Silke Scheuermann ist eine der bedeutenden Lyrikerinnen der Gegenwart, ihr Umgang mit Sprache ein Leseerlebnis. Mit den Erzählungen "Reiche Mädchen" legt sie ihr erwartetes Prosadebut vor, poetisch und akzentuiert wie ihre Lyrik. Ironisch, lakonisch, amüsant und messerscharf zeichnet sie das Bild einer Generation, die sich nach dem Gewöhnlichen sehnt und doch so viel mehr als das Gewöhnliche will.
Immer mehr junge Frauen langweilen sich, haben Sex und schreiben darüber. Warum nur?
Aaaaaargh! Es passiert schon wieder nichts! Graue Wände, Zigaretten, Warten, Hoffen, Langeweile, und am Schluß die Liebe für einen Augenblick. Was ist das? Die ausführliche Inhaltsangabe des ersten Erzählungsbandes der meisten jungen deutschen Autorinnen.
Nein, man kann Judith Hermann daraus keinen Vorwurf machen. Aber irgendwie ist sie schuld. Ist der gigantische Erfolg ihrer Erzählungsbände daran schuld, daß dieser Ton, dieser vornehm-mondän-gelangweilte Geschichtenton, den man einst so herrlich fand, aus der deutschen Gegenwartsliteratur, aus den Büchern der jungen Debütantinnen einfach nicht mehr verschwindet. Die Bücher beginnen so: "Es geschieht auch in diesem Sommer nichts, das ihn von den vorherigen unterscheidet, obwohl ich es mir doch so sehr wünsche, doch keine der Häuserfassaden, an denen ich täglich entlanggehe, ändert plötzlich chamäleonhaft die Farbe, sie werden höchstens blasser, als wollten sie diejenigen ärgern und enttäuschen, die sie allzuoft hoffnungsvoll anstarren." Und dann wird also ein wenig umhergegangen, geraucht, geliebt, und am Ende des Buches heißt es: "Die Autorin dankt dem Deutschen Literaturfonds für die Unterstützung ihrer Arbeit."
Die Autorin? In diesem Fall: Silke Scheuermann. Eine der talentiertesten jungen deutschen Autorinnen. Sie ist einunddreißig Jahre alt, hat schon zwei Gedichtbände veröffentlicht und den renommierten Leonce-und-Lena-Preis erhalten. Sie kann gut schreiben, findet immer wieder erstaunliche Sprachbilder, schildert schöne Momente und ungeschönte Körperenthüllungen. Aber vor allem schildert sie die Langeweile. Die Sehnsucht nach Geschichten, die nicht passieren, nach Menschen, die mitunter auch mal was erlebt haben und die man dann aussaugen kann wie ein Vampir: "Irgendwann würde sowieso jedes ihrer Opfer merken, daß sie mit ihrer Liebe die Männer aussaugte, alles aus ihnen herauspreßte, ihre Geschichten wissen wollte, ihre Gedanken, erzähl doch, erzähl doch, es war wie eine Sucht, auf die drei schönen Wochen folgten dann drei Monate, in dem die Liebhaber, geschockt vom Ausmaß der Langeweile, die Natalie offenbar quälte, versuchen würden, ihre neue Freundin anzuspornen, damit sie irgend etwas verändere, einen Sinn finde."
Doch der findet sich nicht, so sehr die jungen Frauen in Silke Scheuermanns Erzählungen auch suchen und suchen. Kein Sinn. Kein Zweck. Nur Traurigkeit. Nur der Wille, sich abzugeben, an einen Mann. "Reiche Mädchen" heißt das Buch. Und sie sind unfaßbar arm. Lebensarm und bleich. Wie aus einer Erzählung Joseph Roths, Damen im Frühling auf Caféterrassen, "die darauf warten gepflückt zu werden".
Männer sind ihre einzige Hoffnung. Die Liebe ihr Lebensziel. Und Sex die eine, große Möglichkeit. Und hier unterscheiden sich die Erzählungen Silke Scheuermanns plötzlich deutlich von denen ihrer Mitbewerberinnen. Sex. Da wird nichts bloß angedeutet. Da wird alles schön auserzählt. Wo es in der gemeinen Damenprosa üblich ist, im rechten Moment den Blick abzuwenden oder einen feinen Rauchschleier über die Szene zu legen oder die Unmöglichkeit der Vereinigung zu betrauern, wird hier in jeder Geschichte eine Vereinigung gefeiert. Oder besser: mehr oder weniger gewaltsam vollzogen. Glieder strecken sich den Frauen entgegen, den Männern "gigantisch große Brüste, rund, weiß, speckig vom Schaum", Flüssigkeiten spritzen, mal hier, mal da, mal als ein "Brei im Mund", der, weil der Herr regelmäßig Eiweiß- und Vitaminpräparate eingenommen hat, "einen Geschmack von Terpentin hatte".
