»Laß uns fahren, laß uns doch fahren!« Tiflis 1992: Die Regierung von Swiad Gamsachurdia ist zerbrochen, der Präsident außer Landes geflohen. Es herrscht Anarchie, paramilitärische Einheiten der Sakartwelos Mchedrioni (Georgische Reiter) patrouillieren durch Tiflis. In dieser Situation läßt sich der junge Georgier Gio von seinem ausgeflippten Freund Goglik dazu überreden, in seinem alten Lada mit ihm nach Aserbaidschan zu fahren. Dort wollen sie günstig Drogen einkaufen und nach Georgien schmuggeln. Der Plan ist, noch am selben Abend zurück zu sein. Die Verhältnisse in der Region sind jedoch verworren, Bürgerkrieg und Chaos erschweren und erleichtern zugleich ihr Vor haben. Gio und Goglik müssen zahlreiche Grenzen - darunter auch semioffizielle - passieren, Mittelsmänner aufsuchen und zu allem Überfluß den richtigen Weg durchs dunkle Niemandsland finden. Als sie die Orientierung völlig verloren haben und plötzlich auf sie geschossen wird, nimmt der Ausflug eine spannende Wendung ... Das Roadmovie wird zum Kriegsfilm. Der meistgelesene georgische Roman der letzten Jahrzehnte. Aka Morchiladze kommt zur Leipziger Buchmesse 2018.»Gios in geopolitischen und emotionalen Konflikten durchlebter Reifeprozeß ist sowohl unterhaltsam wie auch erhellend in bezug auf die ethnischen Spannungen in dieser Region. Sein wachsender Zynismus und seine Verzweiflung versinnbildlichen darüber hinaus Georgiens inneren Kampf zwischen diversen gesellschaftlichen Gruppen, die sich um die Macht streiten. Wie Morchiladze ironisch andeutet, führt der Kampf um Freiheit hin und wieder zu mehr Einschränkungen als die Unterdrückung, der man zu entkommen versucht.« (The Independent)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2018Chaos im
Kaukasus
Roadmovie: Aka Morchiladzes
Roman „Reise nach Karabach“
„Alles begann Ende Februar“, wird sich der Tifliser Kleinganove Gio später an sein Abenteuer in Karabach im Februar 1992 erinnern, als in Georgien „Bürgerkrieg oder so was“ herrschte. Mitten im größten postsowjetischen Durcheinander lässt sich Gio von ein paar Kumpels widerwillig zu einem Trip ins benachbarte Karabach überreden. Bergkarabach, wir erinnern uns dunkel, ist jenes mehrheitlich von Armeniern bewohnte Gebiet im heutigen Aserbaidschan, um das zwischen den beiden Ländern seit damals ein Konflikt schwelt. Die georgischen Gangsterfreunde, nicht eben Vertreter der organisierten Kriminalität, sondern Tagediebe, die ab und zu ein bisschen Geld im Drogenhandel verdienen, wissen wenig von Karabach und seinen Gefahren. Anfang 1992 ist dort Krieg, und wer wie Gio und seine Freunde die Lage so wenig versteht wie die Sprachen, die man dort spricht, hat kaum Chancen auf einen erfolgreichen Deal.
Aka Morchiladze, geboren 1966, schrieb 1992 mit der „Reise nach Karabach“, die nun erst auf Deutsch erscheint, einen georgischen Best- und Longseller. Die kurze, rasante Geschichte vom Karabach-Abenteuer des simpel gestrickten, aber überlebenstüchtigen Gio traf offenbar den Nerv einer ganzen Gesellschaft, der im georgischen Chaos der frühen Neunzigerjahre der Glaube an Demokratie und andere westliche Werte gründlich abhandengekommen zu sein scheint. Im politischen Vakuum schlägt die Stunde der Ganoven, aber Gio hat wenig Lust auf Stress. Dass er sich auch noch in Jana, eine Ex-Prostituierte, verliebt hat und mit ihr gar eine Familie gründen will, verstört sowohl seinen Vater wie seine Kumpels. Es ist schwer, der „Philosophie von Tbilissi“ zu entkommen, die lehrt, dass große Brüder stets besser wissen, was für einen gut ist. So bleibt Gio nichts Besseres übrig als die Reise nach Karabach.
