistes diskutiert und die Frage zu beantworten versucht, welche Bedeutung Werte in der Simulation haben können, sind unabhängig voneinander zu lesen, man kann sich die Reihenfolge aussuchen.
Natürlich darf auch Chalmers' großes Thema nicht fehlen - das Bewusstsein. Kann es in einer Simulation subjektives Erleben geben? Kann man vom Bewusstsein der anderen wissen? Können Maschinen Bewusstsein entwickeln? (Spoiler: Im Prinzip schon.) Wenn man sich darauf einlassen möchte, sein Bewusstsein in ein Computersystem zu laden, möge man dies aber auf jeden Fall langsam tun, empfiehlt Chalmers. Wenn man sich daran orientiere, wie in biologischen Gehirnen nach und nach Neuronen ersetzt werden, ohne dass sich dadurch unsere Persönlichkeit verändert, seien die Chancen, den Prozess zu überleben und bei Bewusstsein zu bleiben, am höchsten. Im letzten Teil geht es dann noch einmal in die richtig abstrakten Themen, um das Verhältnis von Mathematik und Physik etwa, um die Bedeutung von Wörtern und den freien Willen.
In "Realität+" lernt man eine Menge über die Geschichte, auch die Kulturgeschichte der virtuellen Realität. Man bekommt einen Grundkurs in Philosophie, einen Vertiefungskurs in philosophischer Skepsis und einen Ausblick auf potentielle zukünftige Geschäftsfelder wie etwa die "Gehirnsicherheit", die sich damit befassen soll, zu verhindern, dass wir in Fake-Realitäten gelockt werden.
Das Buch schildert ein großes Gedankenexperiment, das immer dort, wo es wenig plausibel ist, mit dem Verweis auf eine in der Zukunft sicher viel überzeugendere Technik mit ganz neuen Möglichkeiten aufrechterhalten wird. Wenn die Simulation erst perfekt ist, werden wir nichts mehr vermissen - außer vielleicht Geburt und Tod. Dann könne man in dieser Simulation ein erfülltes Leben führen. Und wenn die Erdoberfläche erst durch Atomkrieg und Klimawandel zerstört sei und man die Wahl zwischen einem entbehrungsreichen Leben in ständiger Angst und einem angenehmen in einer virtuellen Welt habe, könnte es eine vernünftige Entscheidung sein, die virtuelle Welt zu wählen.
Ausführlich diskutiert Chalmers, was er die Wertfrage nennt: Das virtuelle Leben sei nicht weniger wert als das echte. Leider fehlt in dem Buch die Machtfrage: Wer unterhält die virtuellen Welten? Wer gestaltet sie und regelt den Zugang? Wer profitiert davon, wenn sich der ökonomisch abgehängte Teil der Menschheit in virtuelle Welten absentiert, statt zu protestieren? Natürlich spricht nichts dagegen, sich philosophische Gedanken zu machen, aber in einem Buch, das sich so viel Raum nimmt, um das Thema zu beleuchten, wirkt es realitätsvergessen, von fantastischen simulierten Welten zu schwärmen (dystopische Welten zu schaffen würde verboten), ohne zu thematisieren, warum (große?) Teile der Menschheit in der Zukunft vor der Wahl zwischen einem elenden realen und einem schönen simulierten Leben stehen könnten.
Natürlich sollte es in der virtuellen Welt anständig zugehen, aber es ist dreist, Fragen guter Regierung und Verteilungsgerechtigkeit ausschließlich für die Simulation zu verhandeln, statt die Verhältnisse , die hinter der Entwicklung dieser Welten stehen, zu thematisieren. Es sei schwer einzusehen, was an der Schaffung einer glücklichen Simulation unmoralisch sein sollte, schreibt Chalmers. So fehlt dem umfänglichen Werk leider die Verankerung in der schnöden Wirklichkeit. MANUELA LENZEN
David J. Chalmers:
"Realität+". Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie.
