Der erste Teil des Bandes - »Die Verbindlichkeit des Rechts« - zeigt die systematische Gegenwärtigkeit der praktischen Philosophie Kants auf. Der zweite Teil bietet »Bausteine einer modernen Gerechtigkeitstheorie«, der dritte - »Pragmatische Rationalität und demokratische Tugend« - demokratieethische Überlegungen.
Die gerechtigkeitstheoretischen Untersuchungen konzentrieren sich auf die beiden politischen Problembereiche des Sozialstaats und der internationalen Beziehungen. Sie entwickeln zum einen einen institutionalistischen Begriff der Verteilungsgerechtigkeit und verknüpfen die Konzeption des menschenrechtlichen Egalitarismus, die Theorie der transzendentalen Güter und einen erweiterten, den Rawlsschen Rahmen beträchtlich überschreitenden Kontraktualismus zu einem komplexen gerechtigkeitstheoretischen Argument, das die kooperationsgemeinschaftlichen und solidaritätsgemeinschaftlichen Gerechtigkeitsschulden der entwickelten Marktgesellschaft einzutreiben versucht. Zum anderen vertreten sie einen kosmopolitischen Kognitivismus, der das Kantische Argument von der internationalen Geltungsreichweite des Menschenrechts aufgreift, jedoch im Gegensatz zu Kant für eine institutionell gefestigte globale Rechtsordnung und kooperative Sicherheitsordnung mit Gerechtigkeitsverpflichtung plädiert.
In den demokratieethischen Überlegungen geht es um die Spannung zwischen universalistischen und partikularistischen Orientierungen auf dem Gebiet der Theorie und der gesellschaftlichen Integration. Nur wenn die Anerkennung der universalistischen Prinzipien, die vernunftbewirkte Achtung gegenüber Recht und Gerechtigkeit mit dem partikularistischen Prinzip des praxisbewirkten Bürgersinns und der demokratischen Tugend vermittelt ist und fester Bestandteil einer ethisch durchwirkten, partikularen Konzeption des gemeinschaftlich guten Lebens wird, ist das Erbe der Aufklärung in guten Händen.
Die gerechtigkeitstheoretischen Untersuchungen konzentrieren sich auf die beiden politischen Problembereiche des Sozialstaats und der internationalen Beziehungen. Sie entwickeln zum einen einen institutionalistischen Begriff der Verteilungsgerechtigkeit und verknüpfen die Konzeption des menschenrechtlichen Egalitarismus, die Theorie der transzendentalen Güter und einen erweiterten, den Rawlsschen Rahmen beträchtlich überschreitenden Kontraktualismus zu einem komplexen gerechtigkeitstheoretischen Argument, das die kooperationsgemeinschaftlichen und solidaritätsgemeinschaftlichen Gerechtigkeitsschulden der entwickelten Marktgesellschaft einzutreiben versucht. Zum anderen vertreten sie einen kosmopolitischen Kognitivismus, der das Kantische Argument von der internationalen Geltungsreichweite des Menschenrechts aufgreift, jedoch im Gegensatz zu Kant für eine institutionell gefestigte globale Rechtsordnung und kooperative Sicherheitsordnung mit Gerechtigkeitsverpflichtung plädiert.
In den demokratieethischen Überlegungen geht es um die Spannung zwischen universalistischen und partikularistischen Orientierungen auf dem Gebiet der Theorie und der gesellschaftlichen Integration. Nur wenn die Anerkennung der universalistischen Prinzipien, die vernunftbewirkte Achtung gegenüber Recht und Gerechtigkeit mit dem partikularistischen Prinzip des praxisbewirkten Bürgersinns und der demokratischen Tugend vermittelt ist und fester Bestandteil einer ethisch durchwirkten, partikularen Konzeption des gemeinschaftlich guten Lebens wird, ist das Erbe der Aufklärung in guten Händen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.1998Große Zwecke, kleine Räume
Was nutzt die beste Philosophie, wenn die Tartaren kommen? Wolfgang Kersting traut der Vernunft viel, aber nicht zuviel zu
Noch unbelastet von den Sprachregelungen der politischen Korrektheit, bemerkt Rousseau im "Emile": "Mißtraut den Kosmopoliten, die in ihren Büchern Pflichten in der Ferne suchen, die sie in ihrer Nähe nicht zu erfüllen geruhen. Mancher Philosoph liebt die Tataren, damit er seinen Nächsten nicht zu lieben braucht." Diese Mahnung ist der Stachel im Fleisch jeder praktischen Philosophie, die sich zur Semantik eines menschenrechtlich gestützten Egalitarismus und Universalismus bekennt. Einer solchen Philosophie fällt es schwer, irgend jemanden vom Genuß möglicher normativer Höchststandards auszuschließen; sie tendiert dazu, ihre Adressaten drastisch zu überfordern und auf diese Weise ihre eigene soziale Marginalisierung herbeizuführen. Ihr schwierigstes Problem liegt mithin weniger in der Begründung von Anspruchsinhalten als in der Begründung von Anspruchsgrenzen. Der Kieler Philosoph Wolfgang Kersting möchte dem Projekt der Aufklärung dadurch dienen, daß er das Problem der Grenzziehung, statt es mit hohem Gestus der Menschheitsfreundschaft zu leugnen, dem Gerichtshof der praktischen Vernunft überantwortet.
