Freitag, der 29. Juli in Dublin. Das Wetter ist wie vorhergesagt, die Stadt vor Cathals Bürofenster liegt in gleißendem Sonnenschein. Nach einem scheinbar ereignislosen Tag mit Budgetlisten und Bürokaffee nimmt Cathal den Bus nach Hause. Die Landschaft zieht an ihm vorüber, die waldigen Hügel, auf denen er noch nie gewesen ist, und er denkt an Sabine. Die ein bisschen schielt und die gut kochen kann, die auch im Winter barfuß am Strand spazieren geht, die die Hügel besteigt. Die zu viel Geld ausgibt und zu viel Raum einnimmt und zumindest über die Hälfte von allem bestimmen will. Die Frau, mit der er hätte sein Leben verbringen können, wäre er ein anderer Mann gewesen.In dieser kleinen Geschichte eines gescheiterten Paares erzählt Claire Keegan vom großen Thema Misogynie. Und wie sie das tut: kein Wort überflüssig, jeder Satz von durchscheinender Klarheit. Meisterhaft!
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Claire Keegans kurze Geschichte "Reichlich spät" hat es Rezensentin Stephanie von Oppen angetan. Auf nur 60 Seiten schildert die irische Autorin die misslungene Liebesbeziehung zwischen dem alternden, nun allein in seinem Büro sitzenden Cathal und der Halbfranzösin Sabine, die ihn kurz vor der Hochzeit verlassen hat - denn Cathal haben, wie von Oppen resümiert, fatale Kindheitsmuster eingeholt. Mit der Prägung durch den geizigen, frauenverachtenden Vater belastet, konnte er der Partnerin laut der Rezensentin nicht mit Großzügigkeit und Toleranz begegnen. Keegans Schilderung dieses in überkommenen Geschlechterklischees befangenen Mannes ist für die Kritikerin auch deshalb interessant, weil sie noch heute präsente misogyne Strukturen bloßlegt. Die Rezensentin lobt vor allem, wie meisterhaft Keegan die "Kunst der Auslassung" praktiziere, und kann diese zurückhaltende Erzählung sehr empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.06.2024Warum ist er nur so?
Claire Keegan stellt einen Frauenfeind
Cathal, ein Angestellter, sitzt in seinem Büro in Dublin, schaut aus dem Fenster und weiß nichts mit sich anzufangen. Er sieht "Kinder und üppige Blumenbeete", daran schließt sich die Überlegung an, "so vieles im Leben verlief reibungslos, ungeachtet des Gewirrs menschlicher Enttäuschungen und des Wissens, dass alles einmal enden muss" - ob Cathal das denkt oder die Erzählerin, bleibt offen. Cathal jedenfalls hätte allen Grund dazu, über Enttäuschungen und Endlichkeit nachzudenken, denn kurz zuvor, so wird bald deutlich, hat ihn seine Verlobte Sabine verlassen, und für just diesen Tag, an dem Keegans Text spielt, war eigentlich die Hochzeitsfeier vorbereitet worden.
Claire Keegans Erzählung "Reichlich spät", im Original 2022 und nun auf Deutsch bei Steidl erschienen, ist nur kurz - sie füllt netto knapp fünfzig luftig gesetzte Seiten des ausnehmend schön gestalteten Bandes. Aber sie tritt erkennbar an, mit ihren sparsamen Details das Drama eines Lebens und noch mehr zu beleuchten. Den Rahmen bildet Cathals Weg vom Büro, wo er unter den schwer zu deutenden Blicken der Kollegen die Form wahrt, zur Bushaltestelle und schließlich in die Wohnung, wo er die bereitgestellte Flasche Champagner in sich hineinkippt, vor dem Fernseher einschläft, aufwacht und ins Bett wankt, während er an seine Ex-Verlobte und andere Frauen denkt, die er mit einem sexistischen Kraftausdruck bedenkt - demselben Wort, das er der Französin Sabine gegenüber als zwar unter irischen Männern durchaus häufig verwendet bezeichnet hatte, das aber gleichwohl "nicht viel zu bedeuten" habe: "So reden wir halt."
