Exhilarating . . . brave and forthright. The New York Times Book Review
Perhaps the greatest single collection of thinking on the political, diplomatic, social, and cultural history of the past century. Forbes
We have entered an age of forgetting. Our world, we insist, is unprecedented, wholly new. The past has nothing to teach us. Drawing provocative connections between a dazzling range of subjects, from Jewish intellectuals and the challenge of evil in the recent European past to the interpretation of the Cold War and the displacement of history by heritage, the late historian Tony Judt takes us beyond what we think we know of the past to explain how we came to know it, showing how much of our history has been sacrificed in the triumph of myth making over understanding and denial over memory. Reappraisals offers a much-needed road map back to the historical sense we urgently need.
Judt's book, Ill Fares the Land, republished in 2021 featuring a new preface by bestselling author of Between the World and Me and The Water Dancer, Ta-Nehisi Coates.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Perhaps the greatest single collection of thinking on the political, diplomatic, social, and cultural history of the past century. Forbes
We have entered an age of forgetting. Our world, we insist, is unprecedented, wholly new. The past has nothing to teach us. Drawing provocative connections between a dazzling range of subjects, from Jewish intellectuals and the challenge of evil in the recent European past to the interpretation of the Cold War and the displacement of history by heritage, the late historian Tony Judt takes us beyond what we think we know of the past to explain how we came to know it, showing how much of our history has been sacrificed in the triumph of myth making over understanding and denial over memory. Reappraisals offers a much-needed road map back to the historical sense we urgently need.
Judt's book, Ill Fares the Land, republished in 2021 featuring a new preface by bestselling author of Between the World and Me and The Water Dancer, Ta-Nehisi Coates.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.05.2010Coffee oder Espresso
Tony Judts glänzende Essays über die USA und Europa
Alexis de Tocqueville hätte an Tony Judt seine reine Freude gehabt. Nicht nur sieht Judt die kulturellen und mentalen Unterschiede zwischen dem Abendland und der Neuen Welt ähnlich wie er – Judt findet zudem ein hinreißendes Beispiel zur Illustration: den Kaffee. In den USA bekommt man „ihn überall, jeder kann ihn zubereiten, er ist billig – und wird gratis nachgeschenkt. (. . .) Es gibt keine demokratischere Art, die Menschheit mit Koffein abzufüllen.“ Die Europäer hingegen wollten Kaffee mit „Charakter“, sie trinken gern Espresso, für dessen Herstellung teure Maschinen vonnöten sind, die aber nur winzige Mengen produzieren. „Espresso“ – so Judt – „ist kein Getränk, sondern ein Kunstwerk.“
Der Essay, der dieser Einleitung folgt, behandelt die Frage, ob es dabei bleiben wird, dass die Europäer nachleben, was ihnen in den USA vorgemacht wird, ob sie auch weiterhin deren Entwicklungen in Gesellschaft und Wirtschaft übernehmen werden.
Der Text wurde vor einigen Jahren in einer Zeitschrift publiziert. Doch ist er heute so anregend wie damals. Dasselbe gilt – mit Ausnahme der Einleitung, die der Historiker 2007 für die amerikanische Originalausgabe der Sammlung verfasste – für alle Aufsätze des Buches: Sie sind alle zwischen 1996 und 2006 erstmals erschienen, und keiner ist abgestanden. Warum es nötig war, alte Aufsätze neu zu publizieren: Die Frage stellt sich nicht. Ganz im Gegenteil: Man muss dankbar sein, dass Judt seine Essays in einem Buch zusammengefasst hat.
Im Herbst 2008 erfuhr Tony Judt – der Direktor des Remarque-Instituts der New York University ist – dass er an einer seltenen Erkrankung der motorischen Nervenzellen leidet. Binnen kurzem konnte er sich nicht mehr bewegen. Seit Monaten kann er nicht einmal mehr aus eigener Kraft atmen. Nur sein Gehirn arbeitet rege wie eh und je, und er kann – mittels eines Verstärkers – sprechen. „Ich bin ein Bündel toter Muskeln, das denkt“, hat er vor einigen Wochen gesagt. In diesem Zustand hat er neue Texte diktiert, die auf Englisch schon erschienen sind.
