Der Ingenieuer Robert Feldwehr, der für eine deutsche Firma im schwedischen Winter Autos erprobt, kehrt von einer Testfahrt nicht zurück und wird von der Polizei gesucht. Seine Ehefrau Claudia fliegt kurz entschlossen nach Lappland und macht sich dort, in der eisig idyllischen Kleinstadt Arjeplog, auf die Suche. In der überwältigenden Schönheit der Landschaft wächst in ihr der Wunsch, einen Ort zu finden, der ihr vor Enttäuschung und Verschwinden Schutz gewähren kann. Schließlich findet sie so ein Refugium bei Birgitta, einer lebensklugen Einheimischen, die sie in ihrem Haus aufnimmt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2013Eine einsame, von moderner Technik und alten Sagen beherrschte Welt
Claire Beyer entwirft in ihrem neuen Roman "Refugium" eine eindrucksvolle Szenerie, die von Erlkönigen, Autobauern und Rentieren bevölkert wird.
Der Winter ist zuverlässig dort oben hoch im Norden: dunkel und vor allem kalt, sehr kalt und tiefverschneit. Bis zum Polarkreis sind es vielleicht sechzig Kilometer, und im Juni scheint die Mitternachtssonne für knappe drei oder vier Wochen. Dann ist es wieder dunkel und kalt. Das rechte Wintersportparadies ist das nicht, allenfalls eins für die "Erlkönige". Damit freilich sind keine mythischen Figuren, Gnome oder Trolle gemeint, und niemand reitet da noch spät durch Nacht und Wind, sondern Autos lassen ihre Motoren röhren, während sie die glänzenden Namen wie Mercedes, Audi, VW, Opel, Fiat oder Peugeot hinter unidentifizierbaren Karosserien verbergen, um sich später in die Rennwagen unserer Autobahnen zu verwandeln. Denn das Testfahren neuer Modelle der Autoindustrie ist in Lappland ein neuer "Wintersport" geworden auf den vielen tiefgefrorenen Seen um das Städtchen Arjeplog im nördlichen Schweden. Ganze Belegschaften von Autofirmen tummeln sich da oben den Winter über. Resultate werden jedoch nicht triumphal verkündet, sondern sollen so geheim wie möglich bleiben bei den Prototypen, bevor diese in Stuttgart oder Wolfsburg, Paris oder Rom in die Autosalons kommen und zum Kauf angeboten werden.
Das Leben in diesem Arjeplog, einer schlichten Kleinstadt im Polarwinter, der acht Monate im Jahr oder länger dauern kann, mag seine gemütlichen Kerzenstunden haben bei guten Getränken, aber bedarf auch einer starken Seele. Robert Feldwehr, der deutsche Konstrukteur zur "Wintererprobung" dort, scheint das Opfer dieser Einsamkeit geworden zu sein, denn Claudia, seine Frau in der Heimat, hat seit langem nichts mehr von ihm gehört. Auch am Telefon ist er nicht mehr zu erreichen, selbst für ihre beiden deutschen Söhne nicht, nur dass die sich leichter damit abfinden: Der Vater wird schon irgendwann wieder auftauchen. Aber auch sein Auto bleibt verschwunden, als Claudia nachfragt bei den schwedischen Kollegen. Bloß können und dürfen die ihr telefonisch keine Auskunft geben. Also fährt Claudia kurzentschlossen nach Arjeplog, um selbst nachzusehen. Die Suche nach ihrem Mann wird zum eigentlichen Gegenstand von Claire Beyers Roman, denn was ihr als Refugium des Mannes erscheint, gibt den Verlorenen nicht preis. Vieles andere jedoch entdeckt sie fast nebenbei, so dass sie selbst am Ende zur Hauptsache wird und gar nicht so allein ist, wie sie zuweilen geglaubt hatte. Daraus entsteht die Faszination dieses Buches.