Aus dem Englischen von Björn Brodowski und Jan-Erik Strasser. Suhrkamp, Berlin 2023. 638 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Das Buch des Philosophen David Chalmers bringt den Rezensenten Michael Hesse zum Nachdenken. Leben wir in der Realität oder nur in einer von einer KI simulierten Wirklichkeit? Nach der Lektüre ist sich Hesse da nicht mehr so sicher, auch wenn er ein bisschen skeptisch bleibt, ob die Ausführungen des Autors nicht mit seiner Vergangenheit als Computerspielefreak zu tun haben. Ein spannendes Gedankenexperiment ist das Buch allemal, versichert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.07.2023Könnte ja
echt sein
Der Philosoph David J. Chalmers
plädiert dafür, virtuelle Realitäten nicht als
Welten zweiter Klasse zu betrachten
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Es ist eine uralte philosophische Frage, aber durch die eindrucksvolle Qualität von Virtual-Reality-Brillen wirkt sie inzwischen dringlicher denn je: Wie können wir eigentlich wissen, ob unser scheinbar ganz normales Leben nicht bloß virtuell ist, eine einzige Simulation?
Der an der New York University Philosophie und Neurowissenschaften lehrende Bewusstseinsforscher David J. Chalmers zögert in seinem viel beachteten Buch „Realität+“ nicht mit einer Antwort: Wir
können es nicht wissen. Wir könnten es höchstens herausfinden, wenn sich „die Simulatorinnen zu erkennen geben und uns erklären, wie die Simulation funktioniert“. Aber Achtung: Solange das nicht passiere, können wir ebenso wenig mit Sicherheit wissen, dass wir uns nicht in einer virtuellen Welt befinden. Die Belege könnten ja auch simuliert werden.
Chalmers’ Clou ist nun der Grund, aus dem er weder für noch gegen die sogenannte Simulationshypothese argumentieren möchte: Er hält – klassischer Philosophentrick – schon die Prämisse für falsch, die beide Möglichkeiten teilen, dass nämlich Simulationen Illusionen seien und virtuelle Welten entsprechend nicht real. Er geht – daher der Titel des Buchs „Realität+“ – vielmehr vom Gegenteil aus: Simulationen seinen genau keine Illusionen, virtuelle Welten mithin real, und virtuelle Gegenstände existierten wirklich.
Das entbehrt nicht einer gewissen gedanklichen Konsequenz, für die durchschnittliche Alltagswahrnehmung ist es dennoch nicht nur kontraintutiv, es scheint die Dinge auch zu verkomplizieren. Weshalb an dieser Stelle womöglich auch eine kleine Leserwarnung nötig ist: „Realität+“ ist – auch und gerade in der deutschen Übersetzung von Björn Brodowski und Jan Erik Strasser – ein ungewöhnlich unterhaltsam und verständlich geschriebenes Buch mit vielen Beispielen aus der Populärkultur („The Matrix“, „Total Recall“). Ein sportlicher Sinn für hirnzersetzende Kniffligkeiten ist jedoch unerlässlich: „(...) die Tatsache, dass Sie gerade ein Buch über virtuelle Welten lesen, sollte Ihnen zu denken geben (und die Tatsache dass ich eines schreibe, sollte mir noch mehr zu denken geben). Warum? Weil ich vermute, dass im Zuge der fortschreitenden Entwicklung von Simulationstechnologien Simulatorinnen zukünftig dazu neigen werden, Menschen zu simulieren, die über Simulationen nachdenken – vielleicht um zu sehen, wie nahe diese Menschen dabei der Wahrheit über ihr eigenen Leben kommen.“