Man versteht, dass Morchiladzes Roman zum Kultbuch geworden ist. In der mal rotzig-aggressiven, dann unversehens lyrischen Erzählstimme seines Helden nimmt eine Generation Gestalt an. Der junge, männliche Homo postsowjeticus, der später oft zum Klischee erstarrt ist, lässt sich hier in einer frühen Erscheinungsform betrachten: fatalistisch, träge und desillusioniert, aber ausgestattet mit guten Reflexen und Instinkten. Oder wie Gio: vielleicht doof, aber tough.
Mit einem Lada und einem Sack Geld nach Karabach zu fahren, um dort Drogen einzukaufen, ist 1992 sicher eine noch verrücktere Idee als je danach. Die Begegnung mit wehrwilligen Tataren hier und armenischen Freischärlern dort einigermaßen unbeschadet zu überstehen, erfordert allerdings ein Maß an Schläue und Robustheit, das über die normalen Tifliser Anforderungen hinaus geht. Während sich Gio an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht, fragt man sich, für welche Geschäftsmodelle er und die Seinen ihre Talente seither wohl eingesetzt haben. Politik? Militär? Business? Professionalisierte Kriminalität? Noch ist ja die Gios Generation nicht alt, sie erreicht derzeit etwa das fünfzigste Lebensjahr, sofern sie nicht dem gefährlichen Leben zum Opfer gefallen ist.
Was Morchiladzes Roman wohl auch in den Köpfen seiner Leser festgesetzt hat, ist die Idee von der Kaukasusregion als Raum des politisch-kulturell Absurden. Die Sowjetmacht ist implodiert, nun können sich die alten Konflikte und Fehden beinahe genüsslich neu ausbreiten. Man weiß nicht im Detail, wie nah Morchiladzes „Roadmovie“-Variante der historischen Wahrheit kommt, und hat nicht den Eindruck, dass den Autor die Motive des damaligen, bis heute fortwirkenden Konflikts besonders interessierten. Wie auch, er versteckt sich ja unter der Tarnkappe eines Tifliser Punks, der während seines grenzüberschreitenden Abenteuers selten voll bei Bewusstsein ist.
Entweder wird schwer gesoffen, oder er dämmert frisch verprügelt in irgendeinem Kerker vor sich hin. Eigentlich möchte Gio ja von dieser Welt rein gar nichts wissen, nichts von Karabach, aber auch nichts von der heimischen Welt, aus der ihm eben die Geliebte abhanden kam. Er sei wohl eine Art Don Quijote, schmeichelt ihm einmal eine russische Fotografin, die mit einem Journalisten an einem Buch arbeitet, Titel: „Reise nach Karabach“. Nein, er sei kein Don Quijote, entgegnet Gio. „Ich spiele nur seine Rolle. In Wirklichkeit bin ich Goglikos Kumpel und verstehe gar nichts von dieser Welt.“ „Sehr witzig“, erwidert die Journalistin. Ja wirklich, sehr witzig, diese nun doch noch zu entdeckende „Reise nach Karabach“.
CHRISTOPH BARTMANN
Man versteht, dass dieser
Roman ein Kultbuch wurde
Ein Don Quijote will der Held
dieser Geschichte nicht sein
Aka Morchiladze: Reise nach Karabach. Roman. Aus dem Georgischen von Iunona Guruli.
Weidle Verlag, Bonn 2018. 176 Seiten, 20 Euro. E-Book 13,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kaukasus
Roadmovie: Aka Morchiladzes
Roman „Reise nach Karabach“
„Alles begann Ende Februar“, wird sich der Tifliser Kleinganove Gio später an sein Abenteuer in Karabach im Februar 1992 erinnern, als in Georgien „Bürgerkrieg oder so was“ herrschte. Mitten im größten postsowjetischen Durcheinander lässt sich Gio von ein paar Kumpels widerwillig zu einem Trip ins benachbarte Karabach überreden. Bergkarabach, wir erinnern uns dunkel, ist jenes mehrheitlich von Armeniern bewohnte Gebiet im heutigen Aserbaidschan, um das zwischen den beiden Ländern seit damals ein Konflikt schwelt. Die georgischen Gangsterfreunde, nicht eben Vertreter der organisierten Kriminalität, sondern Tagediebe, die ab und zu ein bisschen Geld im Drogenhandel verdienen, wissen wenig von Karabach und seinen Gefahren. Anfang 1992 ist dort Krieg, und wer wie Gio und seine Freunde die Lage so wenig versteht wie die Sprachen, die man dort spricht, hat kaum Chancen auf einen erfolgreichen Deal.
