Vermochten deutschsprachige Schriftsteller auf die Erfahrung der NS-Prozesse literarisch zu antworten?Als in den Nürnberger Prozessen und im Frankfurter Auschwitz-Prozeß das Ausmaß der nationalsozialistischen Massenverbrechen zutage trat, wurde offenkundig, daß der juristische Diskurs nur eingeschränkt in der Lage war, dem, was Deutsche in Europa angerichtet hatten, einen auch nur annähernd angemessenen Ausdruck zu verleihen. 1965 bekannte der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer: »Wir Juristen in Frankfurt haben erschreckt gerufen nach dem Dichter, der das ausspricht, was der Prozeß auszusprechen nicht imstande ist.« Tatsächlich hatten einige deutschsprachige Schriftsteller die Prozesse im Gerichtssaal mitverfolgt. Doch konnten sie der Erwartung, die Bauer formulierte, überhaupt entsprechen? Inhalt:Stephan Braese: Juris-Diktionen. Eine EinführungRobert André: Im Stillen. W. E. Süskind, der Nürnberger Prozess und die Sprache des »Unmenschen«Cornelia Vismann: Sprachbrüche im Nürnberger KriegsverbrecherprozessHenry A. Lea: Verfolger und Verfolgte: Wolfgang Hildesheimers Erfahrung der Nürnberger ProzesseHanno Loewy: Are we going to do this again? Nürnberg, Jerusalem, Frankfurt: Auschwitz im Courtroom DramaVivian Liska: Das Aktenkundige und die Dichtung. Zu Marie Luise Kaschnitz' »Zoon Politikon«Marcel Atze: »Ich will nur dasitzen und zuhören, zusehen und beobachten.« Horst Krüger im Auschwitz-ProzessBurkhardt Lindner: Protokoll, Memoria, Schattensprache. »Die Ermittlung« von Peter Weiss ist kein DokumentartheaterRainer Stollmann: Wovon man nicht reden kann, das ist gemeinsame Sache aller Teilsprachen. KZ, Krieg, politisches Verbrechen im Werk Alexander KlugesKlaus Lüdersen: Die Wahrheit des »Vorlesers«William Collins Donahue: Der Holocaust als Anlass zur Selbstbemitleidung. Geschichtsschüchternheit in Bernhard Schlinks »Der Vorleser«
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Jan Süselbeck hat einen Band zu den Wechselwirkungen zwischen "Justiz und Literatur im Angesicht der Shoah" mit Gewinn gelesen, auch wenn offensichtlich nicht alle Beiträge das Niveau der beiden halten können, die sich mit dem Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer auseinandersetzen. Hildesheimer, dessen Familie 1933 fliehen musste und der als Dolmetscher bei den Nürberger Prozessen beschäftigt war und dabei die Tätersprache innerhalb von Sekunden begreifbar übertragen musste, ohne dabei über den Inhalt nachdenken zu können. Cornelia Vismann zeigt, wie sich diese Aussagen, im "Unbewussten abgelagert", Jahre später in Hildesheimers Büchern niederschlugen, während Henry A. Leas, ausgehend von demselben intimen Vorgang des "Stimmen-Leihens", Hildesheimers als "absurde Literatur" missverstandene späte Texte als Versuch beschreibt, "einer ins Groteske gesteigerten, jedoch konkret erfahrenen Schreckens-Wahrheit ästhetisch beizukommen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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