Emilie du Châtelet wurde 1706 geboren, sie übersetzte erstmals Newtons »Principia«, veröffentlichte eine Schrift zu Leibniz und setzte sich in ihrer Korrespondenz mit den großen Denkern ihrer Zeit - Voltaire, Euler und Cramer - mit Fragen der Mathematik und Physik auseinander.In ihrer Rede vom Glück schrieb sie 1746, für das Glück sei es unerlässlich, vernünftig und tugendhaft zu sein, und für Illusionen empfänglich. Zwei Jahre später verliebt sie sich in einen Gardeoffizier, in der Liebe zu ihm schlug sie leidenschaftlich ihre Maximen in den Wind. Kurz darauf starb sie 43-jährig bei der Geburt der gemeinsamen Tochter.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.1999Unterm Gefühlsrad
Madame du Châtelet und das Glück · Von Martin Mosebach
Die Marquise du Châtelet lebte in dem paradiesischen Jahrhundert, in dem, einer Definition ihres Liebhabers Voltaire zufolge, die Oberschicht bereits die Freuden der "Vorurteilslosigkeit" - gemeint ist der Atheismus - genoss, während das dumme Volk noch gläubig war und deshalb weniger betrog und stahl. Das Paradies war mit einem hohen Gitterzaun von vergoldeten Lanzenspitzen umzogen; der Baum der Erkenntnis war auf Kniehöhe gestutzt und als Spalier gepflanzt. Seine Früchte erntete die kluge Gärtnerin in entzückend geflochtene Körbchen. Die Schlange war aus Bronze und diente als Ornament für Barometer. Alles konnte man wissen, alles messen, aber diese Gewissheit schuf keine Langeweile, sondern war von unendlichem Reiz.
Man kann das Leben der Marquise du Châtelet auch anders erzählen. Am 17. September 1706 als Emilie Le Tonnelier des Breteuil geboren, mit neunzehn an einen ungeliebten Mann verheiratet, mit zweiundzwanzig ein Selbstmordversuch nach einer Liebesenttäuschung. Ein Sohn stirbt. Zehn Jahre Liebe zu Voltaire, der sie schließlich verlässt; eine Zeit, die für sie auch mit ernsthafter wissenschaftlicher Arbeit angefüllt war. Die Verlassene stürzt sich erst recht in die Arbeit und übersetzt Newton; sie verliert viel Geld beim Spiel. Mit zweiundvierzig verliebt sie sich in einen jungen Mann. Sie bringt sein Kind zur Welt, nachdem sie sich von seiner Treulosigkeit überzeugen durfte, und stirbt 1749 im Kindbett. Wie hätte eine Frau mit einem solchen Schicksal im neunzehnten Jahrhundert ausgesehen? Eine Mme de Staël, eine George Sand, eine Wilhelmine Schröder-Devrient, eine Duse? Von deren Seufzern hallte das Jahrhundert wider. Ihr Unglück war ein Teil ihrer Größe. Ihre Lebens- und Liebestragik schuf den Resonanzboden ihrer Kunst. Sie litten, aber sie litten nicht ungern, denn sie erkannten, dass sie das Leiden stark machte. Wenn Mme du Châtelet das Wort "Leiden" hörte, wurde sie ärgerlich; sie ließ es wahrscheinlich nur im Zusammenhang mit Zahnschmerzen zu.
Wer Mme du Châtelet nicht kennt, könnte bei der Lektüre ihrer "Rede vom Glück - Discours sur le bonheur" ebenso ärgerlich werden wie die Autorin beim Leiden. Der kleine Traktat, der viel von weiblicher Beratungsschriftstellerei an sich hat, stammt aus jener prekären "Zwischenkriegszeit", als es Voltaire nicht mehr und Monsieur de St. Lambert, den zwanzigjährigen Leutnant, noch nicht gab.
Schon im Jahrhundert davor waren die großen Damen mit der Frage nach dem Glück beschäftigt gewesen, deren Lösung bei ihnen in einer geheimnisvollen inneren Balance der verschiedenen Arten unglücklich zu sein bestand. Die berühmte Princesse de Clèves der Mme de La Fayette verzichtete auf die große Liebe ihres Lebens, weil sie die Vorstellung unerträglich fand, diese Liebe mit der Zeit allmählich abnehmen zu sehen. Sie dachte in den Kategorien der "katholischen Philosophie der Desillusionierung", wie T. S. Eliot es genannt hat. Von dieser Desillusionierung sagte Mme du Châtelet, die die Enkelin der Mme de La Fayette hätte sein können, sich nun los. "Anfangen sollte man damit, sich selbst zu sagen und zu überzeugen, daß wir auf dieser Welt nichts anderes zu tun haben, als uns Wohlgefühle und -empfindungen zu verschaffen", notiert die elegante Hedonistin zu Beginn ihres Discours.
