Was noch geschehen kann
Er wolle nicht als Literaturhistoriker gesehen werden, sondern als Schriftsteller, «dessen Thema vorübergehend die Literaturgeschichte war», notierte Antal Szerb in sein Tagebuch; bis heute ist er einer der meistgelesenen ungarischen Autoren des 20ten Jahrhunderts. Sein
belletristisches Œuvre ist überschaubar klein und wurde erst spät auch in Deutschland entdeckt, als…mehrWas noch geschehen kann
Er wolle nicht als Literaturhistoriker gesehen werden, sondern als Schriftsteller, «dessen Thema vorübergehend die Literaturgeschichte war», notierte Antal Szerb in sein Tagebuch; bis heute ist er einer der meistgelesenen ungarischen Autoren des 20ten Jahrhunderts. Sein belletristisches Œuvre ist überschaubar klein und wurde erst spät auch in Deutschland entdeckt, als sein bedeutendstes episches Werk gilt der vorliegende, 1937 in Ungarn veröffentlichte Roman, der erst 40 Jahre später auf Deutsch herausgegeben wurde, in Neuübersetzung dann 2005 unter dem Titel «Reise im Mondlicht». «Szerb nicht gekannt zu haben ist ein Versäumnis» hieß es in der Süddeutschen Zeitung. Nach der Lektüre kann ich dem nur beipflichten, soviel vorab.
Mich an den Spielfilm «Brot und Tulpen» erinnernd geht auch hier auf einer Reise durch Italien die Frau verloren, nur ist es diesmal eine Hochzeitsreise. Der 36-jährige Mihály erzählt während der Fahrt seiner frisch angetrauten Erzsi von der Jugendzeit, von den Rollenspielen mit den Geschwistern Támas und Éva im Hause der Familie Ulpius, die ausnahmslos vom Tod handelten in immer neuen Varianten. Auf der Fahrt nach Rom steigt er nach einer Kaffeepause in den falschen Zug und landet allein in Ravenna. Schon in Venedig hatte er gemerkt, dass Erzsi seine große Begeisterung für die antiken Kulturen nicht teilen konnte, und so besichtigt er jetzt die berühmten Mosaiken in Ravenna allein. Er beschließt sogar kurzerhand, auch alleine weiter zu reisen, seine Sehnsucht nach Italien voll auszuleben, den bürgerlichen Konventionen und Zwängen vollends zu entfliehen, sein früheres Bohemeleben wieder aufzunehmen. So kommt er also nicht nur seiner Frau abhanden, sondern auch sich selbst, auf der Suche nach seiner wahren Identität einer rebellischen Jugendzeit nachtrauernd, die der angepasst lebende Unternehmersohn nach der Heirat nun endgültig entschwinden sieht.
In seiner Weltfremdheit zwischen Traum und Realität herumirrend, diffus einer «Reise im Mondlicht» gleichend, holen ihn seine Jugendträume immer wieder ein. Während seine Frau Erzsi die Realität verkörpert, steht sein bester Freund Támas für alle Utopien, seine Gedanken kreisen häufig um dessen Freitod. Er besucht seinen ins Kloster gegangenen Jugendfreund Ervin, trifft schließlich in Rom Éva wieder, seine Jugendliebe, die auch jetzt unerreichbar bleibt. Szerb baut um seine Protagonisten eine Reihe von wunderbaren Randfiguren auf, liebevoll gezeichnet und stimmig in die Handlung integriert. Es sind allesamt markante Typen wie der «Taschendieb» und Luftikus János Szepetneki, der als «brennender Tiger» erscheinende persische Potentat, der überaus verständnisvolle englische Arzt, die naive amerikanische Studentin, der exzentrische Religionswissenschaftler, schließlich Vannina, das magere römische Mädchen, die hellseherische Fähigkeiten zu haben scheint und ihn am Ende als Kindspate in die Realität zurückholt im Verlaufe einer typisch italienischen Familienfeier. Die wahrhaft klassisch zu nennende Katharsis endet mit den Worten: «Und solange man lebt, weiß man nicht, was noch geschehen kann».
Antal Szerb erzählt seine sentimentale Geschichte über die Zwänge des Lebens, über Liebe und Tod in einer klaren, unverschnörkelten Sprache, die so perfekt gegliedert ist, dass Kapitel und Abschnitte in fast schon mathematischer Logik stets punktgenau aufeinanderfolgen. Einen derart perfekt aufgebauten Plot erlebt man nicht so oft als Leser, man merkt ihm an, dass da ein Wissenschaftler am Werke war. Es ist eine Menge Lebensweisheit drin enthalten, viel Alltagsphilosophie bei einer sehr realitätsnahen Suche nach dem Sinn des Lebens, die sich oft in überaus stimmigen Dialogen artikuliert. Eine besinnliche Lektüre mithin, die viele Leser nicht unberührt lassen dürfte, was übrigens auch für die mitreißende Beschreibung von Bella Italia gilt, die mich in ihrer ehrfürchtigen Bewunderung unwillkürlich an Goethe erinnert hat.