Der Mord an Walter Lübcke markiert eine weitere Eskalationsstufe des rechten Terrorismus in Deutschland. Er ist weder als Zufall noch als Einzelfall erklärbar, sondern zeigt wie unter einem Brennglas die gegenwärtige Dynamik dieses Terrors. Denn dahinter steht eine Geschichte der Radikalisierung, die sich gut an den Biografien der Mörder von rechts und ihren Taten zeigen lässt.
Martín Steinhagen erzählt die Geschichte des Opfers, des Täters, der Tat und beleuchtet das gesellschaftliche Klima, im dem das Attentat möglich wurde. Zugleich legt er Strategie, Taktik und Tradition des Rechtsterrorismus in Deutschland offen - und die wachsende, sich wandelnde Bedrohung von rechts. Das erste Buch über den politischen Mord an Walter Lübcke und seine Wurzeln im neuen Rechtsextremismus
Martín Steinhagen erzählt die Geschichte des Opfers, des Täters, der Tat und beleuchtet das gesellschaftliche Klima, im dem das Attentat möglich wurde. Zugleich legt er Strategie, Taktik und Tradition des Rechtsterrorismus in Deutschland offen - und die wachsende, sich wandelnde Bedrohung von rechts. Das erste Buch über den politischen Mord an Walter Lübcke und seine Wurzeln im neuen Rechtsextremismus
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Marlene Grunert findet bei Martin Steinhagen sowohl die nötige Empathie mit den Opfern rechtsextremer Taten als auch eine differenzierte wie nüchterne Betrachtung rechtsextremer Gewalt seit 1952 und eine analytische Erkundung dessen, wie Taten auf gesellschaftliche Stimmungen und Hetze folgen. Ausgehend von dem Mord an Walter Lübcke und dem folgenden Prozess bietet der Autor Grunert ein Panorama rechten Terrors in Deutschland und seiner Strukturen, eine gründliche Recherche zur Rolle des Verfassungsschutzes und eine Augen öffnende Kontextualisierung des Lübcke-Mordes.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.04.2021Die breite Spur des rechten Terrors
Justus Bender und Martín Steinhagen beleuchten die Pläne und Mordtaten
der rechtsextremistischen Szene in Deutschland – und ziehen unterschiedliche Schlüsse daraus
VON TANJEV SCHULTZ
Trotz zahlreicher Morde und Anschläge, die Rechtsextremisten verübt hatten, herrschte in den Behörden der Bundesrepublik lange Zeit die Vorstellung, zu organisiertem Terrorismus wären Neonazis nicht in der Lage. Für eine „braune RAF“ würden die Konzepte, die Köpfe und die Strukturen fehlen. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung war das Bild dumpfer Glatzköpfe verbreitet, die im Suff zuschlagen, sonst aber wenig auf die Reihe bekommen. Es war ein Zerrbild.
„Solange Rechtsterroristen als irrationale Hassverbrecher gesehen werden, nimmt die Öffentlichkeit sie nicht als geeignete Adressaten von Wut und Empörung wahr“, schreibt Justus Bender. Die Geistlosigkeit der Neonazis bedeute nicht, dass sie keinen Plan hätten. Schon seit Jahrzehnten kursieren in der militanten Szene Strategiepapiere und Terroranleitungen, einige stellt Bender in seinem Büchlein vor. Als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung recherchiert er schon länger zum Rechtsextremismus. Und auch er verfolgt nun einen Plan: Das Studium der Pamphlete, die einen „führerlosen Widerstand“ und den Aufbau terroristischer Zellen propagieren, soll die gesellschaftlichen Abwehrkräfte stärken.
Denn wer den Plan der Rechtsterroristen kenne, habe ihn bereits durchkreuzt. Von der Erkenntnis, dass auch Neonazis „kalt und berechnend“ vorgehen, verspricht sich Bender eine Art Befreiungsaktion für die kollektive Psyche. Werden die Täter in ihrer perfiden Rationalität ernst genommen, haben sie „unseren Zorn, unsere Ablehnung und unsere Ansprache“ verdient. Wird die Wut jedoch aufgestaut, richte sie sich gegen Institutionen des Staates, denen man vorwerfe, das Morden nicht verhindert zu haben.
