Gegen Angst und Vorurteile: Erfahrungen eines guten Lebens mit Demenz
Immer mehr Menschen werden älter, immer mehr werden dement. Unsere auf geräuschloses Funktionieren optimierte Konsumgesellschaft aber steht hilflos vor denjenigen, die aus ihrer Mitte ver-rückt wurden. Die Last ihrer Versorgung tragen vor allem Angehörige und Pflegekräfte aus Osteuropa. Professor Thomas Klie plädiert in einem sehr aufwühlenden Buch dafür, dass wir Menschen mit Demenz als selbstverständlich dazugehörig begreifen und anerkennen, dass auch mit Demenz ein glückliches und zufriedenes Leben möglich ist - unter den richtigen Rahmenbedingungen. Gerade angesichts der durch die Corona-Pandemie verschärften gesellschaftlichen Verteilungskämpfe gilt für Klie: Die Leitkultur misst sich an der Behandlung des Themas Demenz.
Immer mehr Menschen werden älter, immer mehr werden dement. Unsere auf geräuschloses Funktionieren optimierte Konsumgesellschaft aber steht hilflos vor denjenigen, die aus ihrer Mitte ver-rückt wurden. Die Last ihrer Versorgung tragen vor allem Angehörige und Pflegekräfte aus Osteuropa. Professor Thomas Klie plädiert in einem sehr aufwühlenden Buch dafür, dass wir Menschen mit Demenz als selbstverständlich dazugehörig begreifen und anerkennen, dass auch mit Demenz ein glückliches und zufriedenes Leben möglich ist - unter den richtigen Rahmenbedingungen. Gerade angesichts der durch die Corona-Pandemie verschärften gesellschaftlichen Verteilungskämpfe gilt für Klie: Die Leitkultur misst sich an der Behandlung des Themas Demenz.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als Kennerin des Themas Demenz entdeckt Hildegard Kaulen im Buch des Gerontologen Thomas Klie wenig Neues. Für Angehörige von Demenzkranken kann das Buch dennoch lesenswert und anregend sein, räumt sie ein. Ausschlaggebend dafür ist laut Rezensentin, dass der Autor Demenz nicht als Schreckgespenst darstellt, sondern als zu meisternde Aufgabe. Deren Rahmenbedingungen werden vom Autor laut Kaulen skizzenhaft und unter Bezugnahme auf AutorInnen wie Martha Nussbaum und Mike Nolan geschildert. Auch die verschärften Bedingungen in Demenzheimen während der Pandemie werden kritisch verhandelt, erklärt Kaulen. Mitunter fehlt es dem Buch allerdings an Tiefe bzw. Pointierung, bedauert sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2021Ein Spagat zwischen Gelingen und Scheitern
Der Gerontologe Thomas Klie wirbt dafür, Demenz als Herausforderung für eine sorgende Gesellschaft zu sehen
Demenz ist für die meisten Menschen ein Schreckgespenst. Sie fürchten das Vergessen, den Verlust an Autonomie und sorgen sich um ihre Würde. Der Gerontologe und Rechtswissenschaftler Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule in Freiburg plädiert in seinem Buch für ein anderes Verständnis. Er hebt hervor, mit der Krankheit lasse sich unter den richtigen Umständen gut leben. Dafür braucht es zuträgliche Rahmenbedingungen. Klie möchte, dass Demenz nicht als unendliche Leidensgeschichte gesehen wird, sondern als Herausforderung, die von einer sorgenden Gesellschaft gemeistert werden kann. Wenn man Demenz nicht heilen könne, müsse man lernen, damit zu leben.