Aka Morchiladze, geboren 1966, schrieb 1992 mit der „Reise nach Karabach“, die nun erst auf Deutsch erscheint, einen georgischen Best- und Longseller. Die kurze, rasante Geschichte vom Karabach-Abenteuer des simpel gestrickten, aber überlebenstüchtigen Gio traf offenbar den Nerv einer ganzen Gesellschaft, der im georgischen Chaos der frühen Neunzigerjahre der Glaube an Demokratie und andere westliche Werte gründlich abhandengekommen zu sein scheint. Im politischen Vakuum schlägt die Stunde der Ganoven, aber Gio hat wenig Lust auf Stress. Dass er sich auch noch in Jana, eine Ex-Prostituierte, verliebt hat und mit ihr gar eine Familie gründen will, verstört sowohl seinen Vater wie seine Kumpels. Es ist schwer, der „Philosophie von Tbilissi“ zu entkommen, die lehrt, dass große Brüder stets besser wissen, was für einen gut ist. So bleibt Gio nichts Besseres übrig als die Reise nach Karabach.
Man versteht, dass Morchiladzes Roman zum Kultbuch geworden ist. In der mal rotzig-aggressiven, dann unversehens lyrischen Erzählstimme seines Helden nimmt eine Generation Gestalt an. Der junge, männliche Homo postsowjeticus, der später oft zum Klischee erstarrt ist, lässt sich hier in einer frühen Erscheinungsform betrachten: fatalistisch, träge und desillusioniert, aber ausgestattet mit guten Reflexen und Instinkten. Oder wie Gio: vielleicht doof, aber tough.
Mit einem Lada und einem Sack Geld nach Karabach zu fahren, um dort Drogen einzukaufen, ist 1992 sicher eine noch verrücktere Idee als je danach. Die Begegnung mit wehrwilligen Tataren hier und armenischen Freischärlern dort einigermaßen unbeschadet zu überstehen, erfordert allerdings ein Maß an Schläue und Robustheit, das über die normalen Tifliser Anforderungen hinaus geht. Während sich Gio an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht, fragt man sich, für welche Geschäftsmodelle er und die Seinen ihre Talente seither wohl eingesetzt haben. Politik? Militär? Business? Professionalisierte Kriminalität? Noch ist ja die Gios Generation nicht alt, sie erreicht derzeit etwa das fünfzigste Lebensjahr, sofern sie nicht dem gefährlichen Leben zum Opfer gefallen ist.
Was Morchiladzes Roman wohl auch in den Köpfen seiner Leser festgesetzt hat, ist die Idee von der Kaukasusregion als Raum des politisch-kulturell Absurden. Die Sowjetmacht ist implodiert, nun können sich die alten Konflikte und Fehden beinahe genüsslich neu ausbreiten. Man weiß nicht im Detail, wie nah Morchiladzes „Roadmovie“-Variante der historischen Wahrheit kommt, und hat nicht den Eindruck, dass den Autor die Motive des damaligen, bis heute fortwirkenden Konflikts besonders interessierten. Wie auch, er versteckt sich ja unter der Tarnkappe eines Tifliser Punks, der während seines grenzüberschreitenden Abenteuers selten voll bei Bewusstsein ist.
Entweder wird schwer gesoffen, oder er dämmert frisch verprügelt in irgendeinem Kerker vor sich hin. Eigentlich möchte Gio ja von dieser Welt rein gar nichts wissen, nichts von Karabach, aber auch nichts von der heimischen Welt, aus der ihm eben die Geliebte abhanden kam. Er sei wohl