Worauf Chalmers hinaus will, lässt sich am leichtesten mit seiner Interpretation der berühmten Matrix-Szene veranschaulichen, in der Keanu Reeves alias Neo in der Simulation einem Kind begegnet, dass anscheinend mit der bloßer Geisteskraft einen Löffel verbiegt. Das Kind sagt im Film zu Neo: „Versuch nicht den Löffel zu verbiegen. Das ist nämlich nicht möglich. Versuch dir stattdessen einfach die Wahrheit vorzustellen. (...) Den Löffel gibt es nicht.“ Aus der Perspektive von Chalmers’ Idee der „Realität+“ hätte das Kind allerdings besser sagen sollen: „Versuch dir die Wahrheit vorzustellen. Es gibt einen Löffel – und zwar einen digitalen Löffel.“
Um zu verstehen, wie Chalmers zu diesem Punkt kommt muss man sich zwei Dinge vor Augen halten: Einerseits die jetzt schon vielfältige Gegenwart virtueller Räume im menschlichen Leben und die Aussicht darauf, dass diese eher noch mehr werden. Und andererseits die Erfahrung des Bewusstseinstheoretikers, seine déformation professionelle: Je intensiver man nämlich vermeintlich sicher Gewusstes (philosophisch) hinterfragt, umso weniger zweifelsfrei lässt es sich feststellen. Regelmäßig trifft man im Buch entsprechend auf Formulierungen, die darauf hinauslaufen, dass wir etwas nicht wissen können. Wir wissen es also nicht, wir wissen allerdings auch nicht, dass wir es nicht wissen. Wir können es vielmehr einfach nicht wissen: „In einer ausreichend guten Simulation würde die genauso aussehen und sich anfühlen, wie die Welt heute für Sie aussieht und sich anfühlt. Und wenn eine Simulation genauso aussieht und sich genau so anfühlt wie die Realität, dann ist es schwer einzusehen, woher wir wissen können, dass wir uns nicht eher in einer Simulation statt in der Realität befinden.“
Ausgehend von der Simulationsthese sind die knapp 600 Seiten des Buchs dabei über weite Strecken ein gründlicher und ungewöhnlich schwungvoller Kurs zu zentralen Fragen der (Erkenntnis-)Philosophie: Was können wir von der Welt außerhalb unseres Bewusstseins wissen? Was ist Realität? Was Geist? Ist Gott eine Hackerin in der nächsthöheren Welt?
Für ein eher am postmodernen Pragmatismus Richard Rortys geschultes Denken kommt einem der rührende Ehrgeiz, mit dem Chalmers irgendwann versucht, fünf Realitätskriterien aufzustellen, um für „virtuellen Realismus“ einen „80-prozentigen Realismus“ festzustellen, mitunter arg kleinkrämerisch und unfreiwillig komisch vor. Virtuelle Kätzchen sind bei ihm zum Beispiel zwar existent und es gibt sie geistunabhängig, sie sind aber doch nicht echt im Sinne echter normaler Kätzchen – wenigstens unter der Bedingung, dass wir nicht in einer perfekten Simulation leben.
Überzeugender ist die Überlegung, dass virtuelle Realität und Augmented Reality zu einer Art Relativismus führen. Ganz so, wie für die Menschen vieles, was früher einmal absolut galt, sich als relativ erwiesen hat. Die Schwerkraft etwa ist auf dem Mond deutlich schwächer. Entsprechend ließe sich für eine virtuelle Realität eines annehmen, ohne dass in der „normalen“ Realität anderes in Frage steht.
Wie bei vielen – und nicht nur philosophischen – Büchern hilft es, nie zu vergessen, wogegen es geschrieben ist: gegen die in eher technikkritischen Sphären, in denen sich Geisteswissenschaftler wie Chalmers bewegen, verbreitete Ansicht, virtuelle Realitäten seien Welten zweiter Klasse. Angesichts der Tatsache dass es einem VR-Brillen – im vollen Bewusstsein, dass man „bloß“ eine Brille aufhat – sehr, sehr schwer machen können, eine (virtuelle) Holzbohle zu betreten, die ein paar Meter über das Dach eines (virtuellen) Wolkenkratzers hinausragt (geschweige denn, vom Brett in die Tiefe zu springen) – angesichts dessen hat er aber nicht nur die Logik, sondern durchaus auch ganz intuitive Erfahrungen auf seiner Seite.
