Produktdetails
- Transfer Europa
- Verlag: Folio, Wien
- Seitenzahl: 129
- Deutsch
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 282g
- ISBN-13: 9783852561271
- ISBN-10: 3852561272
- Artikelnr.: 25253446
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2000Froschhaut in Honig
Eine Lückenbüßerin im Grenzgestrüpp: Olga Sedakova verreist
Eine russische Autorin reist 1984 als Ersatzfrau für Kafka in die sowjetische Westprovinz, in die Stadt Brjansk. Die Feier zum hundertsten Geburtstag des Prager Autors ist kurzfristig verboten worden, da er sowjetischen Betonköpfen "als Faschist im Geiste" gilt. Die von der Bezirksgesellschaft der Bücherfreunde aufgebotene Lückenbüßerin geht wie auf Eiern: Was darf man lesen, was ist schon wieder verboten? Bei Literaturbürokraten bekommt sie Aufschluß: "Nichts über Gott, das ist verboten. Über die Modernisten . . . na ja, über weniger bekannte, das geht." Wo Gott und die Halbgötter der Moderne verboten sind, liegt nicht nur die Literatur im argen.
Also verspricht die Dichterin, der Unverfänglichkeit halber, nur Übersetzungen zu lesen, vor hungrigen Provinzlern ist es absurderweise Ronsard aus dem sechzehnten Jahrhundert, im Pionierpalast bekommt die Jungmannschaft andere wunderliche Kost: "Ich las meine Übersetzungen aus ,Alice im Wunderland' - die armen Kinder lachten nicht, sie wußten nicht, was all das bedeutet." Von der Vorsitzenden der Bücherfreunde kommt alsbald das Echo: "In Moskau ist offenbar schon aller Unfug möglich, wenn sie solches Zeug wie diese ,Alice' drucken."
Die 1949 geborene Olga Sedakova, eine angesehene Lyrikerin, gibt in ihrer "Reise nach Brjansk" Innenansichten vom Bewußtsein einer russischen Intellektuellen kurz vor Beginn der Gorbatschowschen Frischluft-Ära. Der von ihr zutiefst verachteten offiziellen Kulturwüste stellt sie ihre eigene Kunstreligion gegenüber, feiert ihr selbsterlesenes Refugium aus weltliterarischen Schönheiten. Was in dem zähen Text alles zitiert wird, geht auf keine Kuhhaut. Fast fühlt man sich versucht, ob all der Andeutungen und Verweise auf die literarischen Götter ihres privaten Pantheons die Autorin in Olga Zitatowa umzutaufen. Doch was im Westen als monumentale Verschmocktheit abgetan werden müßte, ist im russischen Kontext von 1984 doch eine zu entschlüsselnde Geheimschrift, ein soziologisch relevantes Repertoire der geistigen Überlebensübungen von Intellektuellen. Die Zitate sind Erkennungszeichen für Gleichgesinnte. So entsteht ein Porträt der inoffiziellen Rückzugskultur kurz vor dem sowjetischen Ladenschluß. Gewidmet ist die "Reise nach Brjansk", neben "allen anderen Meistern dieses Genres", dem "Reisenden nach Petuschki". Gemeint ist Wenedikt Jerofejew, der mit seinem wunderbaren Roman "Moskau - Petuschki" (1969) den inoffiziellen Künstlern ein Kultbuch schenkte, das jahrelang im Samisdat zirkulierte, ein tragischer Wodka-Albtraum und eine hochprozentige literarische Zitatorgie.
Olga Sedakovas Arbeit von 1984 wirkt im doppelten Sinne unfrei, fremdbestimmt. Im selben Buch ist eine zweite Erzählung abgedruckt, die fünfzehn Jahre später entstanden ist. Sie ist ironischer, satirischer, schlechthin freier, auch wenn sie von Trauer spricht und ein Nachruf ist. Die "Reise nach Tartu und zurück" schildert den Weg der Autorin zum Begräbnis Jurij Lotmans (1922 bis 1993), des Strukturalisten und Kultursemiotikers, der an der Universität im estnischen Tartu, fern von der geistigen Öde der Allunionshauptstadt Moskau, eine von ideologischer Gängelung freie Wissenschaft betrieb - wofür ihm ungezählte russische Intellektuelle noch lange dankbar sein werden. Lotman erscheint in diesem Prosadenkmal als Vorbild an Wissensreichtum und kultivierter Höflichkeit.
Doch die Chronik dieser Reise ist auch ein Bericht aus dem Grenzgestrüpp. Es ist, als ob die einstige Ersatzfrau für Kafka endlich in jenem Kafkanien angekommen sei, das wieder den Namen Rußland trägt. Das Sowjetreich ist nicht mehr, und das europäisch gestimmte und raffinierte Estland ist endlich unabhängig. Die Reisende hat zwar ein Einreisevisum für Estland, aber kein Ausreisevisum aus Kafka-Rußland. Von ruppigen Grenzern aus dem Zug gejagt, geht die Dichterin unerschrocken die Schienen entlang ins nur eine Wegstunde entfernte Estland, das die russischen Trauergäste höflich empfängt. Dieses Land war auch früher schon, wie die Autorin in einem schneidenden Satz festhält, "spürbar freier von uns als wir selbst" - ein Stück Europa eben.
