Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.07.2010Wir werden Maghreb
Christopher Caldwell warnt vor der Islamisierung Europas
Wie sich die Bilder gleichen: Als eine euphorisierte Generation um 1968 neue Rechte reklamierte und liberale Moralvorstellungen durchsetzte, gaben konservative Kritiker zu bedenken, eine haltlos relativistische Generation von Hedonisten im Westen habe der ideologisch gefestigten und kampfbereiten Jugend des Ostblocks im Konfliktfall nichts entgegenzusetzen. Heute ist es die Immigration in die EU, die in Christopher Caldwells Buch „Reflections on the Revolution in Europe“ ähnliche Argumente auf den Plan ruft. Caldwell, ein konservativer Journalist aus den Vereinigten Staaten, entwirft eine beängstigende Zukunft für ein Europa der Migranten. Europa werde, so zitiert er den Historiker Bernard Lewis, „Teil des arabischen Westens, des Maghreb“. Die Werte einer modernen Demokratie würden immer weiter unterhöhlt.
Solche Sätze klingenüberzogen und schamlos parteiisch, aber Caldwell hat Argumente parat, mit denen sich Befürworter einer offenen, multiethnischen Gesellschaft auseinandersetzen müssen, zuallererst das legitime Eigeninteresse der europäischen Länder. Warum sollte Europa Migration wollen?
Die Antwort auf diese Frage ist oft, dass unsere Länder junge Arbeitskräfte brauchen, um das soziale Gefüge zusammenzuhalten. Gerade das aber ist ein Mythos, zeigt der Autor. Migration kann die klaffende Lücke zwischen zunehmend weniger Erwerbstätigen und mehr Rentenempfängern nicht füllen, weil das eine unmöglich hohe Einwanderungsquote voraussetzen würde: Um das Verhältnis zwischen Arbeitenden und Rentenempfängern auf dem Niveau von 2001 zu halten, müssten allein die „alten“ EU–Länder bis 2050 mehr als eine halbe Milliarde Einwanderer aufnehmen, plus deren Familien. Hinzu kommt, dass wenig ausgebildete, bildungsferne Einwanderer mit geringen Einkommen weit weniger zum Steuer- und Abgabenaufkommen beitragen als hoch qualifizierte Arbeitskräfte, und dass sie und ihre Familien selbst Sozialleistungen in Anspruch nehmen, auch da sie oft kaum in europäische Arbeitsprozesse zu integrieren sind.
Die Zahlen suggerieren keinen wirtschaftlichen Vorteil – es sei denn, die Migration würde konsequent nach dem Green-Card-Prinzip auf hoch qualifizierte Migranten ausgerichtet, oder aber, ebenfalls nach US-Modell, die Wirtschaft verließe sich zu großen Teilen auf illegale, rechtlose Arbeiter aus dem Ausland. Letzteres ist unmoralisch, während das Modell Green Card in Deutschland bis jetzt nicht funktioniert hat und die „gewählte Einwanderung“ ebenfalls ihre Kritiker hat. Überlegungen wie diese legen Caldwell nahe, dass Europa schlichtweg kein legitimes Eigeninteresse an massiver Einwanderung haben könne und dass Europa sich nur deswegen überrennen lasse, weil es nach Kolonialismus und Zweitem Weltkrieg an einem schlechten Gewissen leidet. Kultur und Identität Europas sind, so der Autor, fatal unterminiert, und viele Migranten wollen sich von einer bankrotten Moral nicht belehren lassen: „Entlang der Straße der europäischen Modernisierung (Alphabetisierung, Demokratisierung, Individualismus, und so weiter) liegen das Einkaufszentrum, der gepiercte Bauchnabel, Onlinezocken, eine Scheidungsrate von 50 Prozent und eine hohe Rate von Anomie und Selbstverachtung. Warum sind wir so sicher, dass diese Europäisierung die Straße bildet, auf der Immigranten weiterkommen wollen?“
Migranten, schreibt Caldwell, seien immer weniger bereit, ihre eigenen Werte zugunsten einer als dekadent wahrgenommenen europäischen Kultur aufzugeben – besonders, wenn diese Migranten Moslems sind. Caldwell geht weiter und konstruiert den Islam als letztlich mit den Werten des Aufklärung unvereinbar. Der Islam wird als kriegerische, expansionistische Religion dargestellt, ein Bild, das direkt von den Websites der Islamisten zu stammen scheint.
