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Produktdetails
  • rororo Taschenbücher
  • Verlag: Rowohlt TB.
  • Originaltitel: Mi
  • Gewicht: 263g
  • ISBN-13: 9783499226281
  • ISBN-10: 3499226286
  • Artikelnr.: 24056551
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.1998

Eine Kerbe für jeden Streit
So verwünscht man eine Familie: Su Tong erzählt vom Reis in China

China ist, so geht das Gerücht, ein Land der Einfriedungen und Mauern. Seine Kaiser trotzen dem Tod in vielfach verschachtelten Särgen, seine Häuser sind blind, die Fenster gehen nach innen, zum Hof hin, zu seiner Kriegskunst gehört die Beherrschung des Atems. Dieselbe Kraft, die in der materiellen Welt das Unbekannte kontrolliert, ist auch im Geistigen an der Macht. Das Denken der Chinesen wurzelt fest in seinen Prämissen, ihr Lebensstil gehorcht den Ahnen. Als kleinste Einheit in diesem Reich der Tradition gilt die Familie. Ein Netz der wechselseitigen Verpflichtungen verkettet ihre Geschlechter, ihr Hausaltar ist keinen Göttern, sondern dem Beistand der Vorfahren geweiht, in ihrem Innern haben die Wände Augen, vom verstohlenen Gedanken bis zur intimsten Körperfunktion bleibt der Verwandtschaft nichts verborgen.

Wulong, der Held in Su Tongs Roman "Reis", ist eine Ausnahme. Als Waisenkind fehlt ihm die sichere Herkunft, er springt auf fahrende Züge und übernachtet im Rinnstein. Auf dem Land träumt er von der Stadt und in der Stadt von den Reisfeldern des Nordens. In ihm verkörpert sich der ruhelose Geist, der in China keine Heimat findet. Die Unterkunft, in der er wie in einer Falle hängenbleibt, ist kein Zuhause, sondern ein Geschäft. Der Reishändler Feng macht ihn zum Schwiegersohn, um die Leibesfrucht seiner Tochter Zhiyun zu legalisieren. Die Schwangerschaft hat Zhiyuns Karriere als Mafiabraut zu einem jähen Ende gebracht. Von ihrem von Striemen gezeichneten Körper liest Wulong ab, was dem Unterweltchef Meister Liu ein Menschenleben wert ist.

Die Heirat in der Reishandlung "Zum großen Schwan" markiert nicht den Anfang einer Idylle. Die Mörder sind schon gedungen, die dem Leben des schmählichen Schwiegersohns ein Ende machen sollen. Als Wulong mit dem Verlust einer Zehe davonkommt, sind die Karten im Hause Feng verteilt. Es herrscht totaler Krieg, die Feindschaft aller gegen alle. Der Zustand der Familie spiegelt die Verhältnisse im großen.

Su Tong hat seinen Roman in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts angesiedelt. Nach dem Ende der Mandschu-Dynastie wird eine morbide gewordene Ordnung von westlichen Reizen überflutet. Man tanzt Tango und geht ins Lichtspielhaus "Zum großen Wohlstand". Die Männer verbringen ihre Zeit im Dampfbad oder halten sich in Spielhöllen und Opiumhöhlen auf. Während nicht abreißende Hungersnöte zerlumpte Bauernhorden in die Städte treiben, versetzen Bandenkriege die Bürger in Schrecken. Das Chaos erreicht seinen Höhepunkt mit dem sino-japanischen Krieg, der 1937 ausbricht. Nach den langen Messern des Meisters Liu sind es nun massakrierende Soldaten, die jubelnd durch die Straßen ziehen.

Das Familienbuch der Fengs umfaßt dreiundfünfzig Generationen und wächst ohne Unterlaß. Die Disziplin, die ihre Mitglieder zusammenhält, ist der Haß. Die Söhne hassen die Väter, die Männer die Frauen, die Frauen ihre Schwiegermütter und die Schwiegermütter ihre Enkel. Schreie, Flüche und Verhöhnungen punktieren den Alltag. Wulongs Sohn erstickt seine Schwester im Reis, dafür wird er vom Vater zum Krüppel geschlagen. Feng blendet den unbotsamen Erben mit letzter Kraft auf dem Sterbebett, das zweite Auge verliert Wulong auf der Folter, die ihm sein krimineller Stiefsohn angedeihen läßt. Die Blindheit macht Su Tongs Helden nicht zum einsamen Seher, ihm wird nur noch klarer, was alle Opfer der Familientyrannei schon immer wußten: Im Vergleich zum Leben ist das Sterben leicht. Der hektische Stadtbetrieb offenbart sich Wulong als ein "gewaltiger, reichgeschmückter Friedhof".

"Reis" ist ein roher, unverdaulicher Text, der dem Leser ins Gesicht geschleudert wird. "Die Schwierigkeiten und Probleme der Reishandlung überstiegen in ihrer Vielfalt, ihrem ständigen Wandel, ihren tiefen Wurzeln in der Vergangenheit die Vorstellungskraft der Zuhörer." Und doch werden an einigen Stellen unter der grotesk-obszönen Oberfläche des Alltags die Konturen anderer Umgangsformen ahnbar. Wulongs Schwiegertochter hat viele Kerben in den Rücken ihres Bettholzes gegraben. Jede steht für einen Familienstreit, "den sie, den weisen Ratschlägen ihrer Mutter folgend, ausgelöst hatte. ,Die einzige Art', hatte sie gesagt, ,wie du im Hause Feng vermeiden kannst, untergebuttert zu werden, ist, von Zeit zu Zeit eine Szene zu machen. Die Menschen unterdrücken die Schwachen und fürchten die Starken'". Gewalt ist der Selbstschutz, den das verkümmernde Individuum als letzte Brustwehr errichtet. Hinter einem Ziegelstein versteckt Wulong sein Vermögen vor der Familie. "Der kleine Holzkasten zwischen den Dachbalken schien Wulongs Seele zu enthalten, die in einem Augenblick wütend umhersprang, sich im nächsten weinend versteckte."

Die Kehrseite des gedemütigten Ichs sind die Machtphantasien. Der Reis, in dessen Lagerhallen Wulong wiederholt seine sexuelle Dominanz unter Beweis stellt, ist das Symbol einer gigantischen Potenz. Sein Duft berauscht ihn, für seine Vermehrung begeht er jede Untat. Am Ende stirbt Wulong, von Geschlechtskrankheiten zerfressen, aufgebahrt auf einer Zugladung seines weißen Reichtums. Er hat das Rattern der Räder ein Leben lang wie ein fernes Echo vernommen. Erst der Tod erlöst ihn von einem Leben, das der Tod war, und setzt Wulong - wie den strömenden Reis - in Bewegung. Su Tongs Buch spielt in den Zeiten der Anarchie. Doch es handelt vom Grauen der Stagnation, das China noch heute wie eine große verwünschte Familie verzaubert. INGEBORG HARMS

Su Tong: "Reis." Roman. Aus dem Chinesischen übersetzt von Peter Weber-Schäfer. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1997. 281 S., geb., 38,- DM.

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