Claudias Erkenntnis: "Irgendetwas stimmt nicht mit meinem Mann" ist in der Tat der Anfang. Über Fragen, Hoffnungen und Enttäuschungen hinweg baut sich ein Spannungsbogen auf, der erst am Ende eine - unbefriedigende - Lösung bringt. Nur hat Claudia inzwischen ein eigenes, neues Leben gefunden, das nicht mehr abhängt von ihren ersten Fragen und Hoffnungen, so dass sie nicht mit dem Gepäck der Enttäuschungen leben und nach Deutschland zurückfliegen muss. Denn zunächst wird sie in den dunklen, kalten Norden fliegen - es ist ihr erster Start in einem Flugzeug, ein Start zugleich in die Selbständigkeit. Die Flugangst ist zu überwinden, wobei ihr der Sitznachbar Hanno von Loose mit seiner geschickten Geschwätzigkeit hilft, ein Inder, den es nach Skandinavien verschlagen hat und der sich im Schnee wohler fühlt als auf einem Elefanten im Dschungel. Die zweite Stufe auf ihrem Weg findet Claudia bei Birgitta Wilhelmsson, der älteren Dame. Innerlich ist sie die jüngste von allen Personen, die dieses Buch bevölkern. Sie wird sich vor allem des Gastes aus Deutschland annehmen und Claudia mit jener Wärme umgeben, deren sie nicht nur wegen Schnees und Winterstürmen bedarf, sondern eher wegen der Schutzlosigkeit ihres Daseins, verlassen von einem ins Unbekannte verschwundenen Mann und schließlich auch von dem einen Sohn, der, dem Alkohol verfallen, sein Elternhaus zerschlägt, während der andere Sohn die Sicherheit und Sonne Kaliforniens sucht. Birgitta aber schafft ihr das Heim, in dem Claudia schließlich sich selbst findet.
Claire Beyer hat für diese eindrucksvolle Erfahrung eine große Szene entworfen; sie entfaltet sich bei der mächtigen Erscheinung des Himmelsfeuers, des "Nordlichts": Claudia zog "einen kleinen Sessel vor das Fenster, hüllte sich in eine Decke und gab sich dem Spektakel ganz und gar hin. Sie dachte nicht an Robert, nicht an ihre Söhne. Die Lichter wurden zu einem Mantra und hoben sie aus ihrem Bewusstsein heraus. Ihr Thule entstand vor ihr, erhob sich wie eine Insel aus dem Meer, prachtvoll und zerklüftet zugleich. Keine Grenzen, keine Ufer, keinen festen Boden unter sich." Das allerdings ist nicht Apotheose am Ende, sondern geschieht in der Mitte des Buches, als innere Wende, die erst in die Wirklichkeit zu übersetzen ist.
Noch steht eine aufregende Fahrt mit Hanno über den Polarkreis hinweg nach Norwegen bevor, die ein Gespür verschafft für die Dimensionen dieser Landschaft wie für ihre Gefahren. Vier Brüder Birgittas, würdige alte Herren und erbarmungslose Jäger, sorgen für manche Abwechslung mit seltsamen, halbdunklen Geschichten aus der skandinavischen Dichtung und Sagenwelt, bis Claudia sich das Gefühl aufdrängt, "dass in ihrer Ehe die Poesie fehlte". Und so machte sich Robert, der vermisste, wenn nicht verlorene Ehemann "auch in ihrem Kopfe auf und davon, und nichts in ihr konnte ihn festhalten". Es war ein Zustand, für den es keine Worte gab: "Sie war weder Witwe noch verlassene Ehefrau."
Von Birgitta wird sie ein Abschiedsgeschenk vor dem Rückflug nach Deutschland erhalten, die Skulptur eines kunstvoll gestalteten Elchs aus massivem Silber, denn sie wird wieder dorthin zurückgehen, von wo sie hergekommen ist. Es ist das Geschenk mit dem Hauch einer Neigung von Frau zu Frau, über die beide sich schließlich mit einem Lächeln trennen. Denn das konnte man von Birgitta lernen: "Niederlagen und Widersprüche zu akzeptieren, ohne zu schmollen." So ist dies das eigentliche Resultat einer Lehrstunde über das Leben. War das am Ende, was Claudia in Schweden gelernt hatte? Und war es womöglich auch Roberts Tragödie und Ursache für sein Verschwinden, dass er eigentlich zwei Leben führen wollte, "eines in Schweden und eines Deutschland"? Weil es auf diese Fragen keine präzise Antwort gibt, bleibt Claire Beyers Roman am Ende einen Spalt offen. Vieles scheint sich zu lösen, selbst das vorerst verschollene Firmenfahrzeug wird wiedergefunden, und die Polizei geht sogar "von der Ermordung des Vermissten aus". Aber das ist nun wieder nur eine Geste um der finanziellen Versorgungsansprüche willen.