Diese Interpretation verkennt völlig, dass der Wortlaut eines religiösen Kodex die religiöse Praxis einer Gemeinschaft noch nie determiniert hat: Eine Religion ist das, was ihre Würdenträger aus ihr machen, eine Heilige Schrift wird erst durch ihre Interpretation wirksam. Auch im Namen des Christentums wurde erobert und gefoltert, als die Theologen es sanktionierten. Trotz einschlägiger und oft zitierter Koranverse besteht kein Grund, warum nicht auch muslimische Gemeinschaften eine ähnliche Entwicklung durchmachen könnten, einige von ihnen sind längst dabei. Das Problem ist ein soziales und betrifft Migrantengruppen, die ihre Religion zur Rechtfertigung von stark patriarchal und ländlich geprägten Sozialpraktiken heranziehen, Praktiken, die von gebildeten Moslems desselben Herkunftslandes längst abgelehnt werden.
Der Autor lässt solche Differenzierungen nicht gelten. Für ihn ist der Konflikt zwischen muslimischen Migranten und „weißen“ Europäern eine Fortsetzung des alten Konflikts zwischen Christentum und Islam. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die Moslems durch eine höhere Geburtenrate und geringe kulturelle Kompromissbereitschaft Europa auf lange Sicht islamisieren werden.
Angesichts dieser Diagnose ist es denn auch wenig verwunderlich, dass einer der Kronzeugen des Autors der britische Politiker Enoch Powell ist, der 1968 den Rassismus in Großbritannien mit seiner noch heute sprichwörtlichen „Rivers of Blood“-Ansprache salonfähig machte. Powell beschwor angesichts der ersten Immigranten aus der Karibik und aus Indien ein apokalyptisches Szenario mit Flüssen voll schäumenden Blutes herauf. Caldwell scheut sich nicht, diese Rede am Anfang des Buches zu zitieren. Andere Vordenker kommen aus dem Umfeld von Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Ob sich Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Habermas und Alain Finkielkraut, mit denen er sich im Vorbeigehen schmückt, in dieser Gesellschaft wohl fühlen?
Der Untertitel des sehr polemisch angelegten Werkes fragt: „Kann Europa mit anderen Menschen trotzdem gleich bleiben?“ Die Antwort lautet nein: „Immigration verbessert starke Länder und Kulturen, kann schwache aber überwältigen“, schreibt er. Europa ist für ihn „unsicher, nachgiebig, relativistisch“ und damit der Konfrontation mit einer „fest verankerten, selbstbewussten“ moslemischen Migration nicht gewachsen.
Ist Europa tatsächlich durch Relativismus und Wohlstand geschwächt und dekadent geworden, oder wirkt es nur schwach, weil seine Werte lange nicht mehr ernsthaft herausgefordert wurden? Könnten diejenigen Migranten, die europäische Werte wie Gleichberechtigung und Toleranz nicht automatisch anerkennen, nicht auch die Funktion haben, unsere Gesellschaften zu zwingen, sich neu mit ihren eigenen Werten auseinanderzusetzen und diskursiv zu bestimmen, was verhandelbar ist und was nicht? Warum sollte Europa mit unterschiedlichen Menschen gleich bleiben, wenn es an dieser Auseinandersetzung wachsen könnte?
Vielleicht ist die Aufklärung doch stärker, als wir fürchten.
PHILIPP BLOM
CHRISTOPHER CALDWELL: Reflections on the Revolution in Europe. Penguin/Allen Lane, London 2009. 432 Seiten, 15 britische Pfund.