Die Pointe ist dann auch ein bisschen schlapper als erwartet: „Im Lichte all dieser Überlegungen komme ich zu dem Schluss, das wir einen naiven Realismus, demzufolge die Dinge genau so sind, wie sie uns erscheinen, ebenso ablehnen sollten wie einen simplen Illusionismus.“
Die „korrekte Position“ sei vielmehr „eine Art imperfekter Realismus“. Soll heißen: „Es gibt zwar keine FARBEN, wie es für uns den Anschein macht, aber es gibt Farben, die viele der Rollen von FARBEN einnehmen und genauso unverzichtbar für unser Weltverständnis sind.“ Entsprechend, so Chalmers, haben „wir vermutlich keinen FREIEN WILLEN, (...) und doch haben wir einen freien Willen“. Und vermutlich gebe es „auch keine absoluten, von Menschen unabhängigen Standards der Moral, kein RICHTIG oder FALSCH, und doch gibt es richtig und falsch“. Große Gesten für kleine Münzen.
Nach vielen hundert Seiten und der Klappentext-Ankündigung, dass dieses Buch die Diskussion auf Jahre hinaus prägen werde, erscheint das dann aber doch etwas trivial in dem Sinn, als „imperfekter Realismus“ eigentlich nur ein anderes Wort ist für die erkenntnistheoretische Werkseinstellung jedes Menschen. Sich darüber klar zu sein, verlangt jedoch kaum mehr als etwas gesunden Menschenverstand, wenn man mal erlebt hat, wie leicht sich die Sinne manipulieren lassen.
Mit anderen Worten: Es ist eine respektable Kunst, Probleme zu lösen, die man zuvor selbst geschaffen hat. In vielerlei Hinsicht ist es in der Wissenschaft eine bedeutende Strategie. Man sollte nur nicht denken, dass man so zwangsläufig etwas wirklich Grundstürzendes herausfindet. Insbesondere wenn man, wie Chalmers in „Realität+“ alle sozialpolitisch heißen Fragen darüber, wer die Hard- und Software der so mächtigen und einflussreichen neuen virtuellen Realitäten eigentlich kontrollieren soll, leider komplett ausblendet.
Große Gesten
für kleine
Münzen
David J. Chalmers lehrt in New York und gilt als einer der
einflussreichsten Philosophen
der Gegenwart.Foto: Suhrkamp
Simulationen von Simulationen von Simulationen: Keanu Reeves und Carrie-Anne Moss
als Neo und Trinity 1999 im Film "The Matrix". Foto: imago images/Mary Evans
David J. Chalmers: Realität+. Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie. Aus dem Englischen von Björn Brodowski und Jan Erik Strasser. Suhrkamp, Berlin 2023. 638 Seiten, 38 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
echt sein
Der Philosoph David J. Chalmers
plädiert dafür, virtuelle Realitäten nicht als
Welten zweiter Klasse zu betrachten
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Es ist eine uralte philosophische Frage, aber durch die eindrucksvolle Qualität von Virtual-Reality-Brillen wirkt sie inzwischen dringlicher denn je: Wie können wir eigentlich wissen, ob unser scheinbar ganz normales Leben nicht bloß virtuell ist, eine einzige Simulation?
Der an der New York University Philosophie und Neurowissenschaften lehrende Bewusstseinsforscher David J. Chalmers zögert in seinem viel beachteten Buch „Realität+“ nicht mit einer Antwort: Wir
können es nicht wissen. Wir könnten es höchstens herausfinden, wenn sich „die Simulatorinnen zu erkennen geben und uns erklären, wie die Simulation funktioniert“. Aber Achtung: Solange das nicht passiere, können wir ebenso wenig mit Sicherheit wissen, dass wir uns nicht in einer virtuellen Welt befinden. Die Belege könnten ja auch simuliert werden.
Chalmers’ Clou ist nun der Grund, aus dem er weder für noch gegen die sogenannte Simulationshypothese argumentieren möchte: Er hält – klassischer Philosophentrick – schon die Prämisse für falsch, die beide Möglichkeiten teilen, dass nämlich Simulationen Illusionen seien und virtuelle Welten entsprechend nicht real. Er geht – daher der Titel des Buchs „Realität+“ – vielmehr vom Gegenteil aus: Simulationen seinen genau keine Illusionen, virtuelle Welten mithin real, und virtuelle Gegenstände existierten wirklich.
