Ein Wirtschaftsflüchtling macht sich auf die Reise ... Die Flucht aus der Heimat, der langeWeg mit Schlepperbanden, lebensgefährliche Bootspassagen und das Mißtrauen imAnkunftsland - was ein Deutscher im 18. Jahrhundert auf der Flucht nach Amerika erlebte ...Das Risiko ist hoch - allein der lange Weg zur Küste verzehrt den Großteil des für die Flucht aufgesparten Geldes. Immer neue Gebühren und Bestechungsgelder für Schlepper fallen an, mancher Reisende ist völlig mittellos, wenn er es endlich zum Hafen geschaffthat. Dort lagern Massen an Ausreisewilligen aus vielen Regionen Deutschlands in überteuerten und provisorischen Camps. Im Hafen herrschen fürchterliche Verhältnisse:alle wollen auf die Schiffe, Kinder ertrinken beim Versuch, auf eins zu gelangen. Die Schiffspassage ist gefürchtet. Zurecht - alle Schiffe sind überfüllt und viele in schrecklichem Zustand. Mancher Kahn sinkt bei der Überfahrt, auf allen ist der Proviant mager und schlecht, zuweilen sterben die Reisenden auf der Überfahrt wie die Fliegen. Manche ertrinken, manche sterben an Auszehrung, Hunger oder durch Krankheiten - die schwachen Kinder und Frauen meist zuerst.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2017Bericht von der Höllenfahrt nach Pennsylvanien
Gottlieb Mittelberger beschreibt, wie er Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nach Amerika auswanderte
Wer über die Geschichte der Migration forscht, muss manchmal den Menschen dankbar sein, die sich vor Migranten fürchteten. Patrick Gordon, Gouverneur von Pennsylvania, forderte 1727 "angemessene Maßnahmen" zum Erhalt von Frieden und Sicherheit. Er sorgte sich wegen der Menge der täglich eintreffenden Fremden, die "unsere Sprache und Gesetze" nicht kennten und bloß unter ihresgleichen siedelten. Auslöser war die Ankunft eines Schiffs mit "Palatines", Pfälzern, wie man die deutschsprachigen Einwanderer in den britischen Kolonien unabhängig von ihrer tatsächlichen Herkunft nannte. Ohne Gordons Sorgen gäbe es keine Schiffslisten, die Historiker und Genealogen auf die Spuren der Einwanderer führen. In der Liste für das Schiff "Osgood", das 1750 ankam, kann man die Unterschrift des Württembergers Gottlieb Mittelberger finden, dessen Bericht über seine Amerika-Reise nun in einer neuen Ausgabe vorliegt. Mit seinen anschaulichen Schilderungen ist das Buch die wohl meistzitierte Quelle zur frühen deutschen Amerika-Auswanderung.
Mittelberger, 1715 in Eberdingen geboren, reiste den Neckar und den Rhein hinab, dann von Rotterdam in die englische Hafenstadt Cowes und schließlich nach Pennsylvania, um eine in Heilbronn gebaute Orgel nach Philadelphia zu bringen, wo sie für eine Kirche der deutschen Lutheraner bestimmt war. So war die Finanzierung der Überfahrt gesichert. Andere deutsche Auswanderer kamen aber als "Redemptioner" nach Amerika und mussten ihre Reiseschulden abarbeiten. Als Knechte und Mägde standen sie für eine feste Zeit im Dienste desjenigen, der sie im Hafen von Philadelphia auslöste, indem er die Fahrtkosten beglich.
Im ersten Teil seines erstmals 1756 erschienenen Reiseberichts beschreibt Mittelberger, was den Auswanderern bevorstehe. Sie würden "wie die Heringe" in den Schiffen untergebracht. Das Wasser an Bord sei "sehr schwarz, dick und voller Würmer", der verdorbene Zwieback "voller roter Würmlein und Spinnennester". Zweiunddreißig Kinder seien auf seinem Schiff gestorben. Bei der Auslösung der "Redemptioner" würden die Familien auseinandergerissen, Eltern verkauften ihre Kinder "wie das Vieh". Den "Neuländern", die deutsche Auswanderer anwarben, wirft Mittelberger vor, negative Nachrichten aus Amerika zu unterdrücken.