Claire Beyer hat einen spannenden Roman geschrieben, der sich aber nicht zu einem Krimi entwickelt, sondern zur Geschichte einer Frau, die sich selbst sucht. Gefunden hat sie am Ende sehr viel mehr, als sie vermisste: ihr Selbstbewusstsein und die Kraft dazu. Das gibt diesem Buch und der Reise in den einsamen, aber von moderner Technik und alten Sagen wie vom Schnee beherrschten Welt ihren Sinn. Vom Eise befreit, wird Claudia ihr Leben fortführen, selbstbewusst und sicher.
GERHARD SCHULZ.
Claire Beyer: "Refugium". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2013. 255 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Claire Beyer entwirft in ihrem neuen Roman "Refugium" eine eindrucksvolle Szenerie, die von Erlkönigen, Autobauern und Rentieren bevölkert wird.
Der Winter ist zuverlässig dort oben hoch im Norden: dunkel und vor allem kalt, sehr kalt und tiefverschneit. Bis zum Polarkreis sind es vielleicht sechzig Kilometer, und im Juni scheint die Mitternachtssonne für knappe drei oder vier Wochen. Dann ist es wieder dunkel und kalt. Das rechte Wintersportparadies ist das nicht, allenfalls eins für die "Erlkönige". Damit freilich sind keine mythischen Figuren, Gnome oder Trolle gemeint, und niemand reitet da noch spät durch Nacht und Wind, sondern Autos lassen ihre Motoren röhren, während sie die glänzenden Namen wie Mercedes, Audi, VW, Opel, Fiat oder Peugeot hinter unidentifizierbaren Karosserien verbergen, um sich später in die Rennwagen unserer Autobahnen zu verwandeln. Denn das Testfahren neuer Modelle der Autoindustrie ist in Lappland ein neuer "Wintersport" geworden auf den vielen tiefgefrorenen Seen um das Städtchen Arjeplog im nördlichen Schweden. Ganze Belegschaften von Autofirmen tummeln sich da oben den Winter über. Resultate werden jedoch nicht triumphal verkündet, sondern sollen so geheim wie möglich bleiben bei den Prototypen, bevor diese in Stuttgart oder Wolfsburg, Paris oder Rom in die Autosalons kommen und zum Kauf angeboten werden.
Das Leben in diesem Arjeplog, einer schlichten Kleinstadt im Polarwinter, der acht Monate im Jahr oder länger dauern kann, mag seine gemütlichen Kerzenstunden haben bei guten Getränken, aber bedarf auch einer starken Seele. Robert Feldwehr, der deutsche Konstrukteur zur "Wintererprobung" dort, scheint das Opfer dieser Einsamkeit geworden zu sein, denn Claudia, seine Frau in der Heimat, hat seit langem nichts mehr von ihm gehört. Auch am Telefon ist er nicht mehr zu erreichen, selbst für ihre beiden deutschen Söhne nicht, nur dass die sich leichter damit abfinden: Der Vater wird schon irgendwann wieder auftauchen. Aber auch sein Auto bleibt verschwunden, als Claudia nachfragt bei den schwedischen Kollegen. Bloß können und dürfen die ihr telefonisch keine Auskunft geben. Also fährt Claudia kurzentschlossen nach Arjeplog, um selbst nachzusehen. Die Suche nach ihrem Mann wird zum eigentlichen Gegenstand von Claire Beyers Roman, denn was ihr als Refugium des Mannes erscheint, gibt den Verlorenen nicht preis. Vieles andere jedoch entdeckt sie fast nebenbei, so dass sie selbst am Ende zur Hauptsache wird und gar nicht so allein ist, wie sie zuweilen geglaubt hatte. Daraus entsteht die Faszination dieses Buches.