Doch sind solche Vorwürfe nicht oft vernünftig und berechtigt? Wenn jemand die von Bender analysierten Strategiepapiere verkannt hat, so waren das zunächst einmal die Beamten in den Kriminal- und Verfassungsschutzämtern, die sich hauptberuflich damit befassen sollen. Ihre Rolle kritisch zu beleuchten, muss ja auch nicht unbedingt bedeuten, die Schuld der rechtsextremistischen Täter kleinzureden.
So elegant Benders Essay erscheint, inhaltlich blendet er zu vieles aus. Wer das weitsichtige „Eskalationsmodell“ heranzieht, dass ein Team um den Soziologen Wilhelm Heitmeyer entwickelt hat, kann erkennen: Die von Bender behandelten Strategietexte entspringen einem Planungs- und Unterstützungsmilieu, das die Terroristen anregen und versorgen kann – aber diesen Gewaltkern umgeben weitere soziale Schichten, die ideologische Schützenhilfe leisten, ohne im juristischen Sinne schuldig zu werden.
Diesen Zusammenhang zum gesellschaftlichen Klima, das dazu beiträgt, dass sich Rechtsterroristen – ob die Neonazis des NSU oder der Mörder Walter Lübckes – zur Tat ermächtigt fühlen, ignoriert das Buch weitgehend. Deutlich besser arbeitet diesen Zusammenhang Martín Steinhagen in seiner Darstellung des Attentats auf Lübcke heraus. Der freie Journalist schildert nicht nur die teilweise anrührende Geschichte des Opfers und die erschreckende Biografie des Mörders Stephan Ernst. Er referiert nicht nur die Erkenntnisse aus dem Gerichtsprozess, der im Frühjahr mit der Verurteilung von Ernst zu einer lebenslangen Haftstrafe endete. Ausgehend von diesem Fall zeigt das Buch die breite Spur rechter Gewalt, die sich durch die Bundesrepublik zieht.
Stark ist das Buch, wo das Zusammenspiel individuellen Handelns und gesellschaftlicher Stimmungen greifbar wird. Stephan Ernst verbrachte bereits seine Jugend im Hass. An dem Tag, als im November 1992 aus Mölln die Nachricht von drei Toten kam, die durch einen rassistisch motivierten Brandanschlag ums Leben kamen, schlug auch Ernst zu. In Wiesbaden stach er auf einer Bahnhofstoilette mit einem Messer einen Imam nieder. Eine Notoperation rettete dem Mann das Leben.
Vieles war zuletzt zwar schon in der Berichterstattung über den Mordprozess im Fall Lübcke zu lesen gewesen, Steinhagen sortiert die Erkenntnisse nun aber gut lesbar und verbindet sie mit hilfreichem Hintergrundwissen. Er hat umfassend recherchiert und so auch die noch jahrzehntelang unter Verschluss stehende Akte einsehen können, in der festgehalten ist, wie der hessische Verfassungsschutz nach dem NSU-Debakel seine eigene Arbeit bilanziert hat. Der Name von Stephan Ernst taucht mehrmals in diesem Bericht auf.
Das Zeugnis, das sich die Behörde selbst ausstellte, sei „vernichtend“, so Steinhagen. Offenbar herrschte in der Behörde „Chaos schon in der Ablage“. Material wurde nicht registriert, manches ist einfach verschwunden. Oft sei bei Quellen in der Neonazi-Szene weder nachgefragt noch versucht worden, Informationen zu verifizieren oder in einer Gesamtschau zu analysieren. Interessanten Hinweisen, so halte es der Bericht fest, wurde „sowohl in der Auswertung als auch in der Beschaffung nicht immer konsequent nachgegangen“.
Ein ähnliches Bild hatte sich im Zuge der Aufarbeitung des NSU-Falls bereits in anderen Ämtern gezeigt. Wie Justus Bender zu Recht schreibt, ist eines der Ziele rechter Terroristen die „Entfremdung zwischen den Opfergruppen und den Sicherheitsbehörden“. Sein Rat, Hinterbliebene von Opfern müssten zuerst dieses Ziel verdammen, bevor sie eine womöglich berechtigte Kritik an Ermittlern oder Verfassungsschützern äußerten, wirkt jedoch angesichts des Versagens der Ämter, das Steinhagen herausarbeitet, etwas anmaßend. Es unterstellt den Menschen, sie seien zu einfältig, um mehrere Ebenen gleichzeitig in den Blick nehmen zu können: die brutalen Pläne und Taten der militanten Rechten, die unverantwortliche Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden und die rassistischen Diskurse, die bis in die Mitte der Gesellschaft reichen.