Diesem Wohlgefühl hat sich alles andere unterzuordnen. "Ich schreibe nur für die, die man die gute Gesellschaft nennt, für diejenigen also, denen ein gewisses Vermögen . . . in die Wiege gelegt wurde." Aber mit solchen Vorzügen sind für sie keine Pflichten mehr verbunden. Die Marquise ist ein glänzendes Beispiel für den sich selbst abschaffenden Adel. "Das Gefühl der Reue ist eines der nutzlosesten Gefühle." "Wir müssen mit größter Sorgfalt alles vermeiden, was uns an den Tod erinnern könnte. Wenden wir also unsern Sinn von allen mißlichen Vorstellungen ab!" "Unter Tugend verstehe ich alles, was zum Glück der Gesellschaft beiträgt und infolgedessen zu unserem" - Mme de La Fayette aus dem Grand Siécle hätte die Dame aus dem Dix-huitiéme nicht als Mitglied ihres Standes wieder erkannt.
Auffällig ist, dass gegen die alten christlichen und aristokratischen Positionen kein argumentativer Krieg geführt wird. Hier gibt es offenbar nichts mehr zu widerlegen, hier wird, mit mäßigem geistigem Aufwand, einfach weggewischt. Selten blickt das voltairianische Zeitalter banaler aus der Spitzenwäsche als in diesem Discours. Auch gegen das Liebesleid durch eine sich verselbständigende, den Lustgewinn vereitelnde Leidenschaft weiß die Naturwissenschaftlerin Rat: Man müsse immer einen Grad kälter sein als der Geliebte. Nur verschweigt sie ihrem Publikum, wo genau das zierliche Rädchen liegt, mit dem man die Gefühlstemperatur derart fein reguliert.
Es gibt im Discours aber einen Punkt, der einer genaueren Erörterung wert ist: die Verteidigung der Illusion als Voraussetzung des Glückes. "Weit entfernt von dem Versuch, sie mit der Fackel der Vernunft zu vertreiben, versuchen wir lieber, den Lack zu verstärken, mit dem die Illusion die meisten Dinge überzieht." Sie spricht von ihrem Gelächter im Marionettentheater - würde sie noch lachen, wenn sie sich nicht darüber täuschte, dass Policinelle nur eine Puppe ist? Auf allen Gebieten, vorzüglich der Liebe, rät sie davon ab, einen Blick hinter die Kulissen zu tun und den Zauber zu zerstören.
Ihr Vergleich lädt zu dem Gedanken ein, dass für uns heute der Reiz eines Marionettentheaters zum Beispiel gerade durch seine Künstlichkeit, durch das Misslingen der perfekten Täuschung zustande kommt. Der Blick in die kunstvolle Mechanik eines Bühnenhauses verzaubert uns noch mehr als die Schauseite der Prospekte. Mme du Châtelet hat Recht, wenn sie die verschiedenen Effekte der Optik verteidigt, aber sie hätte vielleicht darauf verzichten sollen, sie Täuschungen zu nennen. Jeder optische Eindruck trägt seine eigene ästhetische Wahrheit in sich, das ist ein wichtiges Gesetz der Kunst, die sich erlaubt, solche aufgrund von "Täuschungen" sichtbar gewordenen Wahrheiten absolut zu setzen und als neue Wirklichkeit zu verkünden. Gerade als Naturwissenschaftlerin hätte sie im Grunde von "Illusionen" nicht sprechen dürfen; die wohnen nun einmal in moralischen Gefilden.
