"Thomas de Maizière erzählt verständlich und präzise, wie Politik funktioniert." (Süddeutsche Zeitung, Detlef Esslinger, 11. Februar 2019) Jeder weiß, wie die Arbeit eines Lehrers oder eines Arztes aussieht - was genau aber macht ein Politiker, zumal ein Minister? Thomas de Maizière, der 28 Jahre lang Regierungsverantwortung in unterschiedlichsten Positionen übernommen hat, bietet dem Leser Innenansichten der Macht und erklärt anhand zahlreicher Beispiele aus seiner Amtszeit, wie wir regiert werden. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag in einer Zeit zunehmender Entfremdung zwischen Teilen der Gesellschaft und ihren gewählten Repräsentanten. Thomas de Maizière liefert einen Werkstattbericht. Er folgt den Fragen, wie ein politisches Ergebnis durch gutes Regieren entsteht, welche Abläufe es dafür braucht, was ist der Normalfall und wie wird in Krisen gehandelt und entschieden? Ein Insiderblick auf Grundlage der Erfahrung aus fast drei Jahrzehnten Regierungsarbeit. Thomas de Maizière war Bundesminister in zwei Großen Koalitionen mit der SPD sowie in einer Koalition der Union mit der FDP, und das in drei Ministerien. In zwei Bundesländern - in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen - arbeitete er als Staatssekretär und Minister in insgesamt sechs Ressorts, sowohl in Regierungen mit absoluter Mehrheit als auch in Koalitionen mit FDP und SPD. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt aber bei der Arbeit in der Bundesregierung. Der Vollblutpolitiker verfolgt den Ansatz, die eigenen Erfahrungen zu verallgemeinern und an konkreten Beispielen zu beschreiben, wie Deutschland regiert wird. Er möchte politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger erreichen und informieren, indem er den Vorhang öffnet und den Blick hinter die Kulissen des Regierens zulässt. Trotz aller Objektivität möchte er dabei für die Arbeit des Regierens in Deutschland werben. Denn er weiß, "dass viel Abfälliges über die Regierungen im Speziellen und den Politikbetrieb im Allgemeinen zu hören ist, sei es aus Unkenntnis, aus Hochmut, aus Abneigung gegen Machtausübung schlechthin oder aus Unzufriedenheit über die Ergebnisse". Dort wo es aus seiner Sicht strukturelle oder tiefgreifende Mängel im praktischen Regieren gibt, bewertet er sie und macht Vorschläge, wie sie behoben werden könnten. Am Ende hat auch der ehemalige Minister kein Patentrezept für "gutes Regieren". Und doch formuliert er Regeln, Prinzipien und Maßstäbe, die ihm wichtig sind und die auch für andere Personen mit Führungsverantwortung gelten, die für das Zusammenwirken und die Arbeitsmethoden in großen Institutionen aller Art wichtig sind, um zu guten Ergebnissen zu kommen. "Als Minister gilt es, über die ,Blase Politik' hinaus zu wirken. Man muss die Mechanismen im ,Berliner S-Bahn-Ring', also im Berliner Politikbetrieb, kennen. Gleichzeitig ist es wichtig, seine Termine so zu machen, dass man die soziale Wirklichkeit unterschiedlicher Gruppen und der verschiedenen Regionen in Deutschland so gut wie möglich kennenlernt. Dazu gehören Interesse, Neugier, Offenheit und Zuneigung zu den Menschen. Wer die Menschen nicht achtet und schätzt, sollte lieber nicht Minister werden." (Thomas de Maizière) "Tolles Buch! [...] Ein Stück Zeitgeschichte" (ZDF "Markus Lanz", Markus Lanz, 13. Februar 2019) "Eine strukturierte Übersicht über das Regieren an sich, gespeist aus Jahrzehnten persönlicher Erfahrung." (t-online, Jonas Schaible, 14. Februar 2019)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2019Banker ohne Vorbereitung
Erfahrungen mit Wirtschaftsführern und Lobbyisten
Thomas de Maizière hatte 28 Jahre lang Regierungsverantwortung in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und dem Bund. Dort war er Chef des Kanzleramtes, Verteidigungsminister und Innenminister. Nun hat er ein Buch mit dem Titel "Regieren" vorgelegt. Und tatsächlich geht es dort ums Regieren, es geht um Institutionen, Mechanismen, Rollen, Erwartungen, Inszenierungen, Alltag, Krisen, Loyalität, Illoyalität, Kritik und Haltungen. Das Buch ist kein politisches Testament, keine Bewerbung für andere Aufgaben, keine Rechtfertigung vergangener Entscheidungen (beziehungsweise nur ganz selten). Es ist ein Lehrbuch übers Regieren und sollte von jedem gelesen werden, der Minister werden will, und von jedem, der beruflich mit Ministern zu tun hat.