Bei einigen Sicherheitsbehörden
herrschte sogar schon
„Chaos in der Ablage“
Der Mörder erschoss ihn auf seiner Terrasse: Trauerakt für den Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke, im Juni 2019.
Foto: Sean Gallup/Getty Images
Justus Bender:
Der Plan. Strategie und Kalkül des
Rechtsterrorismus.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021.
80 Seiten, 10 Euro.
E-Book: 6,99 Euro.
Martín Steinhagen:
Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt. Rowohlt Polaris, Hamburg 2021, 303 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Justus Bender und Martín Steinhagen beleuchten die Pläne und Mordtaten
der rechtsextremistischen Szene in Deutschland – und ziehen unterschiedliche Schlüsse daraus
VON TANJEV SCHULTZ
Trotz zahlreicher Morde und Anschläge, die Rechtsextremisten verübt hatten, herrschte in den Behörden der Bundesrepublik lange Zeit die Vorstellung, zu organisiertem Terrorismus wären Neonazis nicht in der Lage. Für eine „braune RAF“ würden die Konzepte, die Köpfe und die Strukturen fehlen. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung war das Bild dumpfer Glatzköpfe verbreitet, die im Suff zuschlagen, sonst aber wenig auf die Reihe bekommen. Es war ein Zerrbild.
„Solange Rechtsterroristen als irrationale Hassverbrecher gesehen werden, nimmt die Öffentlichkeit sie nicht als geeignete Adressaten von Wut und Empörung wahr“, schreibt Justus Bender. Die Geistlosigkeit der Neonazis bedeute nicht, dass sie keinen Plan hätten. Schon seit Jahrzehnten kursieren in der militanten Szene Strategiepapiere und Terroranleitungen, einige stellt Bender in seinem Büchlein vor. Als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung recherchiert er schon länger zum Rechtsextremismus. Und auch er verfolgt nun einen Plan: Das Studium der Pamphlete, die einen „führerlosen Widerstand“ und den Aufbau terroristischer Zellen propagieren, soll die gesellschaftlichen Abwehrkräfte stärken.
Denn wer den Plan der Rechtsterroristen kenne, habe ihn bereits durchkreuzt. Von der Erkenntnis, dass auch Neonazis „kalt und berechnend“ vorgehen, verspricht sich Bender eine Art Befreiungsaktion für die kollektive Psyche. Werden die Täter in ihrer perfiden Rationalität ernst genommen, haben sie „unseren Zorn, unsere Ablehnung und unsere Ansprache“ verdient. Wird die Wut jedoch aufgestaut, richte sie sich gegen Institutionen des Staates, denen man vorwerfe, das Morden nicht verhindert zu haben.
Doch sind solche Vorwürfe nicht oft vernünftig und berechtigt? Wenn jemand die von Bender analysierten Strategiepapiere verkannt hat, so waren das zunächst einmal die Beamten in den Kriminal- und Verfassungsschutzämtern, die sich hauptberuflich damit befassen sollen. Ihre Rolle kritisch zu beleuchten, muss ja auch nicht unbedingt bedeuten, die Schuld der rechtsextremistischen Täter kleinzureden.
So elegant Benders Essay erscheint, inhaltlich blendet er zu vieles aus. Wer das weitsichtige „Eskalationsmodell“ heranzieht, dass ein Team um den Soziologen Wilhelm Heitmeyer entwickelt hat, kann erkennen: Die von Bender behandelten Strategietexte entspringen einem Planungs- und Unterstützungsmilieu, das die Terroristen anregen und versorgen kann – aber diesen Gewaltkern umgeben weitere soziale Schichten, die ideologische Schützenhilfe leisten, ohne im juristischen Sinne schuldig zu werden.