Der Autor meint: Schlechtes
Gewissen und Dekadenz machen
Europa wehrlos gegen Migration
Enoch Powells berüchtigte
„Rivers of Blood“-Rede wird
zustimmend zitiert
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Christopher Caldwell warnt vor der Islamisierung Europas
Wie sich die Bilder gleichen: Als eine euphorisierte Generation um 1968 neue Rechte reklamierte und liberale Moralvorstellungen durchsetzte, gaben konservative Kritiker zu bedenken, eine haltlos relativistische Generation von Hedonisten im Westen habe der ideologisch gefestigten und kampfbereiten Jugend des Ostblocks im Konfliktfall nichts entgegenzusetzen. Heute ist es die Immigration in die EU, die in Christopher Caldwells Buch „Reflections on the Revolution in Europe“ ähnliche Argumente auf den Plan ruft. Caldwell, ein konservativer Journalist aus den Vereinigten Staaten, entwirft eine beängstigende Zukunft für ein Europa der Migranten. Europa werde, so zitiert er den Historiker Bernard Lewis, „Teil des arabischen Westens, des Maghreb“. Die Werte einer modernen Demokratie würden immer weiter unterhöhlt.
Solche Sätze klingenüberzogen und schamlos parteiisch, aber Caldwell hat Argumente parat, mit denen sich Befürworter einer offenen, multiethnischen Gesellschaft auseinandersetzen müssen, zuallererst das legitime Eigeninteresse der europäischen Länder. Warum sollte Europa Migration wollen?
Die Antwort auf diese Frage ist oft, dass unsere Länder junge Arbeitskräfte brauchen, um das soziale Gefüge zusammenzuhalten. Gerade das aber ist ein Mythos, zeigt der Autor. Migration kann die klaffende Lücke zwischen zunehmend weniger Erwerbstätigen und mehr Rentenempfängern nicht füllen, weil das eine unmöglich hohe Einwanderungsquote voraussetzen würde: Um das Verhältnis zwischen Arbeitenden und Rentenempfängern auf dem Niveau von 2001 zu halten, müssten allein die „alten“ EU–Länder bis 2050 mehr als eine halbe Milliarde Einwanderer aufnehmen, plus deren Familien. Hinzu kommt, dass wenig ausgebildete, bildungsferne Einwanderer mit geringen Einkommen weit weniger zum Steuer- und Abgabenaufkommen beitragen als hoch qualifizierte Arbeitskräfte, und dass sie und ihre Familien selbst Sozialleistungen in Anspruch nehmen, auch da sie oft kaum in europäische Arbeitsprozesse zu integrieren sind.
Die Zahlen suggerieren keinen wirtschaftlichen Vorteil – es sei denn, die Migration würde konsequent nach dem Green-Card-Prinzip auf hoch qualifizierte Migranten ausgerichtet, oder aber, ebenfalls nach US-Modell, die Wirtschaft verließe sich zu großen Teilen auf illegale, rechtlose Arbeiter aus dem Ausland. Letzteres ist unmoralisch, während das Modell Green Card in Deutschland bis jetzt nicht funktioniert hat und die „gewählte Einwanderung“ ebenfalls ihre Kritiker hat. Überlegungen wie diese legen Caldwell nahe, dass Europa schlichtweg kein legitimes Eigeninteresse an massiver Einwanderung haben könne und dass Europa sich nur deswegen überrennen lasse, weil es nach Kolonialismus und Zweitem Weltkrieg an einem schlechten Gewissen leidet. Kultur und Identität Europas sind, so der Autor, fatal unterminiert, und viele Migranten wollen sich von einer bankrotten Moral nicht belehren lassen: „Entlang der Straße der europäischen Modernisierung (Alphabetisierung, Demokratisierung, Individualismus, und so weiter) liegen das Einkaufszentrum, der gepiercte Bauchnabel, Onlinezocken, eine Scheidungsrate von 50 Prozent und eine hohe Rate von Anomie und Selbstverachtung. Warum sind wir so sicher, dass diese Europäisierung die Straße bildet, auf der Immigranten weiterkommen wollen?“
Migranten, schreibt Caldwell, seien immer weniger bereit, ihre eigenen Werte zugunsten einer als dekadent wahrgenommenen europäischen Kultur aufzugeben – besonders, wenn diese Migranten Moslems sind. Caldwell geht weiter und konstruiert den Islam als letztlich mit den Werten des Aufklärung unvereinbar. Der Islam wird als kriegerische, expansionistische Religion dargestellt, ein Bild, das direkt von den Websites der Islamisten zu stammen scheint.
