Das Buch setzt sich mit der rechtlichen Beurteilung folgender Streitigkeiten auseinander: 1. Kaiser Heinrich VII und Robert von Neapel (Prozess wegen Majestätsverbrechens, Universalmonarchie oder Nationalstaaten, Rechtliches Gehör); 2. Urban VI und Clemens VII (Rechtsgültigkeit der zum großen Schisma führenden Wahlen von Papst und Gegenpapst, Rechte der Kardinäle); 3. Der gerechte Krieg und die Landnahmen der Europäer (Die Entwicklung der Lehre vom gerechten Krieg, Rechtsstellung der Ungläubigen); 4. Sixtus IV und Lorenzo von Medici (Rechtsgültigkeit der Censura Sixtus' IV, Haftung einer Stadt für ihre Bürger, Rechtliches Gehör); 5. Das Konzil von Pisa 1511/1512 (Recht zur Einberufung eines Konzils, Verhältnis von Konzil und Papst, Anklage gegen und Urteil über einen Papst); 6. Heinrich VIII und Katharina von Aragón (Rechtsgültigkeit der Ehe Heinrichs mit Katharina, Ehehindernisse und Dispensrecht des Papstes, Abgrenzung von göttlichem und menschlichem Recht). In einem jeweils ersten Teil wird der Ablauf der zu beurteilenden Ereignisse geschildert, in einem zweiten die bislang meist wenig beachteten Gutachten führender Juristen und die Stellungnahmen angesehener Universitäten besprochen, mit denen die Auftraggeber ihre Ziele zu erreichen suchten. Die Gutachten schöpfen aus den Quellen des römischen und kanonischen Rechts. Sie enthalten Grundsätze, die zu den bleibenden Bestandteilen des europäischen ius commune geworden sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2011Päpstlicher als der Papst
Mit dem Heiligen Stuhl gegen den Heiligen Stuhl zu argumentieren oder sogar mit Moses gegen Moses: Das war im Mittelalter die Paradedisziplin gelehrter Juristen. Hermann Lange liefert fünf Studien zu alten Sensationsfällen.
Vor Gericht sind Sie in Gottes Hand? Unsinn. Nicht wenn Sie einen tüchtigen Rechtsbeistand haben. Hermann Lange, emeritierter Zivilrechtler der Universität Tübingen, erörtert die Bedeutung von Gutachten gelehrter Juristen in mittelalterlichen Prozessen nach dem Römischen Recht anhand von fünf teils spektakulären, teils nachhaltig wirksamen Konflikten.
An überlieferten Zeugnissen mangelt es nicht. Lange hält der historischen Forschung vor, sich für die Textsorte des Gutachtens nicht zu interessieren. Es fehle zu oft an der Kenntnis beider Rechte sowie an der Bereitschaft, allerhand gelehrtes, heute nur noch als öde empfundenes Beiwerk zu ertragen: endlose Zitatenketten, weit hergeholte Argumente und Bildungszierat. Da Lange den juristischen Laien im Vorwort einen Mangel an Grundkenntnissen vorwirft, wäre es sinnvoll gewesen, in einer Einleitung ein paar Hinweise auf triviale Sachverhalte zu geben: auf die Kodifikationen des Kaiser- und des Kirchenrechts, auf die Universitäten, wo die meisten Gutachter tätig waren, sowie auf die schon im vierzehnten Jahrhundert kaum noch zählbaren, ihrerseits normsetzenden Kommentare zu den großen Codices und einzelnen Gesetzen.
Eine Zusammenfassung fehlt; allerdings werden im Vorwort einige Urteile vorausgeschickt. Eines wird mit Kopfnicken abgehakt werden: Gutachten seien nur selten in Auftrag gegeben worden, um Entscheidungen darauf zu gründen. Vielmehr hätten sie oft nur zur Rechtfertigung dessen gedient, was man ohnehin zu tun gedachte oder schon getan hatte.