Das entbehrt nicht einer gewissen gedanklichen Konsequenz, für die durchschnittliche Alltagswahrnehmung ist es dennoch nicht nur kontraintutiv, es scheint die Dinge auch zu verkomplizieren. Weshalb an dieser Stelle womöglich auch eine kleine Leserwarnung nötig ist: „Realität+“ ist – auch und gerade in der deutschen Übersetzung von Björn Brodowski und Jan Erik Strasser – ein ungewöhnlich unterhaltsam und verständlich geschriebenes Buch mit vielen Beispielen aus der Populärkultur („The Matrix“, „Total Recall“). Ein sportlicher Sinn für hirnzersetzende Kniffligkeiten ist jedoch unerlässlich: „(...) die Tatsache, dass Sie gerade ein Buch über virtuelle Welten lesen, sollte Ihnen zu denken geben (und die Tatsache dass ich eines schreibe, sollte mir noch mehr zu denken geben). Warum? Weil ich vermute, dass im Zuge der fortschreitenden Entwicklung von Simulationstechnologien Simulatorinnen zukünftig dazu neigen werden, Menschen zu simulieren, die über Simulationen nachdenken – vielleicht um zu sehen, wie nahe diese Menschen dabei der Wahrheit über ihr eigenen Leben kommen.“
Worauf Chalmers hinaus will, lässt sich am leichtesten mit seiner Interpretation der berühmten Matrix-Szene veranschaulichen, in der Keanu Reeves alias Neo in der Simulation einem Kind begegnet, dass anscheinend mit der bloßer Geisteskraft einen Löffel verbiegt. Das Kind sagt im Film zu Neo: „Versuch nicht den Löffel zu verbiegen. Das ist nämlich nicht möglich. Versuch dir stattdessen einfach die Wahrheit vorzustellen. (...) Den Löffel gibt es nicht.“ Aus der Perspektive von Chalmers’ Idee der „Realität+“ hätte das Kind allerdings besser sagen sollen: „Versuch dir die Wahrheit vorzustellen. Es gibt einen Löffel – und zwar einen digitalen Löffel.“
Um zu verstehen, wie Chalmers zu diesem Punkt kommt muss man sich zwei Dinge vor Augen halten: Einerseits die jetzt schon vielfältige Gegenwart virtueller Räume im menschlichen Leben und die Aussicht darauf, dass diese eher noch mehr werden. Und andererseits die Erfahrung des Bewusstseinstheoretikers, seine déformation professionelle: Je intensiver man nämlich vermeintlich sicher Gewusstes (philosophisch) hinterfragt, umso weniger zweifelsfrei lässt es sich feststellen. Regelmäßig trifft man im Buch entsprechend auf Formulierungen, die darauf hinauslaufen, dass wir etwas nicht wissen können. Wir wissen es also nicht, wir wissen allerdings auch nicht, dass wir es nicht wissen. Wir können es vielmehr einfach nicht wissen: „In einer ausreichend guten Simulation würde die genauso aussehen und sich anfühlen, wie die Welt heute für Sie aussieht und sich anfühlt. Und wenn eine Simulation genauso aussieht und sich genau so anfühlt wie die Realität, dann ist es schwer einzusehen, woher wir wissen können, dass wir uns nicht eher in einer Simulation statt in der Realität befinden.“
Ausgehend von der Simulationsthese sind die knapp 600 Seiten des Buchs dabei über weite Strecken ein gründlicher und ungewöhnlich schwungvoller Kurs zu zentralen Fragen der (Erkenntnis-)Philosophie: Was können wir von der Welt außerhalb unseres Bewusstseins wissen? Was ist Realität? Was Geist? Ist Gott eine Hackerin in der nächsthöheren Welt?
Für ein eher am postmodernen Pragmatismus Richard Rortys geschultes Denken kommt einem der rührende Ehrgeiz, mit dem Chalmers irgendwann versucht, fünf Realitätskriterien aufzustellen, um für „virtuellen Realismus“ einen „80-prozentigen Realismus“ festzustellen, mitunter arg kleinkrämerisch und unfreiwillig komisch vor. Virtuelle Kätzchen sind bei ihm zum Beispiel zwar existent und es gibt sie geistunabhängig, sie sind aber doch nicht echt im Sinne echter normaler Kätzchen – wenigstens unter der Bedingung, dass wir nicht in einer perfekten Simulation leben.