Mittelberger sei "ein eher ungefestigter Charakter" gewesen, merkt Wolfgang Hörner in der Einleitung der Neuausgabe an. In Enzweihingen verlor er das Amt als Schulmeister, Mesner und Organist wegen einer Affäre mit einer Pfarrerstochter. Daraufhin verließ er Familie und Heimat. Auch in Pennsylvania beschäftigte ihn die lutherische Gemeinde eines Nachbarorts von Philadelphia als Lehrer und Organisten, bis er sich 1753 gegenüber einer Frau "sündlich und höchst ärgerlich" verhalten haben soll. Ein Jahr später reiste er nach Hause zurück. Sein Bericht schweigt zu diesen Angelegenheiten, bemerkenswert oft geht es darin allerdings um Geschlechterrollen und Sexualmoral.
Die neue Ausgabe gliedert Mittelbergers bisweilen seitenlange Absätze in kürzere Einheiten und macht den Text durch Worterklärungen in der Randspalte gut lesbar, belässt ihm jedoch bei Wortformen wie "gesaget" seine altersgemäße Fremdheit. Der Einleitung fehlt es aber an Sorgfalt. Namen werden falsch geschrieben, Mittelbergers Geburtsjahr stimmt nicht, genauso wenig hat er "den Treueschwur auf die englische Königin" geleistet (damals herrschte König George II.). Fragwürdig sind Hörners Zahlen wie die von "im Schnitt" drei- bis sechshundert Auswanderern pro Schiff. Die statistische Auswertung der Schiffslisten und anderer Quellen hat ergeben, dass der Schnitt auch während der Ausnahmezeit um die Jahrhundertmitte nicht viel höher als auf dreihundert stieg und sonst meist unter zweihundert blieb.
Der Bericht beginnt mit einer Widmung an den Herzog von Württemberg, der bereits Teile des Manuskripts durchgesehen habe und Mittelbergers Werk jetzt "in einer verbesserten Gestalt" erhalte. Daher lässt es sich zum einen als eine Art Wiedereingliederungsmaßnahme lesen, bei der ein Heimkehrer ganz im Sinne seines Landesherrn vor der Auswanderung warnt und sich selbst in günstiges Licht rückt.
Wenn andererseits im zweiten, mehr als doppelt so langen Teil die "Beschreibung des Landes Pennsylvanien" folgt, wird die Abschreckungsschrift auch ein Dokument der Neugier und der Faszination. Mittelberger überliefert das dortige Sprichwort, Pennsylvania sei "der Bauern ihr Himmel, der Handwerksleute ihr Paradies, der Beamten und Prediger ihre Hölle". Dass es die Hölle der Prediger sei, macht er am fehlenden Respekt vor den Geistlichen und am Bruch der Sonntagsruhe fest. Doch den Problemen stehen nicht nur in dem Sprichwort, sondern auch in Mittelbergers Bericht die Vorzüge gegenüber, die Pennsylvania biete: Das Land sei fruchtbar, der Verdienst in allen Berufen gut, niemand esse sein Brot ohne Butter oder Käse, die Armen seien versorgt, die Amerikaner lebten zudem "viel ruhiger und friedsamer" zusammen als die Europäer - wegen der "Freiheit, worin alle einander gleich sind".
THORSTEN GRÄBE
Gottlieb Mittelberger:
"Reise in ein neues Leben".
Verlag Das Kulturelle
Gedächtnis, Berlin 2017. 112 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gottlieb Mittelberger beschreibt, wie er Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nach Amerika auswanderte
Wer über die Geschichte der Migration forscht, muss manchmal den Menschen dankbar sein, die sich vor Migranten fürchteten. Patrick Gordon, Gouverneur von Pennsylvania, forderte 1727 "angemessene Maßnahmen" zum Erhalt von Frieden und Sicherheit. Er sorgte sich wegen der Menge der täglich eintreffenden Fremden, die "unsere Sprache und Gesetze" nicht kennten und bloß unter ihresgleichen siedelten. Auslöser war die Ankunft eines Schiffs mit "Palatines", Pfälzern, wie man die deutschsprachigen Einwanderer in den britischen Kolonien unabhängig von ihrer tatsächlichen Herkunft nannte. Ohne Gordons Sorgen gäbe es keine Schiffslisten, die Historiker und Genealogen auf die Spuren der Einwanderer führen. In der Liste für das Schiff "Osgood", das 1750 ankam, kann man die Unterschrift des Württembergers Gottlieb Mittelberger finden, dessen Bericht über seine Amerika-Reise nun in einer neuen Ausgabe vorliegt. Mit seinen anschaulichen Schilderungen ist das Buch die wohl meistzitierte Quelle zur frühen deutschen Amerika-Auswanderung.
