Reinhold Seeberg ist als Dogmenhistoriker eine bedeutende Gestalt der Dogmengeschichte, als Sozialethiker hingegen weitgehend vergessen. Der Grund liegt in der programmatischen Verflochtenheit seiner Ethik mit den sozialen und politischen Verhältnissen seiner Zeit. In ihr verdichten sich Reflexionen zu den großen Transformationsprozessen, die Kaiserreich, Weimarer Republik und den NS-Staat überwölbten. Die drei Auflagen der Ethik Seebergs spiegeln in ihrer Veränderung und Fortschreibung jeweils die Reaktion Seebergs als Theologe und als herausragende Führungspersönlichkeit des Sozialprotestantismus. Das Spektrum reicht vom sozialen Reformwillen im Kaiserreich über staatssozialistische Vorstellungen als Alternative zur Weimarer Republik bis hin zu eugenischen Visionen in der NS-Zeit. Vor diesem Hintergrund werden die Implikationen der Transformationen im theologischen Denken Seebergs hervorgehoben und eine differenzierende Wertung jenseits pauschaler Verurteilung versucht.