Argues that we have entered an 'age of forgetting', where we have set aside our immediate past before we could even begin to make sense of it. It examines the tragedy of twentieth-century Europe by way of thought-provoking pieces on Hannah Arendt, Edward Said, Albert Camus and Henry Kissinger amongst others.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2010Nachmittags Psychoanalyse, abends Revolutionstheorie, dazwischen Medikamente
Von Johannes Paul II. über Albert Camus bis zu Eric Hobsbawm: Die Essays des verstorbenen Historikers Tony Judt erkunden die Figur des politischen Intellektuellen.
Geschichte, von allen Seiten betrachtet, ist das Leitmotiv der gesammelten Essays von Tony Judt. Auch in den biographischen Skizzen, die er den großen und manchmal weniger großen Geistern des vergangenen Jahrhunderts gewidmet hat, ist die Geschichte der Epoche stets gegenwärtig. Seine Kunst ist es, die Zeit in der Lebenszeit abzubilden, und daraus Rückschlüsse zu ziehen auf die spezifische Weise, in der sich Arthur Koestler und Manés Sperber, Albert Camus und Louis Althusser, Eric Hobsbawm und Hannah Arendt ihren Reim auf die Geschichte schlechthin gemacht haben.
Nicht alle dieser Essays, ursprünglich Rezensionen in der "New York Review of Books", halten die gleiche Höhe. Die meisten allerdings wachsen über ihren Anlass weit hinaus. Nur bei der Studie über Papst Johannes Paul II. hat man den Eindruck, dass sie - so willkommen eine intelligente kritische Arbeit gerade über diesen Papst wäre - den üblichen Meinungen der aufgeklärten, liberalen Öffentlichkeit der westlichen Länder allzu sehr verpflichtet bleibt. Mystik wird pejorativ "Mystizismus" genannt, was vielleicht ein Problem der Übersetzung aus dem Englischen ist. Die besondere Marienfrömmigkeit Johannes Pauls II. blieb Tony Judt fremd, ebenso die "konservative Einstellung zu Ehe und Abtreibung", die er mit diesem Papst verbindet - hier sieht er nur eine "obsessive Beschäftigung mit dem Thema Sexualität". Interessant immerhin ist es, dass er aus dem "Syllabus errorum", der Liste der von der Kirche in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kodifizierten modernen Irrlehren, den eigentlichen Schlussstein zitiert: "Der Römische Papst kann und muss sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der heutigen Zivilisation versöhnen und vereinen."
Judt sieht diese Haltung in dem vorigen Papst nachwirken. Und nur diese. Dass Johannes Paul II. andererseits aber gerade in ökumenischen Angelegenheiten, etwa bei den interreligiösen Treffen in Assisi, weiter ging, als es Benedikt XVI. je tun wird, gehörte eigentlich mit ins Bild. Aber Judt erkennt, wie viele Kommentatoren, in Johannes Paul II. ausschließlich die konservativen, modernitätskritischen Impulse - und nicht die mindestens ebenso starken und, in der Benutzung medial inszenierter Großereignisse, auch fragwürdigen Modernismen dieses Pontifikats.
Man merkt auch sonst sehr schnell, wo Judts Sympathien liegen und wo nicht. Es mag ein urangelsächsischer Widerstand gegen das Übermaß von Theorien bei den Franzosen sein - jedenfalls kommt Louis Althusser in diesem Buch sehr schlecht weg. Denn dieser marxistische Philosoph, der zeitweise höchste Autorität in den Kreisen der fortgeschrittenen europäischen Intelligenz besaß, war nun auf eigentümliche (und man darf wohl sagen: pathologische) Weise geschichtsblind. Blind für den konkreten Terror von Lenins Oktoberrevolution, die er nur als "Struktur" erfassen wollte - und blind für seine eigene Untat. Denn Althusser erwürgte seine Ehefrau, konnte sich aber in seiner autobiographischen Erzählung an den eigentlichen Tathergang nicht mehr erinnern.