Die jetzt bei Hanser publizierten Essays, deren deutsche Übersetzung übrigens gelungen ist, sind die Quintessenz seiner intellektuellen Unterfangen in den vergangenen sechzehn Jahren. Vornehmlich handelt es sich um ausführliche Rezensionen, die freilich über das jeweilige Buch weit hinausgehen. Die Sammlung enthält Aufsätze über Hannah Arendt, Albert Camus, Eric Hobsbawm, Arthur Koestler und andere sowie Kommentare über Israel, Belgien, Großbritannien, Frankreich, Rumänien, den Kalten Krieg und die USA. Inhaltlich hängen die Texte insofern zusammen, als der Autor konsistente Ansichten hat, ja auch ein Ethos, das alle seine Schriften durchdringt.
Judt, der 1948 in London zur Welt kam, gehört zu den wenigen bekannten Linksintellektuellen, die dem 1968 gängigen Marxismus zwar anhingen, sich aber dann mühelos und ohne ins andere Extrem zu verfallen davon verabschieden konnten. Das hat er vermutlich nicht zuletzt seinen Eltern zu verdanken, die er in einer fabelhaften essayistischen Niedermachung des marxistischen Philosophen Louis Althusser erwähnt: „Als Vertreter jenes Zweigs des osteuropäischen Judentums, der die sozialdemokratische Arbeiterbewegung als seine Heimat betrachtet, waren sie vehemente Antikommunisten.“ Beides hat Judt übernommen: Den Antikommunismus und den Glauben an die Errungenschaften der Sozialdemokratie. Seitdem er in die USA übersiedelte und die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, wird er nicht müde, den Amerikanern zu erklären, warum der Wohlfahrtsstaat dem neoliberalen Laisser-faire vorzuziehen ist.
Als geborener Europäer stört er sich auch an einem anderen amerikanischen Zug: dem Hang zur Geschichtsvergessenheit. Den Niedergang des Sowjetsystems begrüßte er von Herzen; dass die amerikanischen Meinungsführer sich daraufhin in banalem Triumphalismus ergingen, hält er indes für gefährlich. Diese Denkungsart habe zum Irak-Krieg geführt, den Judt für einen furchtbaren Fehler hält. Tony Judt mag und versteht beide Seiten: Europa und die USA – das macht es ihm möglich, Dinge auf den Punkt zu bringen, die nur wahrnehmen kann, wer die Landstriche beiderseits des Atlantik gut kennt.
Wo Judt sich auskennt, ist er schwerlich zu übertreffen. Er schreibt: „Das Talent der Engländer, die Vergangenheit zu feiern und zugleich zu entsorgen – eine künstliche Historie mit echter Nostalgie zu pflegen –, dürfte beispiellos sein.“ Tony Blair hat er 2001 als „Gartenzwerg im englischen Park des Vergessens“ charakterisiert. Pierre Noras historisches Projekt der „Erinnerungsorte“ erklärt er damit, dass Frankreich um 1980 in eine Identitätskrise geraten sei, die sich nicht zuletzt daraus ergab, dass sich in dem Land zwischen 1856 und 1956 nicht viel geändert habe. In einigen Essays legt der Autor dar, warum er Israel für ein Land hält, „das nicht erwachsen werden will“. Zum Ärger der Zionisten und auch vieler liberaler Juden vertritt Judt die Meinung, dass Israel auf die Dauer nur überleben kann, wenn Juden und Palästinenser zusammenleben, wenn das Land also aufhört, ein dezidiert jüdischer Staat zu sein.
Tony Judts umfangreiche „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“, die 2006 auf Deutsch erschien, ist ein gutes Buch, aber zu großen Teilen eine Fleißarbeit. Seine Essays hingegen sind die Kür: Sie sind lehrreich, politisch luzide und stilistisch pointiert. Anregender sind sie schon deshalb, weil Judts Europa-Geschichte als überzeitliches „Standardwerk“ angelegt ist, wohingegen er sich in seinen Artikeln bei aller Berücksichtigung der historischen Fakten erlaubt hat, seinen eigenen, stets klugen Beobachtungen mehr Raum zu geben.