Claudias Erkenntnis: "Irgendetwas stimmt nicht mit meinem Mann" ist in der Tat der Anfang. Über Fragen, Hoffnungen und Enttäuschungen hinweg baut sich ein Spannungsbogen auf, der erst am Ende eine - unbefriedigende - Lösung bringt. Nur hat Claudia inzwischen ein eigenes, neues Leben gefunden, das nicht mehr abhängt von ihren ersten Fragen und Hoffnungen, so dass sie nicht mit dem Gepäck der Enttäuschungen leben und nach Deutschland zurückfliegen muss. Denn zunächst wird sie in den dunklen, kalten Norden fliegen - es ist ihr erster Start in einem Flugzeug, ein Start zugleich in die Selbständigkeit. Die Flugangst ist zu überwinden, wobei ihr der Sitznachbar Hanno von Loose mit seiner geschickten Geschwätzigkeit hilft, ein Inder, den es nach Skandinavien verschlagen hat und der sich im Schnee wohler fühlt als auf einem Elefanten im Dschungel. Die zweite Stufe auf ihrem Weg findet Claudia bei Birgitta Wilhelmsson, der älteren Dame. Innerlich ist sie die jüngste von allen Personen, die dieses Buch bevölkern. Sie wird sich vor allem des Gastes aus Deutschland annehmen und Claudia mit jener Wärme umgeben, deren sie nicht nur wegen Schnees und Winterstürmen bedarf, sondern eher wegen der Schutzlosigkeit ihres Daseins, verlassen von einem ins Unbekannte verschwundenen Mann und schließlich auch von dem einen Sohn, der, dem Alkohol verfallen, sein Elternhaus zerschlägt, während der andere Sohn die Sicherheit und Sonne Kaliforniens sucht. Birgitta aber schafft ihr das Heim, in dem Claudia schließlich sich selbst findet.
Claire Beyer hat für diese eindrucksvolle Erfahrung eine große Szene entworfen; sie entfaltet sich bei der mächtigen Erscheinung des Himmelsfeuers, des "Nordlichts": Claudia zog "einen kleinen Sessel vor das Fenster, hüllte sich in eine Decke und gab sich dem Spektakel ganz und gar hin. Sie dachte nicht an Robert, nicht an ihre Söhne. Die Lichter wurden zu einem Mantra und hoben sie aus ihrem Bewusstsein heraus. Ihr Thule entstand vor ihr, erhob sich wie eine Insel aus dem Meer, prachtvoll und zerklüftet zugleich. Keine Grenzen, keine Ufer, keinen festen Boden unter sich." Das allerdings ist nicht Apotheose am Ende, sondern geschieht in der Mitte des Buches, als innere Wende, die erst in die Wirklichkeit zu übersetzen ist.
Noch steht eine aufregende Fahrt mit Hanno über den Polarkreis hinweg nach Norwegen bevor, die ein Gespür verschafft für die Dimensionen dieser Landschaft wie für ihre Gefahren. Vier Brüder Birgittas, würdige alte Herren und erbarmungslose Jäger, sorgen für manche Abwechslung mit seltsamen, halbdunklen Geschichten aus der skandinavischen Dichtung und Sagenwelt, bis Claudia sich das Gefühl aufdrängt, "dass in ihrer Ehe die Poesie fehlte". Und so machte sich Robert, der vermisste, wenn nicht verlorene Ehemann "auch in ihrem Kopfe auf und davon, und nichts in ihr konnte ihn festhalten". Es war ein Zustand, für den es keine Worte gab: "Sie war weder Witwe noch verlassene Ehefrau."
Von Birgitta wird sie ein Abschiedsgeschenk vor dem Rückflug nach Deutschland erhalten, die Skulptur eines kunstvoll gestalteten Elchs aus massivem Silber, denn sie wird wieder dorthin zurückgehen, von wo sie hergekommen ist. Es ist das Geschenk mit dem Hauch einer Neigung von Frau zu Frau, über die beide sich schließlich mit einem Lächeln trennen. Denn das konnte man von Birgitta lernen: "Niederlagen und Widersprüche zu akzeptieren, ohne zu schmollen." So ist dies das eigentliche Resultat einer Lehrstunde über das Leben. War das am Ende, was Claudia in Schweden gelernt hatte? Und war es womöglich auch Roberts Tragödie und Ursache für sein Verschwinden, dass er eigentlich zwei Leben führen wollte, "eines in Schweden und eines Deutschland"? Weil es auf diese Fragen keine präzise Antwort gibt, bleibt Claire Beyers Roman am Ende einen Spalt offen. Vieles scheint sich zu lösen, selbst das vorerst verschollene Firmenfahrzeug wird wiedergefunden, und die Polizei geht sogar "von der Ermordung des Vermissten aus". Aber das ist nun wieder nur eine Geste um der finanziellen Versorgungsansprüche willen.
Claire Beyer hat einen spannenden Roman geschrieben, der sich aber nicht zu einem Krimi entwickelt, sondern zur Geschichte einer Frau, die sich selbst sucht. Gefunden hat sie am Ende sehr viel mehr, als sie vermisste: ihr Selbstbewusstsein und die Kraft dazu. Das gibt diesem Buch und der Reise in den einsamen, aber von moderner Technik und alten Sagen wie vom Schnee beherrschten Welt ihren Sinn. Vom Eise befreit, wird Claudia ihr Leben fortführen, selbstbewusst und sicher.