Eingebettet in die Geschichte jenes Tages sind Erinnerungen Cathals an die Zeit mit Sabine, wobei seltsam blass bleibt, was beide aneinander finden. Sie treffen sich ein paar Mal, dann bleibt sie über Nacht, er fragt sie, ob sie bei ihm einziehen möchte, spricht von Kindern und kommt mit den Konsequenzen dieser Überlegungen nicht zurecht, etwa als ihm erst nach ihrem Umzug klar wird, dass er ihr ja Platz machen muss. Und auch die Ausgaben für ein gemeinsames Leben gefallen ihm nicht.
Es ist keine triviale Frage, wann diese Geschichte eigentlich spielt. Es ist ein Freitag, der 29. Juli, Lady Di ist schon tot, zudem sind Netflix und Mobiltelefone allgemein verbreitet - die Zeit der Handlung kann demnach nicht länger als zwei Jahrzehnte zurückliegen, eher weniger. Umso fassungsloser wird man beim Lesen, weil man viele von Cathals Vorstellungen, allen voran sein Frauenbild, eher in den Fünfzigern verortet hätte. Die Erzählerin, die insgesamt seine Perspektive einnimmt, gibt sich große Mühe, dies als Folge seiner Prägung durch die irische Gesellschaft zu erklären - er hat in seiner Familie gelernt, sich von Frauen bedienen zu lassen und es lustig zu finden, wenn seiner schuftenden Mutter am Abendbrottisch der Stuhl unter dem Hintern weggezogen wird, sodass sie mit den Tellern auf dem Boden landet.
Cathals Schuld aber, so die Erzählerin, ist es, die Zeichen nicht zu sehen und sein Verhalten nicht zu überdenken. Gelegenheit hätte er genug. "Falls ein Teil von ihm sich fragen wollte, wie er sich wohl entwickelt hätte, wäre sein Vater ein anderer Typ Mann gewesen und hätte nicht gelacht, so unterdrückte Cathal den Gedanken." Seinen Geiz hält ihm Sabine vor und identifiziert ihn als Kern aller Misogynie. Und selbst im Rahmen einer Busfahrt verweigert er die Begegnung mit einer neben ihm sitzenden Frau, die Roddy Doyles einschlägigen Roman "Die Frau, die gegen Türen rannte" liest, in dem Cathal einiges über familiär tradierte Frauenfeindlichkeit lernen könnte. Die Erzählerin konfrontiert ihn fast penetrant mit Warnhinweisen. An ihr liegt es nicht, wenn ihr Geschöpf nicht ist, wie es sein sollte.
All das gibt sich diskret, ist aber so dick aufgetragen, dass die Botschaft überdeutlich wird und letztlich auch die Glaubwürdigkeit der zentralen Figur beschädigt. Cathal wird vorgeführt und angeprangert, gerade indem seine Perspektive eingenommen wird, ohne dass wir ihm tatsächlich näher kämen. Immerhin taugt die Erzählung als Beispiel dafür, was passiert, wenn man Protagonisten eine literarische Bühne bereitet, ohne sie letztlich zu respektieren. TILMAN SPRECKELSEN
Claire Keegan: "Reichlich spät". Erzählung.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2024. 64 S., geb., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Claire Keegan stellt einen Frauenfeind
Cathal, ein Angestellter, sitzt in seinem Büro in Dublin, schaut aus dem Fenster und weiß nichts mit sich anzufangen. Er sieht "Kinder und üppige Blumenbeete", daran schließt sich die Überlegung an, "so vieles im Leben verlief reibungslos, ungeachtet des Gewirrs menschlicher Enttäuschungen und des Wissens, dass alles einmal enden muss" - ob Cathal das denkt oder die Erzählerin, bleibt offen. Cathal jedenfalls hätte allen Grund dazu, über Enttäuschungen und Endlichkeit nachzudenken, denn kurz zuvor, so wird bald deutlich, hat ihn seine Verlobte Sabine verlassen, und für just diesen Tag, an dem Keegans Text spielt, war eigentlich die Hochzeitsfeier vorbereitet worden.