Den großen Historiker Eric Hobsbawm zum Beispiel findet er verächtlich: Er hält Hobsbawm für einen unaufrichtigen Salonmarxisten, der sich der Realität im Ostblock nicht gestellt habe. Da Judt selbst dem Marxismus nach wie vor einiges abgewinnen kann, scheint es, als wolle er sagen: Über den Marxismus dürfen heutzutage nur Antikommunisten – Denker, wie er selbst einer ist – noch gute Worte verlieren. Auch Hobsbawms Anhänger werden allerdings zugeben müssen, dass Judts Auseinandersetzung mit dem Kommunismus interessante Fragen aufwirft, die sehr viel intelligenter sind als die üblichen Vorwürfe.
Es ist ein ungewöhnliches Fazit, und doch muss man sagen: Tony Judts Essays sind bedeutsamer als seine große Geschichte der Nachkriegszeit. Seine Aufsatzsammlung sei jedem empfohlen, der sich für das 20. Jahrhundert und die historischen Hintergründe der Tagespolitik interessiert. FRANZISKA AUGSTEIN
TONY JUDT: Das vergessene 20. Jahrhundert. Hanser Verlag, München 2010. 475 Seiten, 27,90 Euro.
Ohne die historischen
Hintergründe versteht man
nicht die Tagespolitik
Wo Tony Judt sich
auskennt, ist er
schwerlich zu übertreffen
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Tony Judts glänzende Essays über die USA und Europa
Alexis de Tocqueville hätte an Tony Judt seine reine Freude gehabt. Nicht nur sieht Judt die kulturellen und mentalen Unterschiede zwischen dem Abendland und der Neuen Welt ähnlich wie er – Judt findet zudem ein hinreißendes Beispiel zur Illustration: den Kaffee. In den USA bekommt man „ihn überall, jeder kann ihn zubereiten, er ist billig – und wird gratis nachgeschenkt. (. . .) Es gibt keine demokratischere Art, die Menschheit mit Koffein abzufüllen.“ Die Europäer hingegen wollten Kaffee mit „Charakter“, sie trinken gern Espresso, für dessen Herstellung teure Maschinen vonnöten sind, die aber nur winzige Mengen produzieren. „Espresso“ – so Judt – „ist kein Getränk, sondern ein Kunstwerk.“
Der Essay, der dieser Einleitung folgt, behandelt die Frage, ob es dabei bleiben wird, dass die Europäer nachleben, was ihnen in den USA vorgemacht wird, ob sie auch weiterhin deren Entwicklungen in Gesellschaft und Wirtschaft übernehmen werden.
Der Text wurde vor einigen Jahren in einer Zeitschrift publiziert. Doch ist er heute so anregend wie damals. Dasselbe gilt – mit Ausnahme der Einleitung, die der Historiker 2007 für die amerikanische Originalausgabe der Sammlung verfasste – für alle Aufsätze des Buches: Sie sind alle zwischen 1996 und 2006 erstmals erschienen, und keiner ist abgestanden. Warum es nötig war, alte Aufsätze neu zu publizieren: Die Frage stellt sich nicht. Ganz im Gegenteil: Man muss dankbar sein, dass Judt seine Essays in einem Buch zusammengefasst hat.
Im Herbst 2008 erfuhr Tony Judt – der Direktor des Remarque-Instituts der New York University ist – dass er an einer seltenen Erkrankung der motorischen Nervenzellen leidet. Binnen kurzem konnte er sich nicht mehr bewegen. Seit Monaten kann er nicht einmal mehr aus eigener Kraft atmen. Nur sein Gehirn arbeitet rege wie eh und je, und er kann – mittels eines Verstärkers – sprechen. „Ich bin ein Bündel toter Muskeln, das denkt“, hat er vor einigen Wochen gesagt. In diesem Zustand hat er neue Texte diktiert, die auf Englisch schon erschienen sind.
Die jetzt bei Hanser publizierten Essays, deren deutsche Übersetzung übrigens gelungen ist, sind die Quintessenz seiner intellektuellen Unterfangen in den vergangenen sechzehn Jahren. Vornehmlich handelt es sich um ausführliche Rezensionen, die freilich über das jeweilige Buch weit hinausgehen. Die Sammlung enthält Aufsätze über Hannah Arendt, Albert Camus, Eric Hobsbawm, Arthur Koestler und andere sowie Kommentare über Israel, Belgien, Großbritannien, Frankreich, Rumänien, den Kalten Krieg und die USA. Inhaltlich hängen die Texte insofern zusammen, als der Autor konsistente Ansichten hat, ja auch ein Ethos, das alle seine Schriften durchdringt.
