Das deutsche Regierungssystem wird in der Komparatistik häufig als Mischform zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratie dargestellt. Starker Parteienwettbewerb und föderal bedingte Aushandlungszwänge stehen hierzulande potenziell gegeneinander und behindern mitunter sachlich vernünftige Problemlösungen. An diesem Dilemma des "Parteienbundesstaates" hat sich seit seiner politikwissenschaftlichen Entdeckung vor über dreißig Jahren im Kern nichts geändert - das Problem stellt sich heute eher schärfer dar als früher. Theoretisch ließe es sich auflösen, indem man entweder die Mehrheits- oder die Konsenslogik des Systems verstärkt. Durch gezielte institutionelle Reformen und die Pluralisierung der Parteien- und Koalitionslandschaft sind beide Wege in der Bundesrepublik zuletzt beschritten worden - allerdings ohne wirklich durchschlagenden Erfolg.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2011Wo, bitte, geht's zur Macht?
Parteienstaat, Volksentscheid, Föderalismus und Regierungssysteme in den Bundesländern
Das Buch verleugnet seinen Ursprung nicht. Es besteht aus vier bereits publizierten, aber aktualisierten Aufsätzen zu den Themen Volksentscheid, Föderalismus und Regierungssysteme in den Bundesländern sowie zum Amt des Bundespräsidenten. Sie wurden um die Abschnitte "Leistungen und Defizite des Parlamentarismus" sowie "Parteiensystem und Regierungsbildung" angereichert. Frank Decker ist sich des hybriden Charakters seines Buches zwischen Aufsatzsammlung und Monographie bewusst und will deshalb auch keine Gesamtdarstellung des deutschen Regierungssystems präsentieren. Mit einem einleitenden Beitrag versucht er, einen roten Faden zu spinnen, indem er den deutschen "Parteienbundesstaat" typologisch "zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratie" einordnet.
Der Eröffnungsaufsatz ist exemplarisch für die theoretische Qualität des Bandes. Im Wesentlichen stellt der Verfasser die in der Politikwissenschaft aktuellen Typologien vor, breitet die Kriterien aus und diskutiert ausführlich die entsprechende Einordnung des bundesdeutschen Regierungssystems. Sodann werden in einer Mischung von normativen und empirischen Aussagen Vorschläge zur Verbesserung vorgetragen. Leitmelodie ist die seit langem erörterte Spannung von Parteienwettbewerb und konstitutioneller Politikverflechtung; sie führe dazu, "dass sich die Regierungsinstitutionen in der Bundesrepublik nicht produktiv ergänzen, sondern tendenziell blockieren". Die durchgängige These von der Blockade auf Kosten "sachlich vernünftiger Problemlösungen" wird allerdings empirisch nicht ausreichend belegt.
Die Erwartung vernünftiger Problemlösungen erinnert an die leidliche Debatte über die Inhalte des Gemeinwohls. Einen Ausweg sieht Decker in der Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch "direktdemokratische Beteiligungsformen". Diese könnten das "mehrheitsdemokratische Element" zurückdrängen und "den Fokus der Demokratisierung auf die konsensuellen Entscheidungsmechanismen" richten, "die in ihrer Responsivität gestärkt werden müssten". Es bleibt rätselhaft, woher der Optimismus stammt, "dass man die plebiszitären Tendenzen aus der elektoralen Sphäre" herauslösen, "in die konsensuellen Bereiche des Regierungssystems" verschieben und so einen "konsensuellen Schutzschild gegen die populistischen Versuchungen bilden" könnte, "die dem Parteienwettbewerb wesenseigen sind". Eher ist doch zu erwarten, dass die Parteien auch die direktdemokratischen Verfahren auf ihre Mühlen lenken würden.
Überhaupt sind die neu geschriebenen Teile über den Parteienstaat und den Parlamentarismus am wenigsten überzeugend. Hier wird besonders deutlich, dass der Verfasser an der Oberfläche einer aktuellen, sehr stark im modischen Wissenschaftsjargon schwelgenden "Theorie"Debatte verbleibt und die ideengeschichtliche Dimension der ersten drei Jahrzehnte der bundesdeutschen Politikwissenschaft weitgehend ausblendet. Die intensive Debatte über den Parteienstaat, das freie oder imperative Mandat und die innerparteiliche Demokratie war in den siebziger Jahren tiefgründiger als heute. Die Stärke des Buchs liegt in der Analyse des Föderalismus und im Abwägen der positiven und negativen Wirkungen einer im Übrigen nicht befürworteten Direktwahl des Bundespräsidenten und einer zurückhaltend bewerteten Volksgesetzgebung. Verdienstvoll ist die Auseinandersetzung mit den bislang stiefmütterlich behandelten Länder-Regierungssystemen. Decker stellt angesichts des Bedeutungsverlusts der Länderparlamente den Gleichklang des Parlamentarismus auf Bundes- und Länderebene in Frage. Sein Herz schlägt für ein präsidentiell-parlamentarisches Mischsystem auf Länderebene durch die Direktwahl der Ministerpräsidenten. Gleichzeitig relativiert er diesen Vorschlag, da der Exekutivföderalismus weiter gestärkt würde und ein Wandel des Bundesrats in Richtung eines Senatsmodells bedacht werden müsste. Realisierungschancen dafür sieht der Verfasser zu Recht kaum.