Dazu gehören Wirtschaftsführer, Lobbyisten und Unternehmer. Viele von ihnen machen sich ein falsches Bild von den Abläufen innerhalb des "Berliner S-Bahn-Rings", wie de Maizière die "Blase" geographisch eingrenzt. Regierungsgeschäfte verlaufen anders als Verhandlungen in Vorstandsetagen und ganz anders, als es Studenten in Vorlesungen zum Staatsrecht lernen.
Als Minister hatte de Maizière immer eine Ausgabe des Märchens "Der kleine Häwelmann" von Theodor Storm dabei. Dabei geht es um einen kleinen Jungen, der immer mehr und noch mehr Aufmerksamkeit beansprucht, nicht genug bekommen kann, in seinem Bettchen aus dem Haus fliegt und immer "mehr, mehr" schreit. "Ein solches Verhalten habe ich oft bei Interessenverbänden und Unternehmen kennengelernt", resümiert de Maizière: "Es konnte nie genug sein. Jeder Fortschritt, den sie zuvor eingefordert hatten, war nicht genug."
Er habe dann in solchen Gesprächen die Geschichte vom kleinen Häwelmann erzählt oder sogar ein Exemplar an die Betroffenen gesendet: "Bewirkt hat es wahrscheinlich wenig, außer Erstaunen. Manche waren sicher beleidigt." Für de Maizière sind Interessenverbände unersättlich. "Genauso wie es legitim ist, dass die Verbände ihre Interessen einseitig vertreten, ist es notwendig, dass die Regierung die Interessen der Allgemeinheit vertritt."
Spannend ist, wie de Maizière die Arbeit der Berliner Lobbyisten bewertet: "So unterschiedlich der Hintergrund der Interessenverbände ist, so ähnlich ist die Arbeitsweise. Es gibt Geschäftsstellen mit hauptamtlichen Mitarbeitern. Es gibt Zeitschriften und Newsletter, die inzwischen die Posteingänge der E-Mail-Adressen so zustopfen, dass sie kaum noch zur Kenntnis genommen werden. Es werden Parlamentarische Abende veranstaltet, Preise verliehen, Konzerte durchgeführt, Partys gemacht und Gutachten vergeben."
Zu den Parlamentarischen Abenden schreibt der frühere Politiker: "Die Veranstalter geben sich große Mühe. Ein wirklicher Imagegewinn ist damit trotzdem nicht verbunden. Es gibt zu viele derartige Veranstaltungen, und sie unterscheiden sich inzwischen oft nur danach, ob die Location cool ist." Er hätte diese Veranstaltungen daher nur selten besucht, sich aber regelmäßig im Ministerium mit den Verbänden getroffen. Das sei nicht kritikwürdig. Aber: "Es gibt Verbände, denen es gelungen ist, aus den Ministerien zuweilen Vorlagen an den Minister zu bekommen, bevor der Minister sie auf dem Tisch hat. So ist es beim Bundeswehrverband. Man hört es auch aus dem Gesundheitsministerium. Das ist nicht in Ordnung." Im Buch beschreibt de Maizière, eher beiläufig, mit welchem Trick er undichten Quellen im Ministerium auf die Spur gekommen ist.
Welcher Lobbyismus scheitert? Besonders beachtet würden in der Politik immer die Positionspapiere der Kirchen, schreibt der Christdemokrat, aber er warnt: "Je gefälliger und austauschbarer die Stellungnahmen werden, wenn sie ihr Spezifisches verlieren und sich äußern wie jeder andere Interessenverband, dann werden sie von der Regierung auch so behandelt: als wichtig, aber wie andere unter ferner liefen." So werde eine Stellungnahme der Kirchen zum Mindestlohn oder zum Rentenniveau nicht mehr beachtet als die des Deutschen Gewerkschaftsbundes. "Deshalb ist hier Zurückhaltung angeraten", schreibt de Maizière.