Judt, der 1948 in London zur Welt kam, gehört zu den wenigen bekannten Linksintellektuellen, die dem 1968 gängigen Marxismus zwar anhingen, sich aber dann mühelos und ohne ins andere Extrem zu verfallen davon verabschieden konnten. Das hat er vermutlich nicht zuletzt seinen Eltern zu verdanken, die er in einer fabelhaften essayistischen Niedermachung des marxistischen Philosophen Louis Althusser erwähnt: „Als Vertreter jenes Zweigs des osteuropäischen Judentums, der die sozialdemokratische Arbeiterbewegung als seine Heimat betrachtet, waren sie vehemente Antikommunisten.“ Beides hat Judt übernommen: Den Antikommunismus und den Glauben an die Errungenschaften der Sozialdemokratie. Seitdem er in die USA übersiedelte und die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, wird er nicht müde, den Amerikanern zu erklären, warum der Wohlfahrtsstaat dem neoliberalen Laisser-faire vorzuziehen ist.
Als geborener Europäer stört er sich auch an einem anderen amerikanischen Zug: dem Hang zur Geschichtsvergessenheit. Den Niedergang des Sowjetsystems begrüßte er von Herzen; dass die amerikanischen Meinungsführer sich daraufhin in banalem Triumphalismus ergingen, hält er indes für gefährlich. Diese Denkungsart habe zum Irak-Krieg geführt, den Judt für einen furchtbaren Fehler hält. Tony Judt mag und versteht beide Seiten: Europa und die USA – das macht es ihm möglich, Dinge auf den Punkt zu bringen, die nur wahrnehmen kann, wer die Landstriche beiderseits des Atlantik gut kennt.
Wo Judt sich auskennt, ist er schwerlich zu übertreffen. Er schreibt: „Das Talent der Engländer, die Vergangenheit zu feiern und zugleich zu entsorgen – eine künstliche Historie mit echter Nostalgie zu pflegen –, dürfte beispiellos sein.“ Tony Blair hat er 2001 als „Gartenzwerg im englischen Park des Vergessens“ charakterisiert. Pierre Noras historisches Projekt der „Erinnerungsorte“ erklärt er damit, dass Frankreich um 1980 in eine Identitätskrise geraten sei, die sich nicht zuletzt daraus ergab, dass sich in dem Land zwischen 1856 und 1956 nicht viel geändert habe. In einigen Essays legt der Autor dar, warum er Israel für ein Land hält, „das nicht erwachsen werden will“. Zum Ärger der Zionisten und auch vieler liberaler Juden vertritt Judt die Meinung, dass Israel auf die Dauer nur überleben kann, wenn Juden und Palästinenser zusammenleben, wenn das Land also aufhört, ein dezidiert jüdischer Staat zu sein.
Tony Judts umfangreiche „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“, die 2006 auf Deutsch erschien, ist ein gutes Buch, aber zu großen Teilen eine Fleißarbeit. Seine Essays hingegen sind die Kür: Sie sind lehrreich, politisch luzide und stilistisch pointiert. Anregender sind sie schon deshalb, weil Judts Europa-Geschichte als überzeitliches „Standardwerk“ angelegt ist, wohingegen er sich in seinen Artikeln bei aller Berücksichtigung der historischen Fakten erlaubt hat, seinen eigenen, stets klugen Beobachtungen mehr Raum zu geben.
Den großen Historiker Eric Hobsbawm zum Beispiel findet er verächtlich: Er hält Hobsbawm für einen unaufrichtigen Salonmarxisten, der sich der Realität im Ostblock nicht gestellt habe. Da Judt selbst dem Marxismus nach wie vor einiges abgewinnen kann, scheint es, als wolle er sagen: Über den Marxismus dürfen heutzutage nur Antikommunisten – Denker, wie er selbst einer ist – noch gute Worte verlieren. Auch Hobsbawms Anhänger werden allerdings zugeben müssen, dass Judts Auseinandersetzung mit dem Kommunismus interessante Fragen aufwirft, die sehr viel intelligenter sind als die üblichen Vorwürfe.