Überzeugender ist die Überlegung, dass virtuelle Realität und Augmented Reality zu einer Art Relativismus führen. Ganz so, wie für die Menschen vieles, was früher einmal absolut galt, sich als relativ erwiesen hat. Die Schwerkraft etwa ist auf dem Mond deutlich schwächer. Entsprechend ließe sich für eine virtuelle Realität eines annehmen, ohne dass in der „normalen“ Realität anderes in Frage steht.
Wie bei vielen – und nicht nur philosophischen – Büchern hilft es, nie zu vergessen, wogegen es geschrieben ist: gegen die in eher technikkritischen Sphären, in denen sich Geisteswissenschaftler wie Chalmers bewegen, verbreitete Ansicht, virtuelle Realitäten seien Welten zweiter Klasse. Angesichts der Tatsache dass es einem VR-Brillen – im vollen Bewusstsein, dass man „bloß“ eine Brille aufhat – sehr, sehr schwer machen können, eine (virtuelle) Holzbohle zu betreten, die ein paar Meter über das Dach eines (virtuellen) Wolkenkratzers hinausragt (geschweige denn, vom Brett in die Tiefe zu springen) – angesichts dessen hat er aber nicht nur die Logik, sondern durchaus auch ganz intuitive Erfahrungen auf seiner Seite.
Die Pointe ist dann auch ein bisschen schlapper als erwartet: „Im Lichte all dieser Überlegungen komme ich zu dem Schluss, das wir einen naiven Realismus, demzufolge die Dinge genau so sind, wie sie uns erscheinen, ebenso ablehnen sollten wie einen simplen Illusionismus.“
Die „korrekte Position“ sei vielmehr „eine Art imperfekter Realismus“. Soll heißen: „Es gibt zwar keine FARBEN, wie es für uns den Anschein macht, aber es gibt Farben, die viele der Rollen von FARBEN einnehmen und genauso unverzichtbar für unser Weltverständnis sind.“ Entsprechend, so Chalmers, haben „wir vermutlich keinen FREIEN WILLEN, (...) und doch haben wir einen freien Willen“. Und vermutlich gebe es „auch keine absoluten, von Menschen unabhängigen Standards der Moral, kein RICHTIG oder FALSCH, und doch gibt es richtig und falsch“. Große Gesten für kleine Münzen.
Nach vielen hundert Seiten und der Klappentext-Ankündigung, dass dieses Buch die Diskussion auf Jahre hinaus prägen werde, erscheint das dann aber doch etwas trivial in dem Sinn, als „imperfekter Realismus“ eigentlich nur ein anderes Wort ist für die erkenntnistheoretische Werkseinstellung jedes Menschen. Sich darüber klar zu sein, verlangt jedoch kaum mehr als etwas gesunden Menschenverstand, wenn man mal erlebt hat, wie leicht sich die Sinne manipulieren lassen.
Mit anderen Worten: Es ist eine respektable Kunst, Probleme zu lösen, die man zuvor selbst geschaffen hat. In vielerlei Hinsicht ist es in der Wissenschaft eine bedeutende Strategie. Man sollte nur nicht denken, dass man so zwangsläufig etwas wirklich Grundstürzendes herausfindet. Insbesondere wenn man, wie Chalmers in „Realität+“ alle sozialpolitisch heißen Fragen darüber, wer die Hard- und Software der so mächtigen und einflussreichen neuen virtuellen Realitäten eigentlich kontrollieren soll, leider komplett ausblendet.
Große Gesten
für kleine
Münzen
David J. Chalmers lehrt in New York und gilt als einer der
einflussreichsten Philosophen
der Gegenwart.Foto: Suhrkamp
Simulationen von Simulationen von Simulationen: Keanu Reeves und Carrie-Anne Moss
als Neo und Trinity 1999 im Film "The Matrix". Foto: imago images/Mary Evans
David J. Chalmers: Realität+. Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie. Aus dem Englischen von Björn Brodowski und Jan Erik Strasser. Suhrkamp, Berlin 2023. 638 Seiten, 38 Euro.
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