Was ihm auch nicht gefallen habe, seien schlecht vorbereitete Bankenchefs: "Ich habe gemeinsam mit dem Kollegen Peer Steinbrück in der Finanzkrise Vorstandsvorsitzende von Banken erlebt, die zuvor in der Öffentlichkeit vor Kraft nicht laufen konnten, in der Krise aber nicht nur klein mit Hut, sondern auch substanzlos waren bei der Beschreibung der Krise oder bei der Analyse der Lage der eigenen Bank. Ich habe selbstbewusste Unternehmensführer bei der Bundeskanzlerin erlebt, die eine Frage der Kanzlerin nicht beantworten konnten - obwohl sie nahelag -, weil sie nicht Teil der vorbereiteten Unterlagen war, und die dann plötzlich unsicher und fahrig wurden."
Und was schreibt de Maizière über ebendiese Bundeskanzlerin? "Sie hat den mit Abstand schwierigsten, anspruchsvollsten und arbeitsreichsten Job in der Regierung. Ihr Arbeitspensum ist immens, dass man allein davor nur den Hut ziehen kann, wie sie das schafft. Die Bundeskanzlerin muss zu allen wichtigen Themen auskunftsfähig sein. Allein das verlangt harte Arbeit, ein gutes Gedächtnis und eine ungeheure Intelligenz." Er habe Angela Merkel oft als warmherzig, witzig und dem Gesprächspartner als Menschen zugewandt erlebt.
Ob er auch ihr einmal die Geschichte vom kleinen Häwelmann erzählt hat? Diese endet übrigens mit dem Absturz des Jungen in ein großes Gewässer. Zuletzt schreibt Storm, etwas unvermittelt, an den Leser seines Märchens: "Wenn ich und du nicht gekommen wären und den kleinen Häwelmann in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können!" De Maizière hat 28 Jahre lang viele kleine Häwelmänner an die Hand genommen. Sein Antrieb war die Loyalität zu unserem Staat, den er nie hat ertrinken lassen. Respekt.
JOCHEN ZENTHÖFER
Thomas de Maizière: Regieren. Herder, Freiburg 2019. 252 Seiten. 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erfahrungen mit Wirtschaftsführern und Lobbyisten
Thomas de Maizière hatte 28 Jahre lang Regierungsverantwortung in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und dem Bund. Dort war er Chef des Kanzleramtes, Verteidigungsminister und Innenminister. Nun hat er ein Buch mit dem Titel "Regieren" vorgelegt. Und tatsächlich geht es dort ums Regieren, es geht um Institutionen, Mechanismen, Rollen, Erwartungen, Inszenierungen, Alltag, Krisen, Loyalität, Illoyalität, Kritik und Haltungen. Das Buch ist kein politisches Testament, keine Bewerbung für andere Aufgaben, keine Rechtfertigung vergangener Entscheidungen (beziehungsweise nur ganz selten). Es ist ein Lehrbuch übers Regieren und sollte von jedem gelesen werden, der Minister werden will, und von jedem, der beruflich mit Ministern zu tun hat.
Dazu gehören Wirtschaftsführer, Lobbyisten und Unternehmer. Viele von ihnen machen sich ein falsches Bild von den Abläufen innerhalb des "Berliner S-Bahn-Rings", wie de Maizière die "Blase" geographisch eingrenzt. Regierungsgeschäfte verlaufen anders als Verhandlungen in Vorstandsetagen und ganz anders, als es Studenten in Vorlesungen zum Staatsrecht lernen.
Als Minister hatte de Maizière immer eine Ausgabe des Märchens "Der kleine Häwelmann" von Theodor Storm dabei. Dabei geht es um einen kleinen Jungen, der immer mehr und noch mehr Aufmerksamkeit beansprucht, nicht genug bekommen kann, in seinem Bettchen aus dem Haus fliegt und immer "mehr, mehr" schreit. "Ein solches Verhalten habe ich oft bei Interessenverbänden und Unternehmen kennengelernt", resümiert de Maizière: "Es konnte nie genug sein. Jeder Fortschritt, den sie zuvor eingefordert hatten, war nicht genug."
Er habe dann in solchen Gesprächen die Geschichte vom kleinen Häwelmann erzählt oder sogar ein Exemplar an die Betroffenen gesendet: "Bewirkt hat es wahrscheinlich wenig, außer Erstaunen. Manche waren sicher beleidigt." Für de Maizière sind Interessenverbände unersättlich. "Genauso wie es legitim ist, dass die Verbände ihre Interessen einseitig vertreten, ist es notwendig, dass die Regierung die Interessen der Allgemeinheit vertritt."