Den Grundsatz des Verfahrensrechts, dass kein Strafurteil Bestand haben kann, wenn dem Angeklagten keine oder keine ausreichende Verteidigungsmöglichkeit eingeräumt wurde, führt Lange auf ein Gutachten vom Anfang des vierzehnten Jahrhunderts zurück. Der in Bologna ausgebildete Oldradus de Ponte erstellte es zum Prozess Kaiser Heinrichs VII. gegen den in mehrfacher Hinsicht renitenten König Robert von Sizilien-Neapel. Der Luxemburger hatte das Verfahren gegen den Anjou in allzu großem Vertrauen auf die Allgewalt des gerade erst restaurierten Kaisertums geführt und ist nur vier Monate nach dem am 26. April 1313 gegen Robert gefällten Todesurteil gestorben. Nachhaltige Wirkung erzielte de Pontes Gutachten erst dadurch, dass Papst Clemens V. es heranzog, um in Dekreten nach dem Tod des Kaisers das Urteil wegen grober Mängel des Verfahrens für null und nichtig zu erklären.
Gut anderthalb Jahrhunderte später beriefen sich von Lorenzo de' Medici und der Kommune von Florenz beauftragte Gutachter auf das nach seinen Anfangsworten "Pastoralis cura" genannte Edikt Clemens' V., um den von Sixtus IV. am 1. Juni 1478 über Lorenzo verhängten großen Kirchenbann als nichtig zu erweisen. Anlass für das päpstliche Verdikt waren die Vorgänge nach dem am 26. April im Dom zu Florenz verübten Anschlag auf die Brüder Medici. Lorenzo il Magnifico wurde verwundet, sein jüngerer Bruder Giuliano ermordet. Die Rache traf neben Mitgliedern der Familie Pazzi den aktiv am Staatsstreich beteiligten Erzbischof von Pisa. Die gegen den Bannfluch des Papstes mobilisierten Gutachter verwiesen auf gravierende Mängel bei der Feststellung der angeblichen Tatbestände und monierten besonders, dass den Beklagten keine Gelegenheit zur Verteidigung eingeräumt worden sei.
Es fällt auf, dass die Gutachter es vermieden, eine seit dem 5. Mai vorliegende, wenig später europaweit bekannt werdende Quelle ins Spiel zu bringen, die in Gegenwart glaubwürdiger Zeugen abgelegte Aussage des Giovanni Battista de Montesecco, eines in letzter Minute vor dem Mord zurückgeschreckten Verschwörers. Demzufolge wäre Papst Sixtus nicht nur in den Plan zum Sturz der Medici eingeweiht gewesen, sondern hätte diesen unter der Bedingung auch gebilligt, dass niemand umgebracht werde. Nach seinem Geständnis war Montesecco ehrenvoll enthauptet, nicht also wie seine Komplizen schändlich gehängt worden.
Die Gutachter werden wohl nicht deshalb die Aussage des Todeskandidaten übergangen haben, um den Ruf des Papstes zu schonen, denn andere Florentiner haben Sixtus IV. seinerzeit mit Schmähungen bedacht, die den Grobianismus der Luther-Zeit vorwegnahmen. Vielleicht waren die Juristen von vornherein auf einen Ausgleich mit Sixtus bedacht. Einer von ihnen, Bartolomäus Socinus, war sogar überzeugt, der Papst werde unter dem Eindruck seiner Verteidigungsschrift das Urteil über den Medici zurückziehen.
Zwei Personaldaten bezeugen, dass die Pazzi-Krise die Beziehungen zwischen der Kurie und den Medici tatsächlich nicht auf Dauer beeinträchtigen konnte; Lorenzos Sohn Giovanni wurde Papst Leo X. (1513 bis 1521), Giulio, der uneheliche Sohn von Lorenzos ermordetem Bruder, Papst Clemens VII. (1523 bis 1534). Der erste hatte es mit Luther zu tun, der zweite mit Heinrich VIII.
Leo X. hatte den König wegen dessen Pamphlet wider die Sakramentslehren des Ketzers aus Wittenberg mit dem in England noch heute in Ehren gehaltenen Titel eines Defensor fidei gewürdigt, sein Vetter Clemens verlangte von diesem Verteidiger des Glaubens die Einhaltung der Ehe mit Katharina von Aragón und trug so dazu bei, das "realm of England" zu einem von der römischen Kirche unabhängigen "Empire" aufsteigen zu lassen. Nach den Worten des am Queens' College zu Cambridge lehrenden Richard Rex verfügte Heinrich über ein religiös geschärftes, aber akrobatisch biegsames Gewissen. Dieses hatte ihn 1509 beunruhigt, als die Ehe mit Katharina geschlossen werden sollte, begann ihn aber zu martern, nachdem diese bei sieben Schwangerschaften nur eine lebensfähige Tochter zur Welt gebracht hatte.