WOLFGANG JÄGER
Frank Decker: Regieren im "Parteienbundesstaat". Zur Architektur der deutschen Politik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010. 347 S., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Parteienstaat, Volksentscheid, Föderalismus und Regierungssysteme in den Bundesländern
Das Buch verleugnet seinen Ursprung nicht. Es besteht aus vier bereits publizierten, aber aktualisierten Aufsätzen zu den Themen Volksentscheid, Föderalismus und Regierungssysteme in den Bundesländern sowie zum Amt des Bundespräsidenten. Sie wurden um die Abschnitte "Leistungen und Defizite des Parlamentarismus" sowie "Parteiensystem und Regierungsbildung" angereichert. Frank Decker ist sich des hybriden Charakters seines Buches zwischen Aufsatzsammlung und Monographie bewusst und will deshalb auch keine Gesamtdarstellung des deutschen Regierungssystems präsentieren. Mit einem einleitenden Beitrag versucht er, einen roten Faden zu spinnen, indem er den deutschen "Parteienbundesstaat" typologisch "zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratie" einordnet.
Der Eröffnungsaufsatz ist exemplarisch für die theoretische Qualität des Bandes. Im Wesentlichen stellt der Verfasser die in der Politikwissenschaft aktuellen Typologien vor, breitet die Kriterien aus und diskutiert ausführlich die entsprechende Einordnung des bundesdeutschen Regierungssystems. Sodann werden in einer Mischung von normativen und empirischen Aussagen Vorschläge zur Verbesserung vorgetragen. Leitmelodie ist die seit langem erörterte Spannung von Parteienwettbewerb und konstitutioneller Politikverflechtung; sie führe dazu, "dass sich die Regierungsinstitutionen in der Bundesrepublik nicht produktiv ergänzen, sondern tendenziell blockieren". Die durchgängige These von der Blockade auf Kosten "sachlich vernünftiger Problemlösungen" wird allerdings empirisch nicht ausreichend belegt.
Die Erwartung vernünftiger Problemlösungen erinnert an die leidliche Debatte über die Inhalte des Gemeinwohls. Einen Ausweg sieht Decker in der Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch "direktdemokratische Beteiligungsformen". Diese könnten das "mehrheitsdemokratische Element" zurückdrängen und "den Fokus der Demokratisierung auf die konsensuellen Entscheidungsmechanismen" richten, "die in ihrer Responsivität gestärkt werden müssten". Es bleibt rätselhaft, woher der Optimismus stammt, "dass man die plebiszitären Tendenzen aus der elektoralen Sphäre" herauslösen, "in die konsensuellen Bereiche des Regierungssystems" verschieben und so einen "konsensuellen Schutzschild gegen die populistischen Versuchungen bilden" könnte, "die dem Parteienwettbewerb wesenseigen sind". Eher ist doch zu erwarten, dass die Parteien auch die direktdemokratischen Verfahren auf ihre Mühlen lenken würden.
Überhaupt sind die neu geschriebenen Teile über den Parteienstaat und den Parlamentarismus am wenigsten überzeugend. Hier wird besonders deutlich, dass der Verfasser an der Oberfläche einer aktuellen, sehr stark im modischen Wissenschaftsjargon schwelgenden "Theorie"Debatte verbleibt und die ideengeschichtliche Dimension der ersten drei Jahrzehnte der bundesdeutschen Politikwissenschaft weitgehend ausblendet. Die intensive Debatte über den Parteienstaat, das freie oder imperative Mandat und die innerparteiliche Demokratie war in den siebziger Jahren tiefgründiger als heute. Die Stärke des Buchs liegt in der Analyse des Föderalismus und im Abwägen der positiven und negativen Wirkungen einer im Übrigen nicht befürworteten Direktwahl des Bundespräsidenten und einer zurückhaltend bewerteten Volksgesetzgebung. Verdienstvoll ist die Auseinandersetzung mit den bislang stiefmütterlich behandelten Länder-Regierungssystemen. Decker stellt angesichts des Bedeutungsverlusts der Länderparlamente den Gleichklang des Parlamentarismus auf Bundes- und Länderebene in Frage. Sein Herz schlägt für ein präsidentiell-parlamentarisches Mischsystem auf Länderebene durch die Direktwahl der Ministerpräsidenten. Gleichzeitig relativiert er diesen Vorschlag, da der Exekutivföderalismus weiter gestärkt würde und ein Wandel des Bundesrats in Richtung eines Senatsmodells bedacht werden müsste. Realisierungschancen dafür sieht der Verfasser zu Recht kaum.
WOLFGANG JÄGER
Frank Decker: Regieren im "Parteienbundesstaat". Zur Architektur der deutschen Politik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010. 347 S., 29,95 [Euro].
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"Diese Arbeit, die weder mit engagierten Stellungnahmen noch mit diskussionswürdigen Reformvorschlägen spart, zählt zu den wichtigsten problemorientierten "Regierungslehren" in Deutschland." -- ZParl - Zeitschrift für Parlamentsfragen, 2-2011