Mit Bildern die Komplexität geschichtlicher Zeit reflektieren, fotografieren, zeichnen: Dies ist eine wenig beachtete, aber höchst produktive Dimension im Schaffen des Bielefelder Historikers Reinhart Koselleck. Damit wertete er die bildliche Dimension der Geschichte und ihrer Erforschung auf, lange bevor von einem »Iconic Turn« die Rede war. Die Beiträger_innen des Bandes setzen sich umfassend mit Kosellecks Bildpraxis auseinander und verbinden sie mit seinen Forschungen zur Begriffsgeschichte, Historik, Erinnerung und körperlich-sinnlichen Wahrnehmung des Politischen. Die Ergebnisse des Bandes dokumentieren zudem das Projekt des forschenden Ausstellens und gehen in weiten Teilen auf eine Ausstellung zurück, die 2018 an drei Orten in Bielefeld gezeigt wurde.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Kunsthistoriker Peter Geimer freut sich über den von Bettina Brandt und Britta Hochkirchen herausgegebenen Band mit Beiträgen zur Fotosammlung des Historikers Reinhart Koselleck. Der fotografierende Historiker (und mit ihm seine Exegeten in diesem Band) eröffnet dem Rezensenten ein nahezu vollständiges Bild historischer Orte und ausgewählter Alltagsmotive, indem er sie kontextualisiert und das Karl-Marx-Denkmal in Chemnitz z. B. zusammen mit dem Blumebeet und dem Parkplatz ablichtet. Darüber hinaus geben die Beiträge im Band dem Rezensenten Hinweise auf Kosellecks wissenschaftliches Selbstverständnis: Rekonstruktion von Geschichte funktioniert demnach nicht chronologisch, sondern schlaglichtartig, wie bei der fotografischen Abbildung der Welt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2021Der Historiker als Fotograf: Über Reinhart Kosellecks Bilder
Die Vergangenheit studiert man in Schriftdokumenten, ihre Erkenntnis ist aber auch ein Gegenstand der Einbildungskraft. Nicht zufällig haben Historiker ihre Tätigkeit immer wieder mit Metaphern aus dem Bereich des Sichtbaren beschrieben. So vergleicht Marc Bloch die Tätigkeit des Historikers mit der Rekonstruktion eines nur lückenhaft überlieferten Films: nur das letzte Bild sei vollständig erhalten, um die anderen rekonstruieren zu können, müsse der Historiker "die Spule zunächst einmal zurücklaufen lassen". Blochs Vergleich vermittelt ein recht zuversichtliches Bild von der Wiederherstellbarkeit des Vergangenen. Denn aller Lückenhaftigkeit der Überlieferung zum Trotz imaginiert es eine kontinuierliche Kette von Bildern und Ereignissen, die sich chronologisch bis an ihrem Ursprung zurückspulen lassen.
Der Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck hat zur Beschreibung geschichtlicher "Erfahrungsräume" ein ganz anderes Bild gewählt. Die Überlieferung, so Koselleck in Anlehnung an eine Formulierung seines Kollegen Christian Meier, sei "dem Glasauge einer Waschmaschine zu vergleichen, hinter dem dann und wann dieses oder jenes bunte Stück der Wäsche erscheint, die allesamt im Bottich enthalten ist". Das im Glasauge Erkennbare lässt ein chronologisches Erzählen nicht zu. Erkennbar ist jeweils ein unvollständiges, stillgestelltes Bild, alles andere verschwindet in der Latenz des historischen Reservoirs. Das Vergleichsmedium der Geschichte wäre dann nicht - wie bei Bloch - der kontinuierlich ablaufende Film, sondern eher die Fotografie.
Damit ist das Stichwort für den kürzlich erschienenen Band "Reinhart Koselleck und das Bild" gegeben. Wie die Beiträge zeigen, hat Koselleck seiner Geschichtstheorie nicht nur Sprachbilder unterlegt, hat nicht nur zeitlebens Bilddokumente gesammelt, sondern auch selbst fotografiert. Dass Historiker neben Texten auch Bildquellen auswerten, ist seit langem nichts Ungewöhnliches. Im Falle Kosellecks kommt mit der eigenen Bildproduktion aber noch eine andere Dimension des Bildgebrauchs hinzu.
Die Beiträge behandeln eine Auswahl der über dreißigtausend Aufnahmen, die das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte in Marburg aufbewahrt: auf Reisen entstandene Fotos von Erinnerungsorten oder Stätten des politischen Totenkults, aber auch Motive der Alltagskultur, in denen Koselleck etwa die historische Bedeutung des Pferdes als Herrschaftssymbol bis in sein Nachleben als Firmenzeichen auf einer Autokarosserie verfolgt.