Katharina war in erster Ehe mit Heinrichs 1502 verstorbenem Bruder Arthur verheiratet gewesen. Im 3. Buch Mose (Lev. 18,16 und 20,21) finden sich Gebote, die eine Ehe mit der Witwe des Bruders untersagen. Im 5. Buch Mose (Deut. 25,5) wird das Gegenteil verlangt: Der Bruder solle die Witwe des kinderlos verstorbenen Bruders zum Weibe nehmen. Dieser damals auch von Philologen erörterte Widerspruch zwischen Geboten des Alten Testaments war nicht das einzige Dilemma, mit dem sich die Gutachter beider Parteien auseinanderzusetzen hatten. Welcher Wert war einer von Papst Julius II. 1503 erteilten Dispens für die Ehe zwischen Witwe und Schwager zuzumessen? Konnte ein Papst sich über die in Leviticus enthaltenen Gebote überhaupt hinwegsetzen? Gehörten diese nicht in den Bereich des indispensablen "ius divinum", oder waren sie als Bestandteile des "ius naturale" oder "ius humanum positivum" einzuschätzen? Der König bestand auf der ersten, wenn man so will, fundamentalistischen Lehre.
Bei diesem Konflikt sind die Gutachten auch von nicht in beiden Rechten bewanderten Historikern ausgiebig berücksichtigt worden, weil beide Parteien nahezu alle in Frage kommenden Persönlichkeiten und Gremien Europas um ihr Urteil ersucht haben. Diesmal werden von Lange auch die Kosten für Gutachter gestreift. Ein in Rom wirkender Beobachter Kaiser Karls V. meinte, mit 1000 Dukaten könne man mehr für Katharina, Karls Tante, erreichen als mit 25 000 für den König. Vermutlich spiegelt diese Kostenrelation auch den Arbeitsaufwand für die Rechtfertigung dieser oder jener Position. Der nach intensiven Studien zugunsten von Katharinas Standpunkt plädierende Luther erklärte später, für eine kleine Änderung seines Textes hätte er 300 Gulden haben können; das habe er aber nicht gewollt. Lange hat keinen Zweifel daran gelassen, welcher der beiden Parteien er in diesem Falle zuneigt. Nahezu kommentarlos zitiert er einen Ausspruch Luthers über den sich 1540 erneut von einer Ehefrau trennenden König: "Der juncker Heintze will Got sein und thun was gelüstet."
HEINZ THOMAS
Hermann Lange: "Recht und Macht". Politische Streitigkeiten im Spätmittelalter.
Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt a. M. 2010. 254 S., br., 49,- [Euro].
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Mit dem Heiligen Stuhl gegen den Heiligen Stuhl zu argumentieren oder sogar mit Moses gegen Moses: Das war im Mittelalter die Paradedisziplin gelehrter Juristen. Hermann Lange liefert fünf Studien zu alten Sensationsfällen.
Vor Gericht sind Sie in Gottes Hand? Unsinn. Nicht wenn Sie einen tüchtigen Rechtsbeistand haben. Hermann Lange, emeritierter Zivilrechtler der Universität Tübingen, erörtert die Bedeutung von Gutachten gelehrter Juristen in mittelalterlichen Prozessen nach dem Römischen Recht anhand von fünf teils spektakulären, teils nachhaltig wirksamen Konflikten.