Diesen Zusammenhang zum gesellschaftlichen Klima, das dazu beiträgt, dass sich Rechtsterroristen – ob die Neonazis des NSU oder der Mörder Walter Lübckes – zur Tat ermächtigt fühlen, ignoriert das Buch weitgehend. Deutlich besser arbeitet diesen Zusammenhang Martín Steinhagen in seiner Darstellung des Attentats auf Lübcke heraus. Der freie Journalist schildert nicht nur die teilweise anrührende Geschichte des Opfers und die erschreckende Biografie des Mörders Stephan Ernst. Er referiert nicht nur die Erkenntnisse aus dem Gerichtsprozess, der im Frühjahr mit der Verurteilung von Ernst zu einer lebenslangen Haftstrafe endete. Ausgehend von diesem Fall zeigt das Buch die breite Spur rechter Gewalt, die sich durch die Bundesrepublik zieht.
Stark ist das Buch, wo das Zusammenspiel individuellen Handelns und gesellschaftlicher Stimmungen greifbar wird. Stephan Ernst verbrachte bereits seine Jugend im Hass. An dem Tag, als im November 1992 aus Mölln die Nachricht von drei Toten kam, die durch einen rassistisch motivierten Brandanschlag ums Leben kamen, schlug auch Ernst zu. In Wiesbaden stach er auf einer Bahnhofstoilette mit einem Messer einen Imam nieder. Eine Notoperation rettete dem Mann das Leben.
Vieles war zuletzt zwar schon in der Berichterstattung über den Mordprozess im Fall Lübcke zu lesen gewesen, Steinhagen sortiert die Erkenntnisse nun aber gut lesbar und verbindet sie mit hilfreichem Hintergrundwissen. Er hat umfassend recherchiert und so auch die noch jahrzehntelang unter Verschluss stehende Akte einsehen können, in der festgehalten ist, wie der hessische Verfassungsschutz nach dem NSU-Debakel seine eigene Arbeit bilanziert hat. Der Name von Stephan Ernst taucht mehrmals in diesem Bericht auf.
Das Zeugnis, das sich die Behörde selbst ausstellte, sei „vernichtend“, so Steinhagen. Offenbar herrschte in der Behörde „Chaos schon in der Ablage“. Material wurde nicht registriert, manches ist einfach verschwunden. Oft sei bei Quellen in der Neonazi-Szene weder nachgefragt noch versucht worden, Informationen zu verifizieren oder in einer Gesamtschau zu analysieren. Interessanten Hinweisen, so halte es der Bericht fest, wurde „sowohl in der Auswertung als auch in der Beschaffung nicht immer konsequent nachgegangen“.
Ein ähnliches Bild hatte sich im Zuge der Aufarbeitung des NSU-Falls bereits in anderen Ämtern gezeigt. Wie Justus Bender zu Recht schreibt, ist eines der Ziele rechter Terroristen die „Entfremdung zwischen den Opfergruppen und den Sicherheitsbehörden“. Sein Rat, Hinterbliebene von Opfern müssten zuerst dieses Ziel verdammen, bevor sie eine womöglich berechtigte Kritik an Ermittlern oder Verfassungsschützern äußerten, wirkt jedoch angesichts des Versagens der Ämter, das Steinhagen herausarbeitet, etwas anmaßend. Es unterstellt den Menschen, sie seien zu einfältig, um mehrere Ebenen gleichzeitig in den Blick nehmen zu können: die brutalen Pläne und Taten der militanten Rechten, die unverantwortliche Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden und die rassistischen Diskurse, die bis in die Mitte der Gesellschaft reichen.
Bei einigen Sicherheitsbehörden
herrschte sogar schon
„Chaos in der Ablage“
Der Mörder erschoss ihn auf seiner Terrasse: Trauerakt für den Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke, im Juni 2019.
Foto: Sean Gallup/Getty Images
Justus Bender:
Der Plan. Strategie und Kalkül des
Rechtsterrorismus.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021.
80 Seiten, 10 Euro.
E-Book: 6,99 Euro.
Martín Steinhagen:
Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt. Rowohlt Polaris, Hamburg 2021, 303 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.08.2021Heraus aus der Nische
Präzise Einblicke in die Strukturen des organisierten Rechtsextremismus
Inzwischen besteht über die gegenwärtige Gefahr des Rechtsextremismus Konsens. Höchste Stellen sprechen, spätestens seit Hanau, in Superlativen. Vom "rechten Bereich" gehe derzeit "die höchste Bedrohung für die Sicherheit in unserem Lande aus", sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer nach den Morden. Der Verfassungsschutz teilt diese Einschätzung, ebenso der oberste Ermittler, Generalbundesanwalt Peter Frank.