Diese Interpretation verkennt völlig, dass der Wortlaut eines religiösen Kodex die religiöse Praxis einer Gemeinschaft noch nie determiniert hat: Eine Religion ist das, was ihre Würdenträger aus ihr machen, eine Heilige Schrift wird erst durch ihre Interpretation wirksam. Auch im Namen des Christentums wurde erobert und gefoltert, als die Theologen es sanktionierten. Trotz einschlägiger und oft zitierter Koranverse besteht kein Grund, warum nicht auch muslimische Gemeinschaften eine ähnliche Entwicklung durchmachen könnten, einige von ihnen sind längst dabei. Das Problem ist ein soziales und betrifft Migrantengruppen, die ihre Religion zur Rechtfertigung von stark patriarchal und ländlich geprägten Sozialpraktiken heranziehen, Praktiken, die von gebildeten Moslems desselben Herkunftslandes längst abgelehnt werden.
Der Autor lässt solche Differenzierungen nicht gelten. Für ihn ist der Konflikt zwischen muslimischen Migranten und „weißen“ Europäern eine Fortsetzung des alten Konflikts zwischen Christentum und Islam. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die Moslems durch eine höhere Geburtenrate und geringe kulturelle Kompromissbereitschaft Europa auf lange Sicht islamisieren werden.
Angesichts dieser Diagnose ist es denn auch wenig verwunderlich, dass einer der Kronzeugen des Autors der britische Politiker Enoch Powell ist, der 1968 den Rassismus in Großbritannien mit seiner noch heute sprichwörtlichen „Rivers of Blood“-Ansprache salonfähig machte. Powell beschwor angesichts der ersten Immigranten aus der Karibik und aus Indien ein apokalyptisches Szenario mit Flüssen voll schäumenden Blutes herauf. Caldwell scheut sich nicht, diese Rede am Anfang des Buches zu zitieren. Andere Vordenker kommen aus dem Umfeld von Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Ob sich Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Habermas und Alain Finkielkraut, mit denen er sich im Vorbeigehen schmückt, in dieser Gesellschaft wohl fühlen?
Der Untertitel des sehr polemisch angelegten Werkes fragt: „Kann Europa mit anderen Menschen trotzdem gleich bleiben?“ Die Antwort lautet nein: „Immigration verbessert starke Länder und Kulturen, kann schwache aber überwältigen“, schreibt er. Europa ist für ihn „unsicher, nachgiebig, relativistisch“ und damit der Konfrontation mit einer „fest verankerten, selbstbewussten“ moslemischen Migration nicht gewachsen.
Ist Europa tatsächlich durch Relativismus und Wohlstand geschwächt und dekadent geworden, oder wirkt es nur schwach, weil seine Werte lange nicht mehr ernsthaft herausgefordert wurden? Könnten diejenigen Migranten, die europäische Werte wie Gleichberechtigung und Toleranz nicht automatisch anerkennen, nicht auch die Funktion haben, unsere Gesellschaften zu zwingen, sich neu mit ihren eigenen Werten auseinanderzusetzen und diskursiv zu bestimmen, was verhandelbar ist und was nicht? Warum sollte Europa mit unterschiedlichen Menschen gleich bleiben, wenn es an dieser Auseinandersetzung wachsen könnte?
Vielleicht ist die Aufklärung doch stärker, als wir fürchten.
PHILIPP BLOM
CHRISTOPHER CALDWELL: Reflections on the Revolution in Europe. Penguin/Allen Lane, London 2009. 432 Seiten, 15 britische Pfund.
Der Autor meint: Schlechtes
Gewissen und Dekadenz machen
Europa wehrlos gegen Migration
Enoch Powells berüchtigte
„Rivers of Blood“-Rede wird
zustimmend zitiert
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