Silke Scheuermann spart nichts aus. Vor gut zwei Jahren hat sie einmal einen ganzen Männerknast in einen wahren Schockzustand hineingelesen, mit einer ihrer Sexgeschichten. Das Berliner Literaturfestival hatte eine Lesung in der Berliner Haftvollzugsanstalt Tegel organisiert, in einem Männerblock mit Langzeithäftlingen, auch Lebenslänglichen. Und da waren also jetzt fünfzig Knastler in einem kleinen Raum zusammengekommen, um eine Geschichte zu hören. Und es kommt diese junge, ziemlich gutaussehende, irgendwie porzellanen wirkende Frau und liest. Die Geschichte einer jungen Frau, die einen älteren, verheirateten Mann liebt. Gern kommt er mit zu ihr nach Haus, zieht sich aus, und Silke Scheuermann liest und liest, mit feiner, leiser Stimme, "sein hartes Glied drückt gegen meinen linken Schenkel", "jetzt baumelt sein Schwanz herum wie ein Pendel, das die Fruchtbarkeit der Erde kontrollieren will", "er hat fein säuberlich in mich hineingespritzt", "ich führe meine Hand zwischen die Beine und schnuppere an ihr".
Es ist sehr, sehr still nach dieser Lesung. Die Eingesperrten sagen erst mal nichts. Schließlich steht ein Häftling in weinrotem Filzmantel und alten Lederpantoffeln auf und sagt: "Bitte, Sie müssen das verstehen, die Welt des Eros, der Gefühle, ist uns hier in all den Jahren fremd geworden. Es braucht ein wenig Zeit, bis wir wieder Worte finden."
Es ist dann wieder so still. Später werden die Veranstalter der Autorin sagen, daß sie es "mutig" fanden von ihr, hier, vor den zum Teil lebenslang Inhaftierten, eine solch freizügige Sexphantasiegeschichte zu lesen. Silke Scheuermann wird lächeln.
In dem Raum ergibt sich, nach dem langen Schweigen, dann doch noch eine Art Diskussion. Natürlich will einer wissen, ob sie sich das alles ausgedacht habe. Und wenn ja, dann sei der Literaturpreis, den sie im letzten Jahr bekommen habe "auf jeden Fall noch viel zu klein für dich". Ein arabisch aussehender, junger Mann mit Glatze meldet sich und sagt, er finde es nicht gut, daß die Frau einem verheirateten Mann hinterherjage. Ein anderer möchte von ihr als Frau gerne wissen, ob verheiratete Männer attraktiver seien als unverheiratete und warum das so sei. Jedenfalls kam Silke Scheuermann und ihre Geschichte bei den einsamen Männern ausgezeichnet an.
Beim Lesen aber wird man müde. Unfaßbar müde. Und später wütend. Man will hineinschreien in die Geschichten. All den armen Mädchen, die die falschen Männer lieben, warten, warten, an der Bar von Tennisclubs, in Vorlesungen über Derrida und die Gerechtigkeit, in der Badewanne mit dem falschen Mann warten, sitzen, rauchen. Wohnen, dämmern, liegen. Hinaus in die Welt! Wo kein Literaturfonds euch beschützt! Wo ihr selbst das Leben seid. Und nicht die Männer, die grauen Wände und der Wein. Bring dein Traumbild um, bevor es dich ums Leben bringt.
Einen Moment gibt es in diesem Buch, da wird ein Mädchen plötzlich mächtig. Sie wurde widerlich beschmutzt von irgendeinem widerlichen Sören in einem heruntergekommenen Hinterhofzimmer. Es war ein Jammer. Sie hatte sich mit Kokosmilch eingecremt, fünfmal vor dem Treffen den Rock gewechselt, Oberteile probiert und probiert. Sören kümmerte all das nicht. Sören wollte Sex, so schnell es geht. Und so kam es auch. Und jetzt steht sie auf der Straße und sie muß fast lachen, als sie daran denkt, wie sie sich schöngemacht hatte für den Abend, und sie denkt, daß ihr spargeliger Körper niemals von jemandem geliebt werden wird und daß niemand je soviel Zeit mit ihr verbringen wird, daß er mit ihr "aus ihrem neuen Porzellangeschirr mit dem blauen Rand essen" wird. Sie weint, die Welt verschwimmt, und plötzlich ergeht ein Befehl an sie, sie glaubt, er komme von Gott, und da ist plötzlich auch eine Pistole, und sie schießt, und ein junger Mann, fast noch ein Kind, lebt plötzlich nicht mehr.