Und wer sagt, dass es nur der Eindruck des Schönen ist, der eine Sinnestäuschung darstellt? Warum soll es nicht gerade das Hässliche, das Niedrige und Verdorbene sein, das die eigentliche Illusion darstellt? Wenn es nur freundliche Bilder sind, die Mme du Châtelet als Illusion bei ihrem Streben nach Glück unterstützen, während die Wirklichkeit ihr grau und matt erscheint - dann ist es mit ihrem Materialismus am Ende gar nicht so weit her. Sollte die Voltairianerin womöglich in Wahrheit eine romantische Pessimistin gewesen sein? Auch ihr Rat zum Selbstmord, wenn die glücksspendende Illusion nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, bestätigt diesen Verdacht. Nur einer der "Mechanismen des Glücks", von denen sie mit der Hoffnung ihres Jahrhunderts, alles mechanisch erfassen zu können, spricht, ist ihr verborgen geblieben: niemals an das Glück zu denken, sein Eintreten für unwichtig zu halten - solche Maximen waren ihr indes eine Denkunmöglichkeit.
Der Herausgeberin Iris Roebling ist ein Meisterstück gelungen, indem sie den Discours mit einer Auswahl von Briefen verband, die die Marquise an ihren Geliebten schrieb, als die Tinte ihres berechnenden Glücks-Traktats noch nicht ganz trocken war. Hatte sie nicht vor, stets um einen Grad kälter zu lieben als ihr Freund? Alle Vorsichtsmaßnahmen, die ganze selbstsüchtige Überlegenheitspose sinken nun dahin.
Mme du Châtelet ist der Paradefall eines Menschen, der durch den Verrat an seinen Prinzipien erst wirklich sympathisch wird. "Ich liebe Sie bis zum Wahnsinn" - was mag sie dies Wort gekostet haben, als sie verstanden hatte, dass der junge Mann sie keineswegs ebenso wiederliebte. Als die Hemmung überwunden ist, taucht das gefährliche Wort "Wahnsinn" immer häufiger auf. "Newton bedeutet mir nichts mehr . . . ich arbeite achtzehn von vierundzwanzig Stunden, ohne noch irgendetwas Bestimmtes in Hinsicht auf das Ziel meiner Arbeit zu haben; beständig aber uns sicherer als jede Wahrheit in der Geometrie ist, daß ich Sie liebe bis zum Wahnsinn; ja, bis zum Wahnsinn."
Ungewappnet steht sie in den letzten Monaten ihres Lebens da; anders als für die Princesse de Cléves war für sie der Ernstfall des Lebens nicht der Normalfall, sondern eine unbegreifliche Katastrophe. Da nimmt die Göttin der Vernunft menschliche, ja kindlich-naive Züge an und erscheint nun endlich wahrhaft liebenswert.
Madame du Châtelet: "Rede vom Glück". Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Iris Roebling. Friedenauer Presse, Berlin 1999. 100 S., br., 28,- DM.
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Madame du Châtelet und das Glück · Von Martin Mosebach
Die Marquise du Châtelet lebte in dem paradiesischen Jahrhundert, in dem, einer Definition ihres Liebhabers Voltaire zufolge, die Oberschicht bereits die Freuden der "Vorurteilslosigkeit" - gemeint ist der Atheismus - genoss, während das dumme Volk noch gläubig war und deshalb weniger betrog und stahl. Das Paradies war mit einem hohen Gitterzaun von vergoldeten Lanzenspitzen umzogen; der Baum der Erkenntnis war auf Kniehöhe gestutzt und als Spalier gepflanzt. Seine Früchte erntete die kluge Gärtnerin in entzückend geflochtene Körbchen. Die Schlange war aus Bronze und diente als Ornament für Barometer. Alles konnte man wissen, alles messen, aber diese Gewissheit schuf keine Langeweile, sondern war von unendlichem Reiz.
Man kann das Leben der Marquise du Châtelet auch anders erzählen. Am 17. September 1706 als Emilie Le Tonnelier des Breteuil geboren, mit neunzehn an einen ungeliebten Mann verheiratet, mit zweiundzwanzig ein Selbstmordversuch nach einer Liebesenttäuschung. Ein Sohn stirbt. Zehn Jahre Liebe zu Voltaire, der sie schließlich verlässt; eine Zeit, die für sie auch mit ernsthafter wissenschaftlicher Arbeit angefüllt war. Die Verlassene stürzt sich erst recht in die Arbeit und übersetzt Newton; sie verliert viel Geld beim Spiel. Mit zweiundvierzig verliebt sie sich in einen jungen Mann. Sie bringt sein Kind zur Welt, nachdem sie sich von seiner Treulosigkeit überzeugen durfte, und stirbt 1749 im Kindbett. Wie hätte eine Frau mit einem solchen Schicksal im neunzehnten Jahrhundert ausgesehen? Eine Mme de Staël, eine George Sand, eine Wilhelmine Schröder-Devrient, eine Duse? Von deren Seufzern hallte das Jahrhundert wider. Ihr Unglück war ein Teil ihrer Größe. Ihre Lebens- und Liebestragik schuf den Resonanzboden ihrer Kunst. Sie litten, aber sie litten nicht ungern, denn sie erkannten, dass sie das Leiden stark machte. Wenn Mme du Châtelet das Wort "Leiden" hörte, wurde sie ärgerlich; sie ließ es wahrscheinlich nur im Zusammenhang mit Zahnschmerzen zu.