Claire Keegans Erzählung "Reichlich spät", im Original 2022 und nun auf Deutsch bei Steidl erschienen, ist nur kurz - sie füllt netto knapp fünfzig luftig gesetzte Seiten des ausnehmend schön gestalteten Bandes. Aber sie tritt erkennbar an, mit ihren sparsamen Details das Drama eines Lebens und noch mehr zu beleuchten. Den Rahmen bildet Cathals Weg vom Büro, wo er unter den schwer zu deutenden Blicken der Kollegen die Form wahrt, zur Bushaltestelle und schließlich in die Wohnung, wo er die bereitgestellte Flasche Champagner in sich hineinkippt, vor dem Fernseher einschläft, aufwacht und ins Bett wankt, während er an seine Ex-Verlobte und andere Frauen denkt, die er mit einem sexistischen Kraftausdruck bedenkt - demselben Wort, das er der Französin Sabine gegenüber als zwar unter irischen Männern durchaus häufig verwendet bezeichnet hatte, das aber gleichwohl "nicht viel zu bedeuten" habe: "So reden wir halt."
Eingebettet in die Geschichte jenes Tages sind Erinnerungen Cathals an die Zeit mit Sabine, wobei seltsam blass bleibt, was beide aneinander finden. Sie treffen sich ein paar Mal, dann bleibt sie über Nacht, er fragt sie, ob sie bei ihm einziehen möchte, spricht von Kindern und kommt mit den Konsequenzen dieser Überlegungen nicht zurecht, etwa als ihm erst nach ihrem Umzug klar wird, dass er ihr ja Platz machen muss. Und auch die Ausgaben für ein gemeinsames Leben gefallen ihm nicht.
Es ist keine triviale Frage, wann diese Geschichte eigentlich spielt. Es ist ein Freitag, der 29. Juli, Lady Di ist schon tot, zudem sind Netflix und Mobiltelefone allgemein verbreitet - die Zeit der Handlung kann demnach nicht länger als zwei Jahrzehnte zurückliegen, eher weniger. Umso fassungsloser wird man beim Lesen, weil man viele von Cathals Vorstellungen, allen voran sein Frauenbild, eher in den Fünfzigern verortet hätte. Die Erzählerin, die insgesamt seine Perspektive einnimmt, gibt sich große Mühe, dies als Folge seiner Prägung durch die irische Gesellschaft zu erklären - er hat in seiner Familie gelernt, sich von Frauen bedienen zu lassen und es lustig zu finden, wenn seiner schuftenden Mutter am Abendbrottisch der Stuhl unter dem Hintern weggezogen wird, sodass sie mit den Tellern auf dem Boden landet.
Cathals Schuld aber, so die Erzählerin, ist es, die Zeichen nicht zu sehen und sein Verhalten nicht zu überdenken. Gelegenheit hätte er genug. "Falls ein Teil von ihm sich fragen wollte, wie er sich wohl entwickelt hätte, wäre sein Vater ein anderer Typ Mann gewesen und hätte nicht gelacht, so unterdrückte Cathal den Gedanken." Seinen Geiz hält ihm Sabine vor und identifiziert ihn als Kern aller Misogynie. Und selbst im Rahmen einer Busfahrt verweigert er die Begegnung mit einer neben ihm sitzenden Frau, die Roddy Doyles einschlägigen Roman "Die Frau, die gegen Türen rannte" liest, in dem Cathal einiges über familiär tradierte Frauenfeindlichkeit lernen könnte. Die Erzählerin konfrontiert ihn fast penetrant mit Warnhinweisen. An ihr liegt es nicht, wenn ihr Geschöpf nicht ist, wie es sein sollte.
All das gibt sich diskret, ist aber so dick aufgetragen, dass die Botschaft überdeutlich wird und letztlich auch die Glaubwürdigkeit der zentralen Figur beschädigt. Cathal wird vorgeführt und angeprangert, gerade indem seine Perspektive eingenommen wird, ohne dass wir ihm tatsächlich näher kämen. Immerhin taugt die Erzählung als Beispiel dafür, was passiert, wenn man Protagonisten eine literarische Bühne bereitet, ohne sie letztlich zu respektieren. TILMAN SPRECKELSEN
Claire Keegan: "Reichlich spät". Erzählung.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2024. 64 S., geb., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.