Klie skizziert, was seines Erachtens dafür notwendig ist. Er stützt sich dabei auf das Konzept des guten Lebens der amerikanischen Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Martha Nussbaum, auf das Pflegekonzept des englischen Wissenschaftlers Mike Nolan und auf Überlegungen zum guten und gelingenden Leben im Alter des deutschen Gerontologen und Psychologen Andreas Kruse. Klie macht allerdings auch deutlich, dass die Coronavirus-Pandemie eine Zäsur darstellt. Die Schutzbedürftigkeit und der Schutz der Menschen mit Demenz seien in der Krise derart in den Vordergrund gerückt, dass andere Grundrechte wie etwa jenes auf soziale Teilhabe oft außer Acht gelassen worden seien. Menschen mit Demenz seien vielfach nur noch als Hochrisikogruppe mit enormem Haftungsrisiko für die Einrichtungen wahrgenommen worden. Klie benennt auch die Auswüchse: Statt Menschen mit Demenz weiterhin bei der Nahrungsaufnahme zu unterstützen, seien ihnen ohne Einverständnis der gesetzlichen Vertreter Magensonden gelegt worden. Quarantänemaßnahmen habe man vielerorts fast martialisch umgesetzt, vom Einschließen im Zimmer angefangen bis hin zur Fixierung ohne richterliche Genehmigung. Die Schutzbedürftigkeit der Menschen mit Demenz habe sich in der Coronavirus-Pandemie gegen die Betroffenen gerichtet.
Neben diesen Ausführungen listet Klie Informationen zur Häufigkeit und zu den Ursachen einer Demenz und zu den rechtlichen Aspekten einer Betreuung auf. Das Buch enthält auch eine Reihe persönlicher Erzählungen, die zeigen, wie ein gutes Leben mit Demenz bei allen Schwierigkeiten aussehen könnte. Diese Geschichten zeigen den alltäglichen Spagat zwischen Gelingen und Scheitern. Sie sind keine Schönfärbereien, sondern Dokumente echten Bemühens mit allen Chancen und Risiken eines solchen Perspektivenwechsels.
Das Buch ist ein starkes Plädoyer, hat aber auch deutliche Schwächen. Obwohl auf die einschneidende Bedeutung der Coronavirus-Pandemie für die Situation der Menschen mit Demenz verwiesen wird, fehlt ein eigenes Kapitel dazu. Die Auswirkungen der Pandemie kommen nur auf wenigen Seiten zur Sprache. Auch andere Aspekte hätten gebündelter und pointierter vorgetragen werden können. Die Angaben zur Häufigkeit, zu den Ursachen und den Therapien einer Demenz bilden zwar ein eigenes Kapitel, umfassen aber nur sechs Seiten. Unter der Überschrift "Ursachen" wird nichts darüber gesagt, was man heute über die Entstehung der einzelnen Demenzformen weiß, sondern es werden nur Risikofaktoren genannt, zum Beispiel Übergewicht und Depression oder ein geringer Bildungsgrad und niedriges Einkommen. Auch hier hätte man sich mehr Einordnung und wissenschaftliche Tiefe gewünscht.
Das Buch kann Angehörigen und Betroffenen helfen, eine Demenz nicht mehr als größtmögliche Katastrophe zu sehen, sondern als Lebensaufgabe und Gestaltungsfeld. Es ist sicher auch eine gute Diskussionsgrundlage, um das öffentliche Gespräch über ein gutes Leben mit Demenz zu fördern. Wer sich aber schon lange mit dem Thema befasst, wird in dem Buch wenig Neues finden.
HILDEGARD KAULEN
Thomas Klie: "Recht auf
Demenz". Ein Plädoyer.
S. Hirzel Verlag,
Stuttgart 2021.
171 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Gerontologe Thomas Klie wirbt dafür, Demenz als Herausforderung für eine sorgende Gesellschaft zu sehen
Demenz ist für die meisten Menschen ein Schreckgespenst. Sie fürchten das Vergessen, den Verlust an Autonomie und sorgen sich um ihre Würde. Der Gerontologe und Rechtswissenschaftler Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule in Freiburg plädiert in seinem Buch für ein anderes Verständnis. Er hebt hervor, mit der Krankheit lasse sich unter den richtigen Umständen gut leben. Dafür braucht es zuträgliche Rahmenbedingungen. Klie möchte, dass Demenz nicht als unendliche Leidensgeschichte gesehen wird, sondern als Herausforderung, die von einer sorgenden Gesellschaft gemeistert werden kann. Wenn man Demenz nicht heilen könne, müsse man lernen, damit zu leben.