Wer Mme du Châtelet nicht kennt, könnte bei der Lektüre ihrer "Rede vom Glück - Discours sur le bonheur" ebenso ärgerlich werden wie die Autorin beim Leiden. Der kleine Traktat, der viel von weiblicher Beratungsschriftstellerei an sich hat, stammt aus jener prekären "Zwischenkriegszeit", als es Voltaire nicht mehr und Monsieur de St. Lambert, den zwanzigjährigen Leutnant, noch nicht gab.
Schon im Jahrhundert davor waren die großen Damen mit der Frage nach dem Glück beschäftigt gewesen, deren Lösung bei ihnen in einer geheimnisvollen inneren Balance der verschiedenen Arten unglücklich zu sein bestand. Die berühmte Princesse de Clèves der Mme de La Fayette verzichtete auf die große Liebe ihres Lebens, weil sie die Vorstellung unerträglich fand, diese Liebe mit der Zeit allmählich abnehmen zu sehen. Sie dachte in den Kategorien der "katholischen Philosophie der Desillusionierung", wie T. S. Eliot es genannt hat. Von dieser Desillusionierung sagte Mme du Châtelet, die die Enkelin der Mme de La Fayette hätte sein können, sich nun los. "Anfangen sollte man damit, sich selbst zu sagen und zu überzeugen, daß wir auf dieser Welt nichts anderes zu tun haben, als uns Wohlgefühle und -empfindungen zu verschaffen", notiert die elegante Hedonistin zu Beginn ihres Discours.
Diesem Wohlgefühl hat sich alles andere unterzuordnen. "Ich schreibe nur für die, die man die gute Gesellschaft nennt, für diejenigen also, denen ein gewisses Vermögen . . . in die Wiege gelegt wurde." Aber mit solchen Vorzügen sind für sie keine Pflichten mehr verbunden. Die Marquise ist ein glänzendes Beispiel für den sich selbst abschaffenden Adel. "Das Gefühl der Reue ist eines der nutzlosesten Gefühle." "Wir müssen mit größter Sorgfalt alles vermeiden, was uns an den Tod erinnern könnte. Wenden wir also unsern Sinn von allen mißlichen Vorstellungen ab!" "Unter Tugend verstehe ich alles, was zum Glück der Gesellschaft beiträgt und infolgedessen zu unserem" - Mme de La Fayette aus dem Grand Siécle hätte die Dame aus dem Dix-huitiéme nicht als Mitglied ihres Standes wieder erkannt.
Auffällig ist, dass gegen die alten christlichen und aristokratischen Positionen kein argumentativer Krieg geführt wird. Hier gibt es offenbar nichts mehr zu widerlegen, hier wird, mit mäßigem geistigem Aufwand, einfach weggewischt. Selten blickt das voltairianische Zeitalter banaler aus der Spitzenwäsche als in diesem Discours. Auch gegen das Liebesleid durch eine sich verselbständigende, den Lustgewinn vereitelnde Leidenschaft weiß die Naturwissenschaftlerin Rat: Man müsse immer einen Grad kälter sein als der Geliebte. Nur verschweigt sie ihrem Publikum, wo genau das zierliche Rädchen liegt, mit dem man die Gefühlstemperatur derart fein reguliert.
Es gibt im Discours aber einen Punkt, der einer genaueren Erörterung wert ist: die Verteidigung der Illusion als Voraussetzung des Glückes. "Weit entfernt von dem Versuch, sie mit der Fackel der Vernunft zu vertreiben, versuchen wir lieber, den Lack zu verstärken, mit dem die Illusion die meisten Dinge überzieht." Sie spricht von ihrem Gelächter im Marionettentheater - würde sie noch lachen, wenn sie sich nicht darüber täuschte, dass Policinelle nur eine Puppe ist? Auf allen Gebieten, vorzüglich der Liebe, rät sie davon ab, einen Blick hinter die Kulissen zu tun und den Zauber zu zerstören.