Es ist ein ungewöhnliches Fazit, und doch muss man sagen: Tony Judts Essays sind bedeutsamer als seine große Geschichte der Nachkriegszeit. Seine Aufsatzsammlung sei jedem empfohlen, der sich für das 20. Jahrhundert und die historischen Hintergründe der Tagespolitik interessiert. FRANZISKA AUGSTEIN
TONY JUDT: Das vergessene 20. Jahrhundert. Hanser Verlag, München 2010. 475 Seiten, 27,90 Euro.
Ohne die historischen
Hintergründe versteht man
nicht die Tagespolitik
Wo Tony Judt sich
auskennt, ist er
schwerlich zu übertreffen
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2010Nachmittags Psychoanalyse, abends Revolutionstheorie, dazwischen Medikamente
Von Johannes Paul II. über Albert Camus bis zu Eric Hobsbawm: Die Essays des verstorbenen Historikers Tony Judt erkunden die Figur des politischen Intellektuellen.
Geschichte, von allen Seiten betrachtet, ist das Leitmotiv der gesammelten Essays von Tony Judt. Auch in den biographischen Skizzen, die er den großen und manchmal weniger großen Geistern des vergangenen Jahrhunderts gewidmet hat, ist die Geschichte der Epoche stets gegenwärtig. Seine Kunst ist es, die Zeit in der Lebenszeit abzubilden, und daraus Rückschlüsse zu ziehen auf die spezifische Weise, in der sich Arthur Koestler und Manés Sperber, Albert Camus und Louis Althusser, Eric Hobsbawm und Hannah Arendt ihren Reim auf die Geschichte schlechthin gemacht haben.
Nicht alle dieser Essays, ursprünglich Rezensionen in der "New York Review of Books", halten die gleiche Höhe. Die meisten allerdings wachsen über ihren Anlass weit hinaus. Nur bei der Studie über Papst Johannes Paul II. hat man den Eindruck, dass sie - so willkommen eine intelligente kritische Arbeit gerade über diesen Papst wäre - den üblichen Meinungen der aufgeklärten, liberalen Öffentlichkeit der westlichen Länder allzu sehr verpflichtet bleibt. Mystik wird pejorativ "Mystizismus" genannt, was vielleicht ein Problem der Übersetzung aus dem Englischen ist. Die besondere Marienfrömmigkeit Johannes Pauls II. blieb Tony Judt fremd, ebenso die "konservative Einstellung zu Ehe und Abtreibung", die er mit diesem Papst verbindet - hier sieht er nur eine "obsessive Beschäftigung mit dem Thema Sexualität". Interessant immerhin ist es, dass er aus dem "Syllabus errorum", der Liste der von der Kirche in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kodifizierten modernen Irrlehren, den eigentlichen Schlussstein zitiert: "Der Römische Papst kann und muss sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der heutigen Zivilisation versöhnen und vereinen."
Judt sieht diese Haltung in dem vorigen Papst nachwirken. Und nur diese. Dass Johannes Paul II. andererseits aber gerade in ökumenischen Angelegenheiten, etwa bei den interreligiösen Treffen in Assisi, weiter ging, als es Benedikt XVI. je tun wird, gehörte eigentlich mit ins Bild. Aber Judt erkennt, wie viele Kommentatoren, in Johannes Paul II. ausschließlich die konservativen, modernitätskritischen Impulse - und nicht die mindestens ebenso starken und, in der Benutzung medial inszenierter Großereignisse, auch fragwürdigen Modernismen dieses Pontifikats.
Man merkt auch sonst sehr schnell, wo Judts Sympathien liegen und wo nicht. Es mag ein urangelsächsischer Widerstand gegen das Übermaß von Theorien bei den Franzosen sein - jedenfalls kommt Louis Althusser in diesem Buch sehr schlecht weg. Denn dieser marxistische Philosoph, der zeitweise höchste Autorität in den Kreisen der fortgeschrittenen europäischen Intelligenz besaß, war nun auf eigentümliche (und man darf wohl sagen: pathologische) Weise geschichtsblind. Blind für den konkreten Terror von Lenins Oktoberrevolution, die er nur als "Struktur" erfassen wollte - und blind für seine eigene Untat. Denn Althusser erwürgte seine Ehefrau, konnte sich aber in seiner autobiographischen Erzählung an den eigentlichen Tathergang nicht mehr erinnern.