Diesem Gerichtshof mutet sein Schöpfer ein beeindruckendes Arbeitspensum zu: Nicht nur befaßt er sich mit zahlreichen kontrovers diskutierten Anwendungsproblemen der praktischen Philosophie - vor allem zu Fragen der Wirtschafts- und der Medizintechnik sowie der Staatenbeziehungen; er geht auch ausführlich auf jene Kontroverse ein, die sich in den beiden letzten Jahrzehnten als Rahmen zur Erörterung derartiger Einzelfragen etabliert hat - die Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. Die Urteilsfindung des von Kersting eingerichteten Gerichtshofes zeichnet sich durch eine allen Extremen abholde Mäßigung aus; so finden Forderungen nach einem System umfassender Umverteilung vor ihm ebensowenig Gnade wie die Position eines rigorosen Kommunitarismus, der moralische Verpflichtungen einseitig auf eine Gemeinschaftsethik mit diffusen Inhalten und unsicheren Grenzen gründen will.
Der von Kersting statt dessen vorgeschlagene Weg ist, wie der Autor, möglicherweise mit einem Schuß Selbstironie, vermerkt, "selbstverständlich" ein solcher der Integration: Anerkennungsgleichheit ja, aber ergänzt um eine "Loyalitätsethik", eine "ungleichheitsorientierte Ethik des Hinsehens". Nur auf diese Weise, also durch die Honorierung der besonderen Pflichten, die sich aus dem "normativen Wurzelwerk" einer geteilten Lebenswelt ergäben, würde "unserem ethischen Empfinden" Genüge getan. Abgerundet wird dieser Ansatz durch eine staatsphilosophische Konzeption, die Kersting unter den Leitbegriff der "kommunitären Demokratie" stellt: Der Liberalismus müsse sein "neutralistisches Selbstmißverständnis" überwinden und sich selbst als sittliche Lebensform begreifen.
Zu diesem Zweck genüge es indes nicht, sich allein auf die motivationsbildende Kraft universalistischer Rechtsprinzipien zu verlassen. Hinzu kommen müsse das "gemeinsamkeitsstiftende Element der politischen Praxis": In der Teilnahme am politischen Diskurs erführen sich die autonomen Subjekte als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft, erlebten sie, was es heiße, Bürger zu sein. Man kann indes bezweifeln, daß es tatsächlich der vorgebliche Mangel an demokratischen Mitwirkungsrechten ist, der es zahlreichen Bürgern schwierig macht, sich mit ihrem Gemeinwesen zu identifizieren. Ist es häufig nicht eher die Relativierung rechtsstaatlicher Grundgarantien, etwa des Rechts auf Sicherheit, zugunsten einer von pressure groups proklamierten politischen Hypermoral, die für Unmut sorgt? Erforderlich ist, daß der liberale Grundwert der Rechtlichkeit ernst genommen und der Erosion rechtlicher Gesittung Einhalt geboten wird. Auf die Fortentwicklung von Kerstings Überlegungen darf man gespannt sein. MICHAEL PAWLIK
Wolfgang Kersting: "Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend". Abhandlungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 498 S., br., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was nutzt die beste Philosophie, wenn die Tartaren kommen? Wolfgang Kersting traut der Vernunft viel, aber nicht zuviel zu
Noch unbelastet von den Sprachregelungen der politischen Korrektheit, bemerkt Rousseau im "Emile": "Mißtraut den Kosmopoliten, die in ihren Büchern Pflichten in der Ferne suchen, die sie in ihrer Nähe nicht zu erfüllen geruhen. Mancher Philosoph liebt die Tataren, damit er seinen Nächsten nicht zu lieben braucht." Diese Mahnung ist der Stachel im Fleisch jeder praktischen Philosophie, die sich zur Semantik eines menschenrechtlich gestützten Egalitarismus und Universalismus bekennt. Einer solchen Philosophie fällt es schwer, irgend jemanden vom Genuß möglicher normativer Höchststandards auszuschließen; sie tendiert dazu, ihre Adressaten drastisch zu überfordern und auf diese Weise ihre eigene soziale Marginalisierung herbeizuführen. Ihr schwierigstes Problem liegt mithin weniger in der Begründung von Anspruchsinhalten als in der Begründung von Anspruchsgrenzen. Der Kieler Philosoph Wolfgang Kersting möchte dem Projekt der Aufklärung dadurch dienen, daß er das Problem der Grenzziehung, statt es mit hohem Gestus der Menschheitsfreundschaft zu leugnen, dem Gerichtshof der praktischen Vernunft überantwortet.