Ihr Vergleich lädt zu dem Gedanken ein, dass für uns heute der Reiz eines Marionettentheaters zum Beispiel gerade durch seine Künstlichkeit, durch das Misslingen der perfekten Täuschung zustande kommt. Der Blick in die kunstvolle Mechanik eines Bühnenhauses verzaubert uns noch mehr als die Schauseite der Prospekte. Mme du Châtelet hat Recht, wenn sie die verschiedenen Effekte der Optik verteidigt, aber sie hätte vielleicht darauf verzichten sollen, sie Täuschungen zu nennen. Jeder optische Eindruck trägt seine eigene ästhetische Wahrheit in sich, das ist ein wichtiges Gesetz der Kunst, die sich erlaubt, solche aufgrund von "Täuschungen" sichtbar gewordenen Wahrheiten absolut zu setzen und als neue Wirklichkeit zu verkünden. Gerade als Naturwissenschaftlerin hätte sie im Grunde von "Illusionen" nicht sprechen dürfen; die wohnen nun einmal in moralischen Gefilden.
Und wer sagt, dass es nur der Eindruck des Schönen ist, der eine Sinnestäuschung darstellt? Warum soll es nicht gerade das Hässliche, das Niedrige und Verdorbene sein, das die eigentliche Illusion darstellt? Wenn es nur freundliche Bilder sind, die Mme du Châtelet als Illusion bei ihrem Streben nach Glück unterstützen, während die Wirklichkeit ihr grau und matt erscheint - dann ist es mit ihrem Materialismus am Ende gar nicht so weit her. Sollte die Voltairianerin womöglich in Wahrheit eine romantische Pessimistin gewesen sein? Auch ihr Rat zum Selbstmord, wenn die glücksspendende Illusion nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, bestätigt diesen Verdacht. Nur einer der "Mechanismen des Glücks", von denen sie mit der Hoffnung ihres Jahrhunderts, alles mechanisch erfassen zu können, spricht, ist ihr verborgen geblieben: niemals an das Glück zu denken, sein Eintreten für unwichtig zu halten - solche Maximen waren ihr indes eine Denkunmöglichkeit.
Der Herausgeberin Iris Roebling ist ein Meisterstück gelungen, indem sie den Discours mit einer Auswahl von Briefen verband, die die Marquise an ihren Geliebten schrieb, als die Tinte ihres berechnenden Glücks-Traktats noch nicht ganz trocken war. Hatte sie nicht vor, stets um einen Grad kälter zu lieben als ihr Freund? Alle Vorsichtsmaßnahmen, die ganze selbstsüchtige Überlegenheitspose sinken nun dahin.
Mme du Châtelet ist der Paradefall eines Menschen, der durch den Verrat an seinen Prinzipien erst wirklich sympathisch wird. "Ich liebe Sie bis zum Wahnsinn" - was mag sie dies Wort gekostet haben, als sie verstanden hatte, dass der junge Mann sie keineswegs ebenso wiederliebte. Als die Hemmung überwunden ist, taucht das gefährliche Wort "Wahnsinn" immer häufiger auf. "Newton bedeutet mir nichts mehr . . . ich arbeite achtzehn von vierundzwanzig Stunden, ohne noch irgendetwas Bestimmtes in Hinsicht auf das Ziel meiner Arbeit zu haben; beständig aber uns sicherer als jede Wahrheit in der Geometrie ist, daß ich Sie liebe bis zum Wahnsinn; ja, bis zum Wahnsinn."
Ungewappnet steht sie in den letzten Monaten ihres Lebens da; anders als für die Princesse de Cléves war für sie der Ernstfall des Lebens nicht der Normalfall, sondern eine unbegreifliche Katastrophe. Da nimmt die Göttin der Vernunft menschliche, ja kindlich-naive Züge an und erscheint nun endlich wahrhaft liebenswert.
Madame du Châtelet: "Rede vom Glück". Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Iris Roebling. Friedenauer Presse, Berlin 1999. 100 S., br., 28,- DM.
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