An überlieferten Zeugnissen mangelt es nicht. Lange hält der historischen Forschung vor, sich für die Textsorte des Gutachtens nicht zu interessieren. Es fehle zu oft an der Kenntnis beider Rechte sowie an der Bereitschaft, allerhand gelehrtes, heute nur noch als öde empfundenes Beiwerk zu ertragen: endlose Zitatenketten, weit hergeholte Argumente und Bildungszierat. Da Lange den juristischen Laien im Vorwort einen Mangel an Grundkenntnissen vorwirft, wäre es sinnvoll gewesen, in einer Einleitung ein paar Hinweise auf triviale Sachverhalte zu geben: auf die Kodifikationen des Kaiser- und des Kirchenrechts, auf die Universitäten, wo die meisten Gutachter tätig waren, sowie auf die schon im vierzehnten Jahrhundert kaum noch zählbaren, ihrerseits normsetzenden Kommentare zu den großen Codices und einzelnen Gesetzen.
Eine Zusammenfassung fehlt; allerdings werden im Vorwort einige Urteile vorausgeschickt. Eines wird mit Kopfnicken abgehakt werden: Gutachten seien nur selten in Auftrag gegeben worden, um Entscheidungen darauf zu gründen. Vielmehr hätten sie oft nur zur Rechtfertigung dessen gedient, was man ohnehin zu tun gedachte oder schon getan hatte.
Den Grundsatz des Verfahrensrechts, dass kein Strafurteil Bestand haben kann, wenn dem Angeklagten keine oder keine ausreichende Verteidigungsmöglichkeit eingeräumt wurde, führt Lange auf ein Gutachten vom Anfang des vierzehnten Jahrhunderts zurück. Der in Bologna ausgebildete Oldradus de Ponte erstellte es zum Prozess Kaiser Heinrichs VII. gegen den in mehrfacher Hinsicht renitenten König Robert von Sizilien-Neapel. Der Luxemburger hatte das Verfahren gegen den Anjou in allzu großem Vertrauen auf die Allgewalt des gerade erst restaurierten Kaisertums geführt und ist nur vier Monate nach dem am 26. April 1313 gegen Robert gefällten Todesurteil gestorben. Nachhaltige Wirkung erzielte de Pontes Gutachten erst dadurch, dass Papst Clemens V. es heranzog, um in Dekreten nach dem Tod des Kaisers das Urteil wegen grober Mängel des Verfahrens für null und nichtig zu erklären.
Gut anderthalb Jahrhunderte später beriefen sich von Lorenzo de' Medici und der Kommune von Florenz beauftragte Gutachter auf das nach seinen Anfangsworten "Pastoralis cura" genannte Edikt Clemens' V., um den von Sixtus IV. am 1. Juni 1478 über Lorenzo verhängten großen Kirchenbann als nichtig zu erweisen. Anlass für das päpstliche Verdikt waren die Vorgänge nach dem am 26. April im Dom zu Florenz verübten Anschlag auf die Brüder Medici. Lorenzo il Magnifico wurde verwundet, sein jüngerer Bruder Giuliano ermordet. Die Rache traf neben Mitgliedern der Familie Pazzi den aktiv am Staatsstreich beteiligten Erzbischof von Pisa. Die gegen den Bannfluch des Papstes mobilisierten Gutachter verwiesen auf gravierende Mängel bei der Feststellung der angeblichen Tatbestände und monierten besonders, dass den Beklagten keine Gelegenheit zur Verteidigung eingeräumt worden sei.
Es fällt auf, dass die Gutachter es vermieden, eine seit dem 5. Mai vorliegende, wenig später europaweit bekannt werdende Quelle ins Spiel zu bringen, die in Gegenwart glaubwürdiger Zeugen abgelegte Aussage des Giovanni Battista de Montesecco, eines in letzter Minute vor dem Mord zurückgeschreckten Verschwörers. Demzufolge wäre Papst Sixtus nicht nur in den Plan zum Sturz der Medici eingeweiht gewesen, sondern hätte diesen unter der Bedingung auch gebilligt, dass niemand umgebracht werde. Nach seinem Geständnis war Montesecco ehrenvoll enthauptet, nicht also wie seine Komplizen schändlich gehängt worden.
Die Gutachter werden wohl nicht deshalb die Aussage des Todeskandidaten übergangen haben, um den Ruf des Papstes zu schonen, denn andere Florentiner haben Sixtus IV. seinerzeit mit Schmähungen bedacht, die den Grobianismus der Luther-Zeit vorwegnahmen. Vielleicht waren die Juristen von vornherein auf einen Ausgleich mit Sixtus bedacht. Einer von ihnen, Bartolomäus Socinus, war sogar überzeugt, der Papst werde unter dem Eindruck seiner Verteidigungsschrift das Urteil über den Medici zurückziehen.