Was Judt an dieser Geschichte stört, ist nicht der Marxismus, sondern die weltfremde Ausprägung, die er im Milieu der École Normale Supérieure der sechziger Jahre fand. Wer Althussers Erinnerungen noch einmal zur Hand nimmt, wird gerade hier fündig, wenn man mit wachsendem Schrecken liest, wie zwischen inquisitorischen Versammlungen der kommunistischen Zelle, immer neuen, nie beendeten Psychoanalysen und Selbstmorden von hochbegabten Dozenten die steilsten Revolutionstheorien gleichsam in den Pausen zwischen Klinikaufenthalten formuliert wurden. Das Gegenbild liefert der britische kommunistische Historiker Eric Hobsbawm; dieser nämlich sei, so Judt, "auf sehr englische Weise desinteressiert an marxistischen Theoriediskussionen".
Nicht der Marxismus an sich ist es, der Judt von vornherein suspekt gewesen wäre. Er hatte ihn selbst mit der Muttermilch aufgesogen. Und er kommt immer dann zu wirklichen Einsichten, wenn er den Schicksalen dieser Lehre und ihrer Adepten nachgeht, indem er etwa die Frage nach dem jüdischen Anteil am Revolutionsdenken der Zwischenkriegszeit stellt. Und vor allem dann, wenn er die heroischen Abtrünnigen wie Koestler und Sperber nun nicht noch einmal feiert, sondern auf ungemein eindringliche Weise in ihren Grenzen analysiert.
Nicht die pragmatische Geschichte bewegt Tony Judt also, sondern eher ein eigentümliches historisches Pathos. Was er zur Erhellung beibringt, manchmal ausdrücklich, manchmal nur zwischen den Zeilen, ist auch ein erster Ansatz zur Historisierung der heutigen Erinnerungskultur. "Wir leben in einem Zeitalter des Gedenkens", sagt er einmal. Länder und Städte verwandeln sich in Museen ihrer selbst. Aber zu welchem Ende? Dass gerade die offiziell gewünschte Form zur Entfremdung von der Geschichte führen könne, schwingt in diesen Essays immer mit.
LORENZ JÄGER
Tony Judt: "Das vergessene 20. Jahrhundert". Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, München 2010. 475 S., geb., 27,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Johannes Paul II. über Albert Camus bis zu Eric Hobsbawm: Die Essays des verstorbenen Historikers Tony Judt erkunden die Figur des politischen Intellektuellen.
Geschichte, von allen Seiten betrachtet, ist das Leitmotiv der gesammelten Essays von Tony Judt. Auch in den biographischen Skizzen, die er den großen und manchmal weniger großen Geistern des vergangenen Jahrhunderts gewidmet hat, ist die Geschichte der Epoche stets gegenwärtig. Seine Kunst ist es, die Zeit in der Lebenszeit abzubilden, und daraus Rückschlüsse zu ziehen auf die spezifische Weise, in der sich Arthur Koestler und Manés Sperber, Albert Camus und Louis Althusser, Eric Hobsbawm und Hannah Arendt ihren Reim auf die Geschichte schlechthin gemacht haben.
Nicht alle dieser Essays, ursprünglich Rezensionen in der "New York Review of Books", halten die gleiche Höhe. Die meisten allerdings wachsen über ihren Anlass weit hinaus. Nur bei der Studie über Papst Johannes Paul II. hat man den Eindruck, dass sie - so willkommen eine intelligente kritische Arbeit gerade über diesen Papst wäre - den üblichen Meinungen der aufgeklärten, liberalen Öffentlichkeit der westlichen Länder allzu sehr verpflichtet bleibt. Mystik wird pejorativ "Mystizismus" genannt, was vielleicht ein Problem der Übersetzung aus dem Englischen ist. Die besondere Marienfrömmigkeit Johannes Pauls II. blieb Tony Judt fremd, ebenso die "konservative Einstellung zu Ehe und Abtreibung", die er mit diesem Papst verbindet - hier sieht er nur eine "obsessive Beschäftigung mit dem Thema Sexualität". Interessant immerhin ist es, dass er aus dem "Syllabus errorum", der Liste der von der Kirche in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kodifizierten modernen Irrlehren, den eigentlichen Schlussstein zitiert: "Der Römische Papst kann und muss sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der heutigen Zivilisation versöhnen und vereinen."