Dann kommt der Schrecken der Rückkehr. Die Grenzverletzerin ist plötzlich auch eine Gesetzesbrecherin. Die Schilderung von Diensthabenden, Türstehern und anderen vorschriftsgemäß nichtdenkenden Exekutoren führt anschaulich eine bürokratische Zähigkeit kosmischen Ausmaßes vor Augen. Die Autorin rächt sich für die erlittenen Schikanen, wie sie kann: mit ihrer Prosa, die bissige Bemerkungen zum nicht gerade ewigen, aber ewiggleichen Rußland bereithält. Es sind luzide Ansichten Rußlands, das ein Gefangener seiner selbst ist. Was die Dichterin, deren Lyrik religiöse Themen nie fremd waren, mit besonderem Mißtrauen wahrnimmt, ist die rasch gewendete, neue Glaubenslust: "Am bedrohlichsten erscheinen mir die Augen der neuen Frömmigkeit, hell und süßlich wie ein Zaubertrank. Solche Elixiere kochen die sibirischen Hexenmeister aus Sumpfgräsern und Froschhaut in Honig. Radioaktiv verseuchtes Salbungsöl, Totenzone. Mäßige dich, stolzer Mensch. Ich sage dir, mäßige dich! Dieser Zaubertrank ist stärker als jener, der dir vom Komsomol verabreicht wurde."
RALPH DUTLI
Olga Sedakova: "Reise nach Brjansk". Zwei Erzählungen. Aus dem Russischen übersetzt von Valeria Jäger und Erich Klein. Folio Verlag, Wien/Bozen 2000. 131 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Lückenbüßerin im Grenzgestrüpp: Olga Sedakova verreist
Eine russische Autorin reist 1984 als Ersatzfrau für Kafka in die sowjetische Westprovinz, in die Stadt Brjansk. Die Feier zum hundertsten Geburtstag des Prager Autors ist kurzfristig verboten worden, da er sowjetischen Betonköpfen "als Faschist im Geiste" gilt. Die von der Bezirksgesellschaft der Bücherfreunde aufgebotene Lückenbüßerin geht wie auf Eiern: Was darf man lesen, was ist schon wieder verboten? Bei Literaturbürokraten bekommt sie Aufschluß: "Nichts über Gott, das ist verboten. Über die Modernisten . . . na ja, über weniger bekannte, das geht." Wo Gott und die Halbgötter der Moderne verboten sind, liegt nicht nur die Literatur im argen.
Also verspricht die Dichterin, der Unverfänglichkeit halber, nur Übersetzungen zu lesen, vor hungrigen Provinzlern ist es absurderweise Ronsard aus dem sechzehnten Jahrhundert, im Pionierpalast bekommt die Jungmannschaft andere wunderliche Kost: "Ich las meine Übersetzungen aus ,Alice im Wunderland' - die armen Kinder lachten nicht, sie wußten nicht, was all das bedeutet." Von der Vorsitzenden der Bücherfreunde kommt alsbald das Echo: "In Moskau ist offenbar schon aller Unfug möglich, wenn sie solches Zeug wie diese ,Alice' drucken."
Die 1949 geborene Olga Sedakova, eine angesehene Lyrikerin, gibt in ihrer "Reise nach Brjansk" Innenansichten vom Bewußtsein einer russischen Intellektuellen kurz vor Beginn der Gorbatschowschen Frischluft-Ära. Der von ihr zutiefst verachteten offiziellen Kulturwüste stellt sie ihre eigene Kunstreligion gegenüber, feiert ihr selbsterlesenes Refugium aus weltliterarischen Schönheiten. Was in dem zähen Text alles zitiert wird, geht auf keine Kuhhaut. Fast fühlt man sich versucht, ob all der Andeutungen und Verweise auf die literarischen Götter ihres privaten Pantheons die Autorin in Olga Zitatowa umzutaufen. Doch was im Westen als monumentale Verschmocktheit abgetan werden müßte, ist im russischen Kontext von 1984 doch eine zu entschlüsselnde Geheimschrift, ein soziologisch relevantes Repertoire der geistigen Überlebensübungen von Intellektuellen. Die Zitate sind Erkennungszeichen für Gleichgesinnte. So entsteht ein Porträt der inoffiziellen Rückzugskultur kurz vor dem sowjetischen Ladenschluß. Gewidmet ist die "Reise nach Brjansk", neben "allen anderen Meistern dieses Genres", dem "Reisenden nach Petuschki". Gemeint ist Wenedikt Jerofejew, der mit seinem wunderbaren Roman "Moskau - Petuschki" (1969) den inoffiziellen Künstlern ein Kultbuch schenkte, das jahrelang im Samisdat zirkulierte, ein tragischer Wodka-Albtraum und eine hochprozentige literarische Zitatorgie.