Mittelberger, 1715 in Eberdingen geboren, reiste den Neckar und den Rhein hinab, dann von Rotterdam in die englische Hafenstadt Cowes und schließlich nach Pennsylvania, um eine in Heilbronn gebaute Orgel nach Philadelphia zu bringen, wo sie für eine Kirche der deutschen Lutheraner bestimmt war. So war die Finanzierung der Überfahrt gesichert. Andere deutsche Auswanderer kamen aber als "Redemptioner" nach Amerika und mussten ihre Reiseschulden abarbeiten. Als Knechte und Mägde standen sie für eine feste Zeit im Dienste desjenigen, der sie im Hafen von Philadelphia auslöste, indem er die Fahrtkosten beglich.
Im ersten Teil seines erstmals 1756 erschienenen Reiseberichts beschreibt Mittelberger, was den Auswanderern bevorstehe. Sie würden "wie die Heringe" in den Schiffen untergebracht. Das Wasser an Bord sei "sehr schwarz, dick und voller Würmer", der verdorbene Zwieback "voller roter Würmlein und Spinnennester". Zweiunddreißig Kinder seien auf seinem Schiff gestorben. Bei der Auslösung der "Redemptioner" würden die Familien auseinandergerissen, Eltern verkauften ihre Kinder "wie das Vieh". Den "Neuländern", die deutsche Auswanderer anwarben, wirft Mittelberger vor, negative Nachrichten aus Amerika zu unterdrücken.
Mittelberger sei "ein eher ungefestigter Charakter" gewesen, merkt Wolfgang Hörner in der Einleitung der Neuausgabe an. In Enzweihingen verlor er das Amt als Schulmeister, Mesner und Organist wegen einer Affäre mit einer Pfarrerstochter. Daraufhin verließ er Familie und Heimat. Auch in Pennsylvania beschäftigte ihn die lutherische Gemeinde eines Nachbarorts von Philadelphia als Lehrer und Organisten, bis er sich 1753 gegenüber einer Frau "sündlich und höchst ärgerlich" verhalten haben soll. Ein Jahr später reiste er nach Hause zurück. Sein Bericht schweigt zu diesen Angelegenheiten, bemerkenswert oft geht es darin allerdings um Geschlechterrollen und Sexualmoral.
Die neue Ausgabe gliedert Mittelbergers bisweilen seitenlange Absätze in kürzere Einheiten und macht den Text durch Worterklärungen in der Randspalte gut lesbar, belässt ihm jedoch bei Wortformen wie "gesaget" seine altersgemäße Fremdheit. Der Einleitung fehlt es aber an Sorgfalt. Namen werden falsch geschrieben, Mittelbergers Geburtsjahr stimmt nicht, genauso wenig hat er "den Treueschwur auf die englische Königin" geleistet (damals herrschte König George II.). Fragwürdig sind Hörners Zahlen wie die von "im Schnitt" drei- bis sechshundert Auswanderern pro Schiff. Die statistische Auswertung der Schiffslisten und anderer Quellen hat ergeben, dass der Schnitt auch während der Ausnahmezeit um die Jahrhundertmitte nicht viel höher als auf dreihundert stieg und sonst meist unter zweihundert blieb.
Der Bericht beginnt mit einer Widmung an den Herzog von Württemberg, der bereits Teile des Manuskripts durchgesehen habe und Mittelbergers Werk jetzt "in einer verbesserten Gestalt" erhalte. Daher lässt es sich zum einen als eine Art Wiedereingliederungsmaßnahme lesen, bei der ein Heimkehrer ganz im Sinne seines Landesherrn vor der Auswanderung warnt und sich selbst in günstiges Licht rückt.
Wenn andererseits im zweiten, mehr als doppelt so langen Teil die "Beschreibung des Landes Pennsylvanien" folgt, wird die Abschreckungsschrift auch ein Dokument der Neugier und der Faszination. Mittelberger überliefert das dortige Sprichwort, Pennsylvania sei "der Bauern ihr Himmel, der Handwerksleute ihr Paradies, der Beamten und Prediger ihre Hölle". Dass es die Hölle der Prediger sei, macht er am fehlenden Respekt vor den Geistlichen und am Bruch der Sonntagsruhe fest. Doch den Problemen stehen nicht nur in dem Sprichwort, sondern auch in Mittelbergers Bericht die Vorzüge gegenüber, die Pennsylvania biete: Das Land sei fruchtbar, der Verdienst in allen Berufen gut, niemand esse sein Brot ohne Butter oder Käse, die Armen seien versorgt, die Amerikaner lebten zudem "viel ruhiger und friedsamer" zusammen als die Europäer - wegen der "Freiheit, worin alle einander gleich sind".
THORSTEN GRÄBE
Gottlieb Mittelberger:
"Reise in ein neues Leben".
Verlag Das Kulturelle
Gedächtnis, Berlin 2017. 112 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main