Spannend ist, wie de Maizière die Arbeit der Berliner Lobbyisten bewertet: "So unterschiedlich der Hintergrund der Interessenverbände ist, so ähnlich ist die Arbeitsweise. Es gibt Geschäftsstellen mit hauptamtlichen Mitarbeitern. Es gibt Zeitschriften und Newsletter, die inzwischen die Posteingänge der E-Mail-Adressen so zustopfen, dass sie kaum noch zur Kenntnis genommen werden. Es werden Parlamentarische Abende veranstaltet, Preise verliehen, Konzerte durchgeführt, Partys gemacht und Gutachten vergeben."
Zu den Parlamentarischen Abenden schreibt der frühere Politiker: "Die Veranstalter geben sich große Mühe. Ein wirklicher Imagegewinn ist damit trotzdem nicht verbunden. Es gibt zu viele derartige Veranstaltungen, und sie unterscheiden sich inzwischen oft nur danach, ob die Location cool ist." Er hätte diese Veranstaltungen daher nur selten besucht, sich aber regelmäßig im Ministerium mit den Verbänden getroffen. Das sei nicht kritikwürdig. Aber: "Es gibt Verbände, denen es gelungen ist, aus den Ministerien zuweilen Vorlagen an den Minister zu bekommen, bevor der Minister sie auf dem Tisch hat. So ist es beim Bundeswehrverband. Man hört es auch aus dem Gesundheitsministerium. Das ist nicht in Ordnung." Im Buch beschreibt de Maizière, eher beiläufig, mit welchem Trick er undichten Quellen im Ministerium auf die Spur gekommen ist.
Welcher Lobbyismus scheitert? Besonders beachtet würden in der Politik immer die Positionspapiere der Kirchen, schreibt der Christdemokrat, aber er warnt: "Je gefälliger und austauschbarer die Stellungnahmen werden, wenn sie ihr Spezifisches verlieren und sich äußern wie jeder andere Interessenverband, dann werden sie von der Regierung auch so behandelt: als wichtig, aber wie andere unter ferner liefen." So werde eine Stellungnahme der Kirchen zum Mindestlohn oder zum Rentenniveau nicht mehr beachtet als die des Deutschen Gewerkschaftsbundes. "Deshalb ist hier Zurückhaltung angeraten", schreibt de Maizière.
Was ihm auch nicht gefallen habe, seien schlecht vorbereitete Bankenchefs: "Ich habe gemeinsam mit dem Kollegen Peer Steinbrück in der Finanzkrise Vorstandsvorsitzende von Banken erlebt, die zuvor in der Öffentlichkeit vor Kraft nicht laufen konnten, in der Krise aber nicht nur klein mit Hut, sondern auch substanzlos waren bei der Beschreibung der Krise oder bei der Analyse der Lage der eigenen Bank. Ich habe selbstbewusste Unternehmensführer bei der Bundeskanzlerin erlebt, die eine Frage der Kanzlerin nicht beantworten konnten - obwohl sie nahelag -, weil sie nicht Teil der vorbereiteten Unterlagen war, und die dann plötzlich unsicher und fahrig wurden."
Und was schreibt de Maizière über ebendiese Bundeskanzlerin? "Sie hat den mit Abstand schwierigsten, anspruchsvollsten und arbeitsreichsten Job in der Regierung. Ihr Arbeitspensum ist immens, dass man allein davor nur den Hut ziehen kann, wie sie das schafft. Die Bundeskanzlerin muss zu allen wichtigen Themen auskunftsfähig sein. Allein das verlangt harte Arbeit, ein gutes Gedächtnis und eine ungeheure Intelligenz." Er habe Angela Merkel oft als warmherzig, witzig und dem Gesprächspartner als Menschen zugewandt erlebt.
Ob er auch ihr einmal die Geschichte vom kleinen Häwelmann erzählt hat? Diese endet übrigens mit dem Absturz des Jungen in ein großes Gewässer. Zuletzt schreibt Storm, etwas unvermittelt, an den Leser seines Märchens: "Wenn ich und du nicht gekommen wären und den kleinen Häwelmann in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können!" De Maizière hat 28 Jahre lang viele kleine Häwelmänner an die Hand genommen. Sein Antrieb war die Loyalität zu unserem Staat, den er nie hat ertrinken lassen. Respekt.
JOCHEN ZENTHÖFER
Thomas de Maizière: Regieren. Herder, Freiburg 2019. 252 Seiten. 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main