GERHARD SCHULZ.
Claire Beyer: "Refugium". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2013. 255 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gerhard Schulz zeigt sich beeindruckt von diesem Roman, in dem sich eine Frau auf die Suche nach ihrem verschollenen Ehemann in den ewigen Polarwinter eines nordschwedischen Städtchens macht und beim Anblick des Nordlichts unversehens bei sich selbst ankommt. Esokitsch? Schulz winkt ab. Sowohl der von Claire Beyer für ihre Geschichte entworfene Spannungsbogen als auch die Selbstfindungsszene in der Mitte des Romans findet er gelungen. Dass sich das Buch trotz entsprechender Motive nicht zu einem Krimi entwickelt, scheint ihn dabei nicht zu stören.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2013Bremssysteme
Claire Beyers Roman „Refugium“
studiert die Kraft der Versprechen
Im Jahr 1952 erfand Heinz-Ulrich Wieselmann, seinerzeit Chefredakteur der Zeitschrift Auto Motor und Sport, den Erlkönig noch einmal neu. Um den Automobilfirmen den für sie unangenehmen Umstand zu versüßen, dass heimlich geschossene Fotos von Prototypen, die unter realen Bedingungen auf öffentlichen Straßen erprobt wurden, veröffentlicht wurden, dichtete Wieselmann im Stil von Goethes „Erlkönig“ kleine Achtzeiler, die er neben die Fotografien stellte. Der Erlkönigjäger, der Fotograf, der sein Geld damit verdient, derartige Modelle abzulichten, ist seitdem zu einer eigenen Berufsbezeichnung geworden. Und er scheint als Topos, als mythenhafte Gestalt in der technisierten Welt, derzeit große Anziehungskraft auf die Literatur auszuüben: Der Protagonist in Marion Poschmanns Roman „Die Sonnenposition“ ist seit seiner Kindheit Hobby-Erlkönigjäger, und auch in „Refugium“, Claire Beyers viertem Roman, geht es um die Dunkelheit, ein nächtliches Verschwinden – und um Autotestfahrer.
Robert Feldwehr hat über Jahrzehnte hinweg als Ingenieur für ein international operierendes Unternehmen auf einem Stützpunkt in Nordschweden auf vereisten Seen und zugeschneiten Straßen Bremssysteme getestet. Zwei Wochenenden pro Monat ist Robert nach Deutschland geflogen, zu seiner Frau Claudia und den beiden Söhnen; den Rest der Zeit hat er in Lappland verbracht, ein zweites Leben. Nun ist er verschwunden. Am Straßenrand in der Nähe des Testzentrums hat man einen toten Fotografen gefunden, einen Erlkönigjäger. Ob Roberts Verschwinden und der Tod in Zusammenhang stehen, bleibt zunächst offen, wie fast alles. An der Aufklärung eines Kriminalfalles ist Claire Beyer literarisch kaum interessiert. Ihr geht es um die Darstellung eines durch äußere Umstände erschütterten Innenlebens.
„Das einzige Heilmittel gegen die chaotische Ungewissheit der Zukunft ist die Fähigkeit, Versprechen zu geben und zu halten.“ Diejenige, die das sagt, heißt Birgitta und wird Claudias Gastgeberin in Nordschweden. Auch die Ehe ist ein Versprechen. Eines, das im Lauf des Romans zunehmend weniger wert ist, wie sich zeigt. Eine der zentralen Fragen des Romans ist die, inwieweit Institutionen wie Arbeitgeber oder Familie psychische Stabilität herzustellen vermögen. Claire Beyer, die auch Lyrik schreibt, hat ihre Stärken vor allem in der atmosphärischen Verdichtung von Landschaftszeichnungen und Bewusstseinszuständen. Die Farbsymbolik ist streng choreografiert und nicht unelegant ausgeführt. Nicht ganz schlüssig ist dagegen ihre Entscheidung, die Erzählperspektive regelmäßig zu wechseln, anstatt konsequent an der Seite der Protagonistin zu bleiben. Das lässt den Roman hin und wieder ein wenig unmotiviert ausfasern. Zudem hat Claire Beyer einen Hang zu einer esoterisch-verschwörerischen Floskelhaftigkeit. Das geht allerdings nie über eine bestimmte Grenze des Raunenden hinaus.