Wie die Beiträge der Herausgeberinnen zeigen, war das Fotografieren für Koselleck eine eigene Form der Erkenntnis in der Annäherung an historische Orte. Es geht ihm weniger um eine neutrale Dokumentation, vielmehr um den Versuch, das Überlieferte im lebensweltlichen Umfeld seiner Nachwelt zu zeigen. Die Ansicht des Karl Marx-Denkmals in Chemnitz ist erst vollständig, wenn auch das biedere Blumenbeet davor und der Zugang zum Parkhaus zu erkennen sind - alles, was das Glasauge der Geschichte gerade zu sehen gab.
PETER GEIMER
"Reinhart Koselleck und das Bild".
Hrsg. von Bettina Brandt
und Britta Hochkirchen.
Bielefeld University Press, Bielefeld 2021. 246 S., geb., 33,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Vergangenheit studiert man in Schriftdokumenten, ihre Erkenntnis ist aber auch ein Gegenstand der Einbildungskraft. Nicht zufällig haben Historiker ihre Tätigkeit immer wieder mit Metaphern aus dem Bereich des Sichtbaren beschrieben. So vergleicht Marc Bloch die Tätigkeit des Historikers mit der Rekonstruktion eines nur lückenhaft überlieferten Films: nur das letzte Bild sei vollständig erhalten, um die anderen rekonstruieren zu können, müsse der Historiker "die Spule zunächst einmal zurücklaufen lassen". Blochs Vergleich vermittelt ein recht zuversichtliches Bild von der Wiederherstellbarkeit des Vergangenen. Denn aller Lückenhaftigkeit der Überlieferung zum Trotz imaginiert es eine kontinuierliche Kette von Bildern und Ereignissen, die sich chronologisch bis an ihrem Ursprung zurückspulen lassen.
Der Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck hat zur Beschreibung geschichtlicher "Erfahrungsräume" ein ganz anderes Bild gewählt. Die Überlieferung, so Koselleck in Anlehnung an eine Formulierung seines Kollegen Christian Meier, sei "dem Glasauge einer Waschmaschine zu vergleichen, hinter dem dann und wann dieses oder jenes bunte Stück der Wäsche erscheint, die allesamt im Bottich enthalten ist". Das im Glasauge Erkennbare lässt ein chronologisches Erzählen nicht zu. Erkennbar ist jeweils ein unvollständiges, stillgestelltes Bild, alles andere verschwindet in der Latenz des historischen Reservoirs. Das Vergleichsmedium der Geschichte wäre dann nicht - wie bei Bloch - der kontinuierlich ablaufende Film, sondern eher die Fotografie.
Damit ist das Stichwort für den kürzlich erschienenen Band "Reinhart Koselleck und das Bild" gegeben. Wie die Beiträge zeigen, hat Koselleck seiner Geschichtstheorie nicht nur Sprachbilder unterlegt, hat nicht nur zeitlebens Bilddokumente gesammelt, sondern auch selbst fotografiert. Dass Historiker neben Texten auch Bildquellen auswerten, ist seit langem nichts Ungewöhnliches. Im Falle Kosellecks kommt mit der eigenen Bildproduktion aber noch eine andere Dimension des Bildgebrauchs hinzu.
Die Beiträge behandeln eine Auswahl der über dreißigtausend Aufnahmen, die das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte in Marburg aufbewahrt: auf Reisen entstandene Fotos von Erinnerungsorten oder Stätten des politischen Totenkults, aber auch Motive der Alltagskultur, in denen Koselleck etwa die historische Bedeutung des Pferdes als Herrschaftssymbol bis in sein Nachleben als Firmenzeichen auf einer Autokarosserie verfolgt.
Wie die Beiträge der Herausgeberinnen zeigen, war das Fotografieren für Koselleck eine eigene Form der Erkenntnis in der Annäherung an historische Orte. Es geht ihm weniger um eine neutrale Dokumentation, vielmehr um den Versuch, das Überlieferte im lebensweltlichen Umfeld seiner Nachwelt zu zeigen. Die Ansicht des Karl Marx-Denkmals in Chemnitz ist erst vollständig, wenn auch das biedere Blumenbeet davor und der Zugang zum Parkhaus zu erkennen sind - alles, was das Glasauge der Geschichte gerade zu sehen gab.
PETER GEIMER
"Reinhart Koselleck und das Bild".
Hrsg. von Bettina Brandt
und Britta Hochkirchen.
Bielefeld University Press, Bielefeld 2021. 246 S., geb., 33,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»By taking Reinhart Koselleck as the pivot of a wider discussion of the use of images in historical scholarship, this edited volume provides readers with arguments that are theoretically grounded, while also part of a specific intellectual biography in postwar Germany.« Kerstin Maria Pahl, Contributions to the History of Concepts, 17 (2022) »This volume promises to be an important touchstone for recent scholarship addressing Koselleck's longstanding, yet underthematized interest in visual imagery and political iconography.« Sean Franzel, https://www.theoryculturesociety.org/blog, 01.12.2021 Besprochen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.04.2021, Peter Geimer https://clionauta.hypotheses.org, 21.06.2021 H-Soz-u-Kult, 17.08.2021, Ulrike Jureit Critique d'art, 57 (2021), Manon Fougère