In historischer Hinsicht dürften vielen die rechtsextremen Gewalttaten der Neunzigerjahre noch präsent sein, die pogromartigen Zusammenrottungen, die Angriffe und Brandstiftungen. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln sind zu Chiffren dieser Zeit geworden. Der Rechtsterrorismus, der länger zurückliegt, ist dagegen kaum bekannt, geschweige denn im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Dabei sind die Kontinuitäten evident.
Umso wichtiger ist die Analyse, die der Journalist Martín Steinhagen nun vorgelegt hat. Im Mittelpunkt seines Buchs "Rechter Terror" steht der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Steinhagen, der den Prozess am Oberlandesgericht Frankfurt verfolgt hat, nimmt die Tat zum Anlass für ein umfassendes Panorama. Sein Buch ist weit mehr als das, was großen Strafprozessen häufig folgt, mehr als eine ausführliche Zusammenstellung gesammelter Gerichtsreportagen.
Eine Passage zu Beginn illustriert die Linien, um die es Steinhagen geht. Er schildert Aufruhr im Hessischen Landtag. Eine bewaffnete rechtsextreme Gruppe ist ausgehoben worden, Waffenverstecke, Todeslisten und fragwürdige Verbindungen zu Sicherheitsbehörden wurden bekannt. Die Gleichgesinnten trainierten in einer umgebauten Garage das Schießen; in ganz Deutschland sind sie vernetzt. Die Gruppe bereitete sich darauf vor, die Bundeswehr zu unterwandern, an einem Tag X sollten politische Gegner mit Waffengewalt angegriffen werden. Auf den Feindeslisten stehen ungefähr 80 Sozialdemokraten, daneben etwa der Chefredakteur der Deutschen Presse-Agentur. Im Landtag hat der Ministerpräsident volle Aufklärung versprochen, ein Untersuchungsausschuss soll kommen. Es ist das Jahr 1952.
Der "Technische Dienst" des in Frankfurt gegründeten "Bundes Deutscher Jugend" war damals aufgeflogen, eine der ersten rechtsextremistischen Organisationen, die es in der Bundesrepublik gab. Rückblickend muss man sagen: eine von vielen. Steinhagen veranschaulicht, dass schon die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik Vorläufer und Vorbilder für den Rechtsterrorismus unserer Zeit hervorgebracht haben. Das gilt sowohl in Bezug auf Ideologien und Strukturen als auch mit Blick auf die Strategie der Gewalt.
Mindestens 24 Menschen fielen dem Rechtsterrorismus laut Barbara Manthe bis 1990 zum Opfer, 40 Gruppen und Alleintäter lassen sich dem Spektrum bis dahin zuordnen. Die Historikerin ist eine von vielen Fachleuten, mit denen Steinhagen gesprochen hat. Manthe erforscht an der Universität Bielefeld den deutschen Rechtsterrorismus von 1945 bis 1990, den selbst die Geschichtswissenschaft erst seit einigen Jahren systematisch in den Blick nimmt.
Sie erklärt das bisherige Versäumnis einerseits damit, dass viele Historiker bis zur Selbstenttarnung des "Nationalsozialistischen Untergrunds" die Einschätzung der Sicherheitsbehörden geteilt hätten, wonach es sich beim Rechtsterrorismus um ein Nischenphänomen handele. Außerdem habe sich die Geschichtswissenschaft aus guten Gründen lange auf die Erforschung des historischen Nationalsozialismus konzentriert. Den Diskurs um Innere Sicherheit und zeitgenössischen Terrorismus habe dann die "Rote Armee Fraktion" geprägt, auch Jahrzehnte nach dem "Deutschen Herbst" 1977. Manthe beobachtet außerdem die Tendenz, die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte der Demokratisierung zu erzählen.
Bei Steinhagen steht auch ein zu enger Begriff von "Terrorismus" in der Kritik. Dieser habe sich in einer Weise an der Gefährdung der staatlichen Ordnung orientiert, die Angriffe auf Minderheiten nicht in den Fokus nahm. Der Kritik ist zuzustimmen, inzwischen hat sich zum Glück etwas getan.