Klie skizziert, was seines Erachtens dafür notwendig ist. Er stützt sich dabei auf das Konzept des guten Lebens der amerikanischen Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Martha Nussbaum, auf das Pflegekonzept des englischen Wissenschaftlers Mike Nolan und auf Überlegungen zum guten und gelingenden Leben im Alter des deutschen Gerontologen und Psychologen Andreas Kruse. Klie macht allerdings auch deutlich, dass die Coronavirus-Pandemie eine Zäsur darstellt. Die Schutzbedürftigkeit und der Schutz der Menschen mit Demenz seien in der Krise derart in den Vordergrund gerückt, dass andere Grundrechte wie etwa jenes auf soziale Teilhabe oft außer Acht gelassen worden seien. Menschen mit Demenz seien vielfach nur noch als Hochrisikogruppe mit enormem Haftungsrisiko für die Einrichtungen wahrgenommen worden. Klie benennt auch die Auswüchse: Statt Menschen mit Demenz weiterhin bei der Nahrungsaufnahme zu unterstützen, seien ihnen ohne Einverständnis der gesetzlichen Vertreter Magensonden gelegt worden. Quarantänemaßnahmen habe man vielerorts fast martialisch umgesetzt, vom Einschließen im Zimmer angefangen bis hin zur Fixierung ohne richterliche Genehmigung. Die Schutzbedürftigkeit der Menschen mit Demenz habe sich in der Coronavirus-Pandemie gegen die Betroffenen gerichtet.
Neben diesen Ausführungen listet Klie Informationen zur Häufigkeit und zu den Ursachen einer Demenz und zu den rechtlichen Aspekten einer Betreuung auf. Das Buch enthält auch eine Reihe persönlicher Erzählungen, die zeigen, wie ein gutes Leben mit Demenz bei allen Schwierigkeiten aussehen könnte. Diese Geschichten zeigen den alltäglichen Spagat zwischen Gelingen und Scheitern. Sie sind keine Schönfärbereien, sondern Dokumente echten Bemühens mit allen Chancen und Risiken eines solchen Perspektivenwechsels.
Das Buch ist ein starkes Plädoyer, hat aber auch deutliche Schwächen. Obwohl auf die einschneidende Bedeutung der Coronavirus-Pandemie für die Situation der Menschen mit Demenz verwiesen wird, fehlt ein eigenes Kapitel dazu. Die Auswirkungen der Pandemie kommen nur auf wenigen Seiten zur Sprache. Auch andere Aspekte hätten gebündelter und pointierter vorgetragen werden können. Die Angaben zur Häufigkeit, zu den Ursachen und den Therapien einer Demenz bilden zwar ein eigenes Kapitel, umfassen aber nur sechs Seiten. Unter der Überschrift "Ursachen" wird nichts darüber gesagt, was man heute über die Entstehung der einzelnen Demenzformen weiß, sondern es werden nur Risikofaktoren genannt, zum Beispiel Übergewicht und Depression oder ein geringer Bildungsgrad und niedriges Einkommen. Auch hier hätte man sich mehr Einordnung und wissenschaftliche Tiefe gewünscht.
Das Buch kann Angehörigen und Betroffenen helfen, eine Demenz nicht mehr als größtmögliche Katastrophe zu sehen, sondern als Lebensaufgabe und Gestaltungsfeld. Es ist sicher auch eine gute Diskussionsgrundlage, um das öffentliche Gespräch über ein gutes Leben mit Demenz zu fördern. Wer sich aber schon lange mit dem Thema befasst, wird in dem Buch wenig Neues finden.
HILDEGARD KAULEN
Thomas Klie: "Recht auf
Demenz". Ein Plädoyer.
S. Hirzel Verlag,
Stuttgart 2021.
171 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"In dem aufwühlenden Buch "Recht auf Demenz" führt er uns vor Augen, warum Demenz noch immer vielen Menschen als Schreckgespenst gilt, warum Erkrankte während der Pandemie besonders leiden und wie wir ihnen ein gutes Leben ermöglichen können." Kornelia Noack Sächsische Zeitung 20210401