Was Judt an dieser Geschichte stört, ist nicht der Marxismus, sondern die weltfremde Ausprägung, die er im Milieu der École Normale Supérieure der sechziger Jahre fand. Wer Althussers Erinnerungen noch einmal zur Hand nimmt, wird gerade hier fündig, wenn man mit wachsendem Schrecken liest, wie zwischen inquisitorischen Versammlungen der kommunistischen Zelle, immer neuen, nie beendeten Psychoanalysen und Selbstmorden von hochbegabten Dozenten die steilsten Revolutionstheorien gleichsam in den Pausen zwischen Klinikaufenthalten formuliert wurden. Das Gegenbild liefert der britische kommunistische Historiker Eric Hobsbawm; dieser nämlich sei, so Judt, "auf sehr englische Weise desinteressiert an marxistischen Theoriediskussionen".
Nicht der Marxismus an sich ist es, der Judt von vornherein suspekt gewesen wäre. Er hatte ihn selbst mit der Muttermilch aufgesogen. Und er kommt immer dann zu wirklichen Einsichten, wenn er den Schicksalen dieser Lehre und ihrer Adepten nachgeht, indem er etwa die Frage nach dem jüdischen Anteil am Revolutionsdenken der Zwischenkriegszeit stellt. Und vor allem dann, wenn er die heroischen Abtrünnigen wie Koestler und Sperber nun nicht noch einmal feiert, sondern auf ungemein eindringliche Weise in ihren Grenzen analysiert.
Nicht die pragmatische Geschichte bewegt Tony Judt also, sondern eher ein eigentümliches historisches Pathos. Was er zur Erhellung beibringt, manchmal ausdrücklich, manchmal nur zwischen den Zeilen, ist auch ein erster Ansatz zur Historisierung der heutigen Erinnerungskultur. "Wir leben in einem Zeitalter des Gedenkens", sagt er einmal. Länder und Städte verwandeln sich in Museen ihrer selbst. Aber zu welchem Ende? Dass gerade die offiziell gewünschte Form zur Entfremdung von der Geschichte führen könne, schwingt in diesen Essays immer mit.
LORENZ JÄGER
Tony Judt: "Das vergessene 20. Jahrhundert". Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, München 2010. 475 S., geb., 27,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Johannes Paul II. über Albert Camus bis zu Eric Hobsbawm: Die Essays des verstorbenen Historikers Tony Judt erkunden die Figur des politischen Intellektuellen.
Geschichte, von allen Seiten betrachtet, ist das Leitmotiv der gesammelten Essays von Tony Judt. Auch in den biographischen Skizzen, die er den großen und manchmal weniger großen Geistern des vergangenen Jahrhunderts gewidmet hat, ist die Geschichte der Epoche stets gegenwärtig. Seine Kunst ist es, die Zeit in der Lebenszeit abzubilden, und daraus Rückschlüsse zu ziehen auf die spezifische Weise, in der sich Arthur Koestler und Manés Sperber, Albert Camus und Louis Althusser, Eric Hobsbawm und Hannah Arendt ihren Reim auf die Geschichte schlechthin gemacht haben.
Nicht alle dieser Essays, ursprünglich Rezensionen in der "New York Review of Books", halten die gleiche Höhe. Die meisten allerdings wachsen über ihren Anlass weit hinaus. Nur bei der Studie über Papst Johannes Paul II. hat man den Eindruck, dass sie - so willkommen eine intelligente kritische Arbeit gerade über diesen Papst wäre - den üblichen Meinungen der aufgeklärten, liberalen Öffentlichkeit der westlichen Länder allzu sehr verpflichtet bleibt. Mystik wird pejorativ "Mystizismus" genannt, was vielleicht ein Problem der Übersetzung aus dem Englischen ist. Die besondere Marienfrömmigkeit Johannes Pauls II. blieb Tony Judt fremd, ebenso die "konservative Einstellung zu Ehe und Abtreibung", die er mit diesem Papst verbindet - hier sieht er nur eine "obsessive Beschäftigung mit dem Thema Sexualität". Interessant immerhin ist es, dass er aus dem "Syllabus errorum", der Liste der von der Kirche in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kodifizierten modernen Irrlehren, den eigentlichen Schlussstein zitiert: "Der Römische Papst kann und muss sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der heutigen Zivilisation versöhnen und vereinen."