Die Thesen des Autors sind nicht neu; in den vergangenen Jahren sind einige Bücher zum Rechtsextremismus und zum Versagen deutscher Sicherheitsbehörden erschienen. Dieses sticht aber heraus. Auf der Grundlage ausführlicher Recherchen fasst Steinhagen nicht nur die Erkenntnisse zum Mord an Walter Lübcke zusammen und gewährt aufschlussreiche Einsichten in die Arbeit des hessischen Verfassungsschutzes. Seine große Leistung besteht in der Kontextualisierung der Tat.
Er setzt die Biografie des Mörders Stephan Ernst immer wieder in Beziehung zu den Dynamiken der rechten Szene, aber auch zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Die Zusammenschau ist aufschlussreich. Der Leser bekommt präzise Einblicke in den gegenwärtigen Rechtsextremismus, seine Tradition, seine (natürlich) bestens vernetzten Protagonisten und seine über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen.
Der Autor geht auch den Dingen präzise auf den Grund, die schon oft phrasenhaft im Raum standen, etwa dem Satz: "Aus Worten werden Taten." Er liefert eine genaue Analyse dessen, was in den Jahren vor dem Mord online geschah, wie die dortige Stimmung in der realen Welt böse Früchte trug und welche Wirkung gesellschaftliches Klima auf diejenigen haben kann, die zu Gewalttaten tendenziell bereit sind.
Das alles schildert Steinhagen nüchtern und ohne Pathos. Wo es nötig ist, bleibt Raum für Differenzierungen. Und an den entscheidenden Stellen ist der Ton einfühlsam - dort, wo es um die Opfer und ihre Hinterbliebenen geht.
MARLENE GRUNERT
Martín Steinhagen: Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt.
Rowohlt Polaris Verlag, Berlin 2021. 304 S., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Präzise Einblicke in die Strukturen des organisierten Rechtsextremismus
Inzwischen besteht über die gegenwärtige Gefahr des Rechtsextremismus Konsens. Höchste Stellen sprechen, spätestens seit Hanau, in Superlativen. Vom "rechten Bereich" gehe derzeit "die höchste Bedrohung für die Sicherheit in unserem Lande aus", sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer nach den Morden. Der Verfassungsschutz teilt diese Einschätzung, ebenso der oberste Ermittler, Generalbundesanwalt Peter Frank.
In historischer Hinsicht dürften vielen die rechtsextremen Gewalttaten der Neunzigerjahre noch präsent sein, die pogromartigen Zusammenrottungen, die Angriffe und Brandstiftungen. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln sind zu Chiffren dieser Zeit geworden. Der Rechtsterrorismus, der länger zurückliegt, ist dagegen kaum bekannt, geschweige denn im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Dabei sind die Kontinuitäten evident.
Umso wichtiger ist die Analyse, die der Journalist Martín Steinhagen nun vorgelegt hat. Im Mittelpunkt seines Buchs "Rechter Terror" steht der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Steinhagen, der den Prozess am Oberlandesgericht Frankfurt verfolgt hat, nimmt die Tat zum Anlass für ein umfassendes Panorama. Sein Buch ist weit mehr als das, was großen Strafprozessen häufig folgt, mehr als eine ausführliche Zusammenstellung gesammelter Gerichtsreportagen.
Eine Passage zu Beginn illustriert die Linien, um die es Steinhagen geht. Er schildert Aufruhr im Hessischen Landtag. Eine bewaffnete rechtsextreme Gruppe ist ausgehoben worden, Waffenverstecke, Todeslisten und fragwürdige Verbindungen zu Sicherheitsbehörden wurden bekannt. Die Gleichgesinnten trainierten in einer umgebauten Garage das Schießen; in ganz Deutschland sind sie vernetzt. Die Gruppe bereitete sich darauf vor, die Bundeswehr zu unterwandern, an einem Tag X sollten politische Gegner mit Waffengewalt angegriffen werden. Auf den Feindeslisten stehen ungefähr 80 Sozialdemokraten, daneben etwa der Chefredakteur der Deutschen Presse-Agentur. Im Landtag hat der Ministerpräsident volle Aufklärung versprochen, ein Untersuchungsausschuss soll kommen. Es ist das Jahr 1952.