Robert Feldwehrs Schicksal, das darf verraten werden, wird am Ende halbwegs plausibel aufgeklärt. Doch dahinter steckt spürbar etwas Tieferes, Existenzielleres: „Hier herrscht“, so wird einmal ein Gedicht Tomas Tranströmers zitiert, „eine Trauer, die sich nicht so nennt.“
CHRISTOPH SCHRÖDER
Claire Beyer: Refugium. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 2013. 252 S., 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Claire Beyers Roman „Refugium“
studiert die Kraft der Versprechen
Im Jahr 1952 erfand Heinz-Ulrich Wieselmann, seinerzeit Chefredakteur der Zeitschrift Auto Motor und Sport, den Erlkönig noch einmal neu. Um den Automobilfirmen den für sie unangenehmen Umstand zu versüßen, dass heimlich geschossene Fotos von Prototypen, die unter realen Bedingungen auf öffentlichen Straßen erprobt wurden, veröffentlicht wurden, dichtete Wieselmann im Stil von Goethes „Erlkönig“ kleine Achtzeiler, die er neben die Fotografien stellte. Der Erlkönigjäger, der Fotograf, der sein Geld damit verdient, derartige Modelle abzulichten, ist seitdem zu einer eigenen Berufsbezeichnung geworden. Und er scheint als Topos, als mythenhafte Gestalt in der technisierten Welt, derzeit große Anziehungskraft auf die Literatur auszuüben: Der Protagonist in Marion Poschmanns Roman „Die Sonnenposition“ ist seit seiner Kindheit Hobby-Erlkönigjäger, und auch in „Refugium“, Claire Beyers viertem Roman, geht es um die Dunkelheit, ein nächtliches Verschwinden – und um Autotestfahrer.
Robert Feldwehr hat über Jahrzehnte hinweg als Ingenieur für ein international operierendes Unternehmen auf einem Stützpunkt in Nordschweden auf vereisten Seen und zugeschneiten Straßen Bremssysteme getestet. Zwei Wochenenden pro Monat ist Robert nach Deutschland geflogen, zu seiner Frau Claudia und den beiden Söhnen; den Rest der Zeit hat er in Lappland verbracht, ein zweites Leben. Nun ist er verschwunden. Am Straßenrand in der Nähe des Testzentrums hat man einen toten Fotografen gefunden, einen Erlkönigjäger. Ob Roberts Verschwinden und der Tod in Zusammenhang stehen, bleibt zunächst offen, wie fast alles. An der Aufklärung eines Kriminalfalles ist Claire Beyer literarisch kaum interessiert. Ihr geht es um die Darstellung eines durch äußere Umstände erschütterten Innenlebens.
„Das einzige Heilmittel gegen die chaotische Ungewissheit der Zukunft ist die Fähigkeit, Versprechen zu geben und zu halten.“ Diejenige, die das sagt, heißt Birgitta und wird Claudias Gastgeberin in Nordschweden. Auch die Ehe ist ein Versprechen. Eines, das im Lauf des Romans zunehmend weniger wert ist, wie sich zeigt. Eine der zentralen Fragen des Romans ist die, inwieweit Institutionen wie Arbeitgeber oder Familie psychische Stabilität herzustellen vermögen. Claire Beyer, die auch Lyrik schreibt, hat ihre Stärken vor allem in der atmosphärischen Verdichtung von Landschaftszeichnungen und Bewusstseinszuständen. Die Farbsymbolik ist streng choreografiert und nicht unelegant ausgeführt. Nicht ganz schlüssig ist dagegen ihre Entscheidung, die Erzählperspektive regelmäßig zu wechseln, anstatt konsequent an der Seite der Protagonistin zu bleiben. Das lässt den Roman hin und wieder ein wenig unmotiviert ausfasern. Zudem hat Claire Beyer einen Hang zu einer esoterisch-verschwörerischen Floskelhaftigkeit. Das geht allerdings nie über eine bestimmte Grenze des Raunenden hinaus.
Robert Feldwehrs Schicksal, das darf verraten werden, wird am Ende halbwegs plausibel aufgeklärt. Doch dahinter steckt spürbar etwas Tieferes, Existenzielleres: „Hier herrscht“, so wird einmal ein Gedicht Tomas Tranströmers zitiert, „eine Trauer, die sich nicht so nennt.“
CHRISTOPH SCHRÖDER
Claire Beyer: Refugium. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 2013. 252 S., 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de