Zwei Personaldaten bezeugen, dass die Pazzi-Krise die Beziehungen zwischen der Kurie und den Medici tatsächlich nicht auf Dauer beeinträchtigen konnte; Lorenzos Sohn Giovanni wurde Papst Leo X. (1513 bis 1521), Giulio, der uneheliche Sohn von Lorenzos ermordetem Bruder, Papst Clemens VII. (1523 bis 1534). Der erste hatte es mit Luther zu tun, der zweite mit Heinrich VIII.
Leo X. hatte den König wegen dessen Pamphlet wider die Sakramentslehren des Ketzers aus Wittenberg mit dem in England noch heute in Ehren gehaltenen Titel eines Defensor fidei gewürdigt, sein Vetter Clemens verlangte von diesem Verteidiger des Glaubens die Einhaltung der Ehe mit Katharina von Aragón und trug so dazu bei, das "realm of England" zu einem von der römischen Kirche unabhängigen "Empire" aufsteigen zu lassen. Nach den Worten des am Queens' College zu Cambridge lehrenden Richard Rex verfügte Heinrich über ein religiös geschärftes, aber akrobatisch biegsames Gewissen. Dieses hatte ihn 1509 beunruhigt, als die Ehe mit Katharina geschlossen werden sollte, begann ihn aber zu martern, nachdem diese bei sieben Schwangerschaften nur eine lebensfähige Tochter zur Welt gebracht hatte.
Katharina war in erster Ehe mit Heinrichs 1502 verstorbenem Bruder Arthur verheiratet gewesen. Im 3. Buch Mose (Lev. 18,16 und 20,21) finden sich Gebote, die eine Ehe mit der Witwe des Bruders untersagen. Im 5. Buch Mose (Deut. 25,5) wird das Gegenteil verlangt: Der Bruder solle die Witwe des kinderlos verstorbenen Bruders zum Weibe nehmen. Dieser damals auch von Philologen erörterte Widerspruch zwischen Geboten des Alten Testaments war nicht das einzige Dilemma, mit dem sich die Gutachter beider Parteien auseinanderzusetzen hatten. Welcher Wert war einer von Papst Julius II. 1503 erteilten Dispens für die Ehe zwischen Witwe und Schwager zuzumessen? Konnte ein Papst sich über die in Leviticus enthaltenen Gebote überhaupt hinwegsetzen? Gehörten diese nicht in den Bereich des indispensablen "ius divinum", oder waren sie als Bestandteile des "ius naturale" oder "ius humanum positivum" einzuschätzen? Der König bestand auf der ersten, wenn man so will, fundamentalistischen Lehre.
Bei diesem Konflikt sind die Gutachten auch von nicht in beiden Rechten bewanderten Historikern ausgiebig berücksichtigt worden, weil beide Parteien nahezu alle in Frage kommenden Persönlichkeiten und Gremien Europas um ihr Urteil ersucht haben. Diesmal werden von Lange auch die Kosten für Gutachter gestreift. Ein in Rom wirkender Beobachter Kaiser Karls V. meinte, mit 1000 Dukaten könne man mehr für Katharina, Karls Tante, erreichen als mit 25 000 für den König. Vermutlich spiegelt diese Kostenrelation auch den Arbeitsaufwand für die Rechtfertigung dieser oder jener Position. Der nach intensiven Studien zugunsten von Katharinas Standpunkt plädierende Luther erklärte später, für eine kleine Änderung seines Textes hätte er 300 Gulden haben können; das habe er aber nicht gewollt. Lange hat keinen Zweifel daran gelassen, welcher der beiden Parteien er in diesem Falle zuneigt. Nahezu kommentarlos zitiert er einen Ausspruch Luthers über den sich 1540 erneut von einer Ehefrau trennenden König: "Der juncker Heintze will Got sein und thun was gelüstet."
HEINZ THOMAS
Hermann Lange: "Recht und Macht". Politische Streitigkeiten im Spätmittelalter.
Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt a. M. 2010. 254 S., br., 49,- [Euro].
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