Olga Sedakovas Arbeit von 1984 wirkt im doppelten Sinne unfrei, fremdbestimmt. Im selben Buch ist eine zweite Erzählung abgedruckt, die fünfzehn Jahre später entstanden ist. Sie ist ironischer, satirischer, schlechthin freier, auch wenn sie von Trauer spricht und ein Nachruf ist. Die "Reise nach Tartu und zurück" schildert den Weg der Autorin zum Begräbnis Jurij Lotmans (1922 bis 1993), des Strukturalisten und Kultursemiotikers, der an der Universität im estnischen Tartu, fern von der geistigen Öde der Allunionshauptstadt Moskau, eine von ideologischer Gängelung freie Wissenschaft betrieb - wofür ihm ungezählte russische Intellektuelle noch lange dankbar sein werden. Lotman erscheint in diesem Prosadenkmal als Vorbild an Wissensreichtum und kultivierter Höflichkeit.
Doch die Chronik dieser Reise ist auch ein Bericht aus dem Grenzgestrüpp. Es ist, als ob die einstige Ersatzfrau für Kafka endlich in jenem Kafkanien angekommen sei, das wieder den Namen Rußland trägt. Das Sowjetreich ist nicht mehr, und das europäisch gestimmte und raffinierte Estland ist endlich unabhängig. Die Reisende hat zwar ein Einreisevisum für Estland, aber kein Ausreisevisum aus Kafka-Rußland. Von ruppigen Grenzern aus dem Zug gejagt, geht die Dichterin unerschrocken die Schienen entlang ins nur eine Wegstunde entfernte Estland, das die russischen Trauergäste höflich empfängt. Dieses Land war auch früher schon, wie die Autorin in einem schneidenden Satz festhält, "spürbar freier von uns als wir selbst" - ein Stück Europa eben.
Dann kommt der Schrecken der Rückkehr. Die Grenzverletzerin ist plötzlich auch eine Gesetzesbrecherin. Die Schilderung von Diensthabenden, Türstehern und anderen vorschriftsgemäß nichtdenkenden Exekutoren führt anschaulich eine bürokratische Zähigkeit kosmischen Ausmaßes vor Augen. Die Autorin rächt sich für die erlittenen Schikanen, wie sie kann: mit ihrer Prosa, die bissige Bemerkungen zum nicht gerade ewigen, aber ewiggleichen Rußland bereithält. Es sind luzide Ansichten Rußlands, das ein Gefangener seiner selbst ist. Was die Dichterin, deren Lyrik religiöse Themen nie fremd waren, mit besonderem Mißtrauen wahrnimmt, ist die rasch gewendete, neue Glaubenslust: "Am bedrohlichsten erscheinen mir die Augen der neuen Frömmigkeit, hell und süßlich wie ein Zaubertrank. Solche Elixiere kochen die sibirischen Hexenmeister aus Sumpfgräsern und Froschhaut in Honig. Radioaktiv verseuchtes Salbungsöl, Totenzone. Mäßige dich, stolzer Mensch. Ich sage dir, mäßige dich! Dieser Zaubertrank ist stärker als jener, der dir vom Komsomol verabreicht wurde."
RALPH DUTLI
Olga Sedakova: "Reise nach Brjansk". Zwei Erzählungen. Aus dem Russischen übersetzt von Valeria Jäger und Erich Klein. Folio Verlag, Wien/Bozen 2000. 131 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ralph Dutli beschreibt sehr anschaulich die Reiseberichte der 1949 geborenen Lyrikerin Olga Sedakova, und führt den Leser dabei aufs Glatteis. Erst scheint es, als habe ihm das Buch gar nicht gefallen, wenn er abfällig bemerkt, "was in dem zähen Text alles zitiert wird, geht auf keine Kuhhaut", er möchte Sedakova sogar am liebsten in " Zitatowa" umtaufen. Dann beweist er jedoch, dass auch nicht so gelungene Texte interessant sein können, denn Sedakovas Zitate, die westlichen Lesern als "monumentale Verschmocktheit" erscheinen müssten, waren für Gleichgesinnte in der Sowjetunion eine "zu entschlüsselnde Geheimschrift", erklärt Dutli. So sei "Reise nach Brjansk" auch eine Beschreibung der "inoffiziellen Rückzugskultur". Dennoch scheint Dutli der zweite Reisebericht des Buchs, die "Reise nach Tartu", besser gefallen zu haben. Hier revanchiere sich Sedakova, die zum Begräbnis des Kultursemiotikers Jurij Lotman 1993 ins estnische Tartu fahren wollte, mit "bissigen Bermerkungen" an den "vorschriftsmäßig nicht denkenden Exekutoren" behördlicher Vorschriften, freut sich Dutli.
© Perlentaucher Medien GmbH
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