Sie sieht ihn liegen, "den dünnen, sehr jungen Mann, dessen erfreuter Ausdruck auf dem Gesicht, wie sie verblüfft feststellt, im Tod noch gewachsen ist, als habe sie ihm zu guter Letzt einen Gefallen getan".
Das ist ein Moment der Macht in diesem Buch der großen Ohnmacht. Ein Erleichterungsmoment und Hoffnungsmoment. Hoffnung auf ein Leben nach dem ersten Buch.
VOLKER WEIDERMANN
Silke Scheuermann: "Reiche Mädchen". Erzählungen. Verlag Schöffling & Co. 163 Seiten. 17,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Schöner kann man vom Glück und all den anderen Illusionen des Lebens nicht schreiben, jubelt Rezensent Kolja Mensing. Besonders eine Erzählung dieses ersten Prosabands der Lyrikerin Silke Scheuermann macht den ganzen Band für ihn zum Ereignis. Die übrigen Erzählung handeln Mensing zufolge von langweiligen "Thirtysomethings", die um den eigenen Bauchnabel kreisen. Trotz erheblicher Qualitäten wäre die Sammlung für ihn nichts besonderes, wäre da nicht die Erzählung "Die Umgebung von Blitzen", in der Scheuermann den Mikrokosmos eines Rentners entfalte. Toll, wie dieser "vergreiste Werther" mit seiner in die Jahre gekommenen Lotte die Liebe erlebe. Das wollen die Dreißigjährigen auch noch lesen, wenn sie von sich selbst längst gelangweilt sind, denkt sich der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Silke Scheuermann ist ein großes Talent. Sie ist eine Hoffnung für die deutsche Literatur - und also eine Hoffnung für uns Leser (...).«Uwe Wittstock, Die Literarische Welt - Buch der Woche»Schöner kann man vom Glück und all den anderen Illusionen des Lebens nicht schreiben.«Kolja Mensing, Frankfurter Allgemeine Zeitung»Silke Scheuermann hat bisher ironisch tänzelnde Gedichte geschrieben. Ihr Prosa-Debüt ist ein Glücksfall.«Welt am Sonntag»Jeder einzelne Satz atmet Poesie. Ihre sieben kleinen Sprachkunstwerke sind zugleich abgründig und lakonisch. Und tragisch wahr.«Brigitte»Scheuermanns Stil ist angenehm schnörkellos und amüsant (...). Geradezu ein Pamphlet für das Zweifeln am anderen und sich selbst (...).«Jenni Zykla, literatz»Mit Silke Scheuermann ist eine wunderbar ironische Autorin zu entdecken, eine heitere Sekretärin der menschlichen Unvollkommenheit.«Anton Thuswaldner»Große Erwartungen und heilsame Enttäuschungen schmiegen sich in diesem Buch stets verführerisch eng aneinander. Scheuermann kann mit Wörtern flüstern - und dann wieder recht laut werden.«Shirin Sojitrawalla, Wiener Zeitung»Reiche Mädchen ist ein Band, der überrascht.«Anne Rullmann, NDR»Silke Scheuermann hat eine ironische Distanz zu ihren Figuren. Sie bewundert ihre Mädchen nicht, doch sie spürt die Tragik hinter den schönen Fassaden auf.«Harald Klauhs, Die Presse»Die beharrlichen Versuche, dem Leben ein Stück Glück abzuringen, sind großartig geschildert.«Neue Presse»Silke Scheuermann bewegt sich auf hohem sprachlichen Niveau und dennoch oder vielleicht gerade deswegen wirken ihre Sätze schlank und elegant.«Regina Schilling, EMMA»Eines der interessantesten Prosa-Debüts des Frühjahrs. Es fesselt durch vorzüglichen Stil, rasante Dramaturgie und wahrhaftige Beobachtungen über die Sehnsucht.«Sächsische Zeitung am Sonntag»Lyrikerin Silke Scheuermann stellt sich mit diesem Buch als spannende Erzählerin vor, die das Lebensgefühl einer neuen Lost Generation (...) messerscharf beschreibt.«Glamour