Der "Technische Dienst" des in Frankfurt gegründeten "Bundes Deutscher Jugend" war damals aufgeflogen, eine der ersten rechtsextremistischen Organisationen, die es in der Bundesrepublik gab. Rückblickend muss man sagen: eine von vielen. Steinhagen veranschaulicht, dass schon die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik Vorläufer und Vorbilder für den Rechtsterrorismus unserer Zeit hervorgebracht haben. Das gilt sowohl in Bezug auf Ideologien und Strukturen als auch mit Blick auf die Strategie der Gewalt.
Mindestens 24 Menschen fielen dem Rechtsterrorismus laut Barbara Manthe bis 1990 zum Opfer, 40 Gruppen und Alleintäter lassen sich dem Spektrum bis dahin zuordnen. Die Historikerin ist eine von vielen Fachleuten, mit denen Steinhagen gesprochen hat. Manthe erforscht an der Universität Bielefeld den deutschen Rechtsterrorismus von 1945 bis 1990, den selbst die Geschichtswissenschaft erst seit einigen Jahren systematisch in den Blick nimmt.
Sie erklärt das bisherige Versäumnis einerseits damit, dass viele Historiker bis zur Selbstenttarnung des "Nationalsozialistischen Untergrunds" die Einschätzung der Sicherheitsbehörden geteilt hätten, wonach es sich beim Rechtsterrorismus um ein Nischenphänomen handele. Außerdem habe sich die Geschichtswissenschaft aus guten Gründen lange auf die Erforschung des historischen Nationalsozialismus konzentriert. Den Diskurs um Innere Sicherheit und zeitgenössischen Terrorismus habe dann die "Rote Armee Fraktion" geprägt, auch Jahrzehnte nach dem "Deutschen Herbst" 1977. Manthe beobachtet außerdem die Tendenz, die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte der Demokratisierung zu erzählen.
Bei Steinhagen steht auch ein zu enger Begriff von "Terrorismus" in der Kritik. Dieser habe sich in einer Weise an der Gefährdung der staatlichen Ordnung orientiert, die Angriffe auf Minderheiten nicht in den Fokus nahm. Der Kritik ist zuzustimmen, inzwischen hat sich zum Glück etwas getan.
Die Thesen des Autors sind nicht neu; in den vergangenen Jahren sind einige Bücher zum Rechtsextremismus und zum Versagen deutscher Sicherheitsbehörden erschienen. Dieses sticht aber heraus. Auf der Grundlage ausführlicher Recherchen fasst Steinhagen nicht nur die Erkenntnisse zum Mord an Walter Lübcke zusammen und gewährt aufschlussreiche Einsichten in die Arbeit des hessischen Verfassungsschutzes. Seine große Leistung besteht in der Kontextualisierung der Tat.
Er setzt die Biografie des Mörders Stephan Ernst immer wieder in Beziehung zu den Dynamiken der rechten Szene, aber auch zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Die Zusammenschau ist aufschlussreich. Der Leser bekommt präzise Einblicke in den gegenwärtigen Rechtsextremismus, seine Tradition, seine (natürlich) bestens vernetzten Protagonisten und seine über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen.
Der Autor geht auch den Dingen präzise auf den Grund, die schon oft phrasenhaft im Raum standen, etwa dem Satz: "Aus Worten werden Taten." Er liefert eine genaue Analyse dessen, was in den Jahren vor dem Mord online geschah, wie die dortige Stimmung in der realen Welt böse Früchte trug und welche Wirkung gesellschaftliches Klima auf diejenigen haben kann, die zu Gewalttaten tendenziell bereit sind.
Das alles schildert Steinhagen nüchtern und ohne Pathos. Wo es nötig ist, bleibt Raum für Differenzierungen. Und an den entscheidenden Stellen ist der Ton einfühlsam - dort, wo es um die Opfer und ihre Hinterbliebenen geht.
MARLENE GRUNERT
Martín Steinhagen: Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt.
Rowohlt Polaris Verlag, Berlin 2021. 304 S., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Stellenweise fesselt das Sachbuch wie ein Krimi." Hessische Niedersächsische Allgemeine