Judt sieht diese Haltung in dem vorigen Papst nachwirken. Und nur diese. Dass Johannes Paul II. andererseits aber gerade in ökumenischen Angelegenheiten, etwa bei den interreligiösen Treffen in Assisi, weiter ging, als es Benedikt XVI. je tun wird, gehörte eigentlich mit ins Bild. Aber Judt erkennt, wie viele Kommentatoren, in Johannes Paul II. ausschließlich die konservativen, modernitätskritischen Impulse - und nicht die mindestens ebenso starken und, in der Benutzung medial inszenierter Großereignisse, auch fragwürdigen Modernismen dieses Pontifikats.
Man merkt auch sonst sehr schnell, wo Judts Sympathien liegen und wo nicht. Es mag ein urangelsächsischer Widerstand gegen das Übermaß von Theorien bei den Franzosen sein - jedenfalls kommt Louis Althusser in diesem Buch sehr schlecht weg. Denn dieser marxistische Philosoph, der zeitweise höchste Autorität in den Kreisen der fortgeschrittenen europäischen Intelligenz besaß, war nun auf eigentümliche (und man darf wohl sagen: pathologische) Weise geschichtsblind. Blind für den konkreten Terror von Lenins Oktoberrevolution, die er nur als "Struktur" erfassen wollte - und blind für seine eigene Untat. Denn Althusser erwürgte seine Ehefrau, konnte sich aber in seiner autobiographischen Erzählung an den eigentlichen Tathergang nicht mehr erinnern.
Was Judt an dieser Geschichte stört, ist nicht der Marxismus, sondern die weltfremde Ausprägung, die er im Milieu der École Normale Supérieure der sechziger Jahre fand. Wer Althussers Erinnerungen noch einmal zur Hand nimmt, wird gerade hier fündig, wenn man mit wachsendem Schrecken liest, wie zwischen inquisitorischen Versammlungen der kommunistischen Zelle, immer neuen, nie beendeten Psychoanalysen und Selbstmorden von hochbegabten Dozenten die steilsten Revolutionstheorien gleichsam in den Pausen zwischen Klinikaufenthalten formuliert wurden. Das Gegenbild liefert der britische kommunistische Historiker Eric Hobsbawm; dieser nämlich sei, so Judt, "auf sehr englische Weise desinteressiert an marxistischen Theoriediskussionen".
Nicht der Marxismus an sich ist es, der Judt von vornherein suspekt gewesen wäre. Er hatte ihn selbst mit der Muttermilch aufgesogen. Und er kommt immer dann zu wirklichen Einsichten, wenn er den Schicksalen dieser Lehre und ihrer Adepten nachgeht, indem er etwa die Frage nach dem jüdischen Anteil am Revolutionsdenken der Zwischenkriegszeit stellt. Und vor allem dann, wenn er die heroischen Abtrünnigen wie Koestler und Sperber nun nicht noch einmal feiert, sondern auf ungemein eindringliche Weise in ihren Grenzen analysiert.
Nicht die pragmatische Geschichte bewegt Tony Judt also, sondern eher ein eigentümliches historisches Pathos. Was er zur Erhellung beibringt, manchmal ausdrücklich, manchmal nur zwischen den Zeilen, ist auch ein erster Ansatz zur Historisierung der heutigen Erinnerungskultur. "Wir leben in einem Zeitalter des Gedenkens", sagt er einmal. Länder und Städte verwandeln sich in Museen ihrer selbst. Aber zu welchem Ende? Dass gerade die offiziell gewünschte Form zur Entfremdung von der Geschichte führen könne, schwingt in diesen Essays immer mit.
LORENZ JÄGER
Tony Judt: "Das vergessene 20. Jahrhundert". Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, München 2010. 475 S., geb., 27,90 [Euro].
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In Reappraisals the British-born historian, now a university professor in New York, collects 23 essays, written between 1994 and 2006, in which he undertakes a ruthless dissection of the ruling illusions of the post-cold war years...There are illuminating assessments of Primo Levi and Hannah Arendt, a superb deconstruction of the fall of France in 1940, explorations of Belgium's fractured statehood and the ambiguous position of Romania in Europe, analyses of the Cuba crisis and Kissinger's diplomacy, and much else besides...Judt is a liberal thinker dedicated to demystifying liberal illusions. Reappraisals is an indispensable tract for the times by one of the great political writers of the age John Gray Guardian