Diesem Gerichtshof mutet sein Schöpfer ein beeindruckendes Arbeitspensum zu: Nicht nur befaßt er sich mit zahlreichen kontrovers diskutierten Anwendungsproblemen der praktischen Philosophie - vor allem zu Fragen der Wirtschafts- und der Medizintechnik sowie der Staatenbeziehungen; er geht auch ausführlich auf jene Kontroverse ein, die sich in den beiden letzten Jahrzehnten als Rahmen zur Erörterung derartiger Einzelfragen etabliert hat - die Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. Die Urteilsfindung des von Kersting eingerichteten Gerichtshofes zeichnet sich durch eine allen Extremen abholde Mäßigung aus; so finden Forderungen nach einem System umfassender Umverteilung vor ihm ebensowenig Gnade wie die Position eines rigorosen Kommunitarismus, der moralische Verpflichtungen einseitig auf eine Gemeinschaftsethik mit diffusen Inhalten und unsicheren Grenzen gründen will.
Der von Kersting statt dessen vorgeschlagene Weg ist, wie der Autor, möglicherweise mit einem Schuß Selbstironie, vermerkt, "selbstverständlich" ein solcher der Integration: Anerkennungsgleichheit ja, aber ergänzt um eine "Loyalitätsethik", eine "ungleichheitsorientierte Ethik des Hinsehens". Nur auf diese Weise, also durch die Honorierung der besonderen Pflichten, die sich aus dem "normativen Wurzelwerk" einer geteilten Lebenswelt ergäben, würde "unserem ethischen Empfinden" Genüge getan. Abgerundet wird dieser Ansatz durch eine staatsphilosophische Konzeption, die Kersting unter den Leitbegriff der "kommunitären Demokratie" stellt: Der Liberalismus müsse sein "neutralistisches Selbstmißverständnis" überwinden und sich selbst als sittliche Lebensform begreifen.
Zu diesem Zweck genüge es indes nicht, sich allein auf die motivationsbildende Kraft universalistischer Rechtsprinzipien zu verlassen. Hinzu kommen müsse das "gemeinsamkeitsstiftende Element der politischen Praxis": In der Teilnahme am politischen Diskurs erführen sich die autonomen Subjekte als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft, erlebten sie, was es heiße, Bürger zu sein. Man kann indes bezweifeln, daß es tatsächlich der vorgebliche Mangel an demokratischen Mitwirkungsrechten ist, der es zahlreichen Bürgern schwierig macht, sich mit ihrem Gemeinwesen zu identifizieren. Ist es häufig nicht eher die Relativierung rechtsstaatlicher Grundgarantien, etwa des Rechts auf Sicherheit, zugunsten einer von pressure groups proklamierten politischen Hypermoral, die für Unmut sorgt? Erforderlich ist, daß der liberale Grundwert der Rechtlichkeit ernst genommen und der Erosion rechtlicher Gesittung Einhalt geboten wird. Auf die Fortentwicklung von Kerstings Überlegungen darf man gespannt sein. MICHAEL PAWLIK
Wolfgang Kersting: "Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend". Abhandlungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 498 S., br., 29,80 DM.
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