Judt sieht diese Haltung in dem vorigen Papst nachwirken. Und nur diese. Dass Johannes Paul II. andererseits aber gerade in ökumenischen Angelegenheiten, etwa bei den interreligiösen Treffen in Assisi, weiter ging, als es Benedikt XVI. je tun wird, gehörte eigentlich mit ins Bild. Aber Judt erkennt, wie viele Kommentatoren, in Johannes Paul II. ausschließlich die konservativen, modernitätskritischen Impulse - und nicht die mindestens ebenso starken und, in der Benutzung medial inszenierter Großereignisse, auch fragwürdigen Modernismen dieses Pontifikats.
Man merkt auch sonst sehr schnell, wo Judts Sympathien liegen und wo nicht. Es mag ein urangelsächsischer Widerstand gegen das Übermaß von Theorien bei den Franzosen sein - jedenfalls kommt Louis Althusser in diesem Buch sehr schlecht weg. Denn dieser marxistische Philosoph, der zeitweise höchste Autorität in den Kreisen der fortgeschrittenen europäischen Intelligenz besaß, war nun auf eigentümliche (und man darf wohl sagen: pathologische) Weise geschichtsblind. Blind für den konkreten Terror von Lenins Oktoberrevolution, die er nur als "Struktur" erfassen wollte - und blind für seine eigene Untat. Denn Althusser erwürgte seine Ehefrau, konnte sich aber in seiner autobiographischen Erzählung an den eigentlichen Tathergang nicht mehr erinnern.
Was Judt an dieser Geschichte stört, ist nicht der Marxismus, sondern die weltfremde Ausprägung, die er im Milieu der École Normale Supérieure der sechziger Jahre fand. Wer Althussers Erinnerungen noch einmal zur Hand nimmt, wird gerade hier fündig, wenn man mit wachsendem Schrecken liest, wie zwischen inquisitorischen Versammlungen der kommunistischen Zelle, immer neuen, nie beendeten Psychoanalysen und Selbstmorden von hochbegabten Dozenten die steilsten Revolutionstheorien gleichsam in den Pausen zwischen Klinikaufenthalten formuliert wurden. Das Gegenbild liefert der britische kommunistische Historiker Eric Hobsbawm; dieser nämlich sei, so Judt, "auf sehr englische Weise desinteressiert an marxistischen Theoriediskussionen".
Nicht der Marxismus an sich ist es, der Judt von vornherein suspekt gewesen wäre. Er hatte ihn selbst mit der Muttermilch aufgesogen. Und er kommt immer dann zu wirklichen Einsichten, wenn er den Schicksalen dieser Lehre und ihrer Adepten nachgeht, indem er etwa die Frage nach dem jüdischen Anteil am Revolutionsdenken der Zwischenkriegszeit stellt. Und vor allem dann, wenn er die heroischen Abtrünnigen wie Koestler und Sperber nun nicht noch einmal feiert, sondern auf ungemein eindringliche Weise in ihren Grenzen analysiert.
Nicht die pragmatische Geschichte bewegt Tony Judt also, sondern eher ein eigentümliches historisches Pathos. Was er zur Erhellung beibringt, manchmal ausdrücklich, manchmal nur zwischen den Zeilen, ist auch ein erster Ansatz zur Historisierung der heutigen Erinnerungskultur. "Wir leben in einem Zeitalter des Gedenkens", sagt er einmal. Länder und Städte verwandeln sich in Museen ihrer selbst. Aber zu welchem Ende? Dass gerade die offiziell gewünschte Form zur Entfremdung von der Geschichte führen könne, schwingt in diesen Essays immer mit.
LORENZ JÄGER
Tony Judt: "Das vergessene 20. Jahrhundert". Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, München 2010. 475 S., geb., 27,90 [Euro].
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In Reappraisals the British-born historian, now a university professor in New York, collects 23 essays, written between 1994 and 2006, in which he undertakes a ruthless dissection of the ruling illusions of the post-cold war years...There are illuminating assessments of Primo Levi and Hannah Arendt, a superb deconstruction of the fall of France in 1940, explorations of Belgium's fractured statehood and the ambiguous position of Romania in Europe, analyses of the Cuba crisis and Kissinger's diplomacy, and much else besides...Judt is a liberal thinker dedicated to demystifying liberal illusions. Reappraisals is an indispensable tract for the times by one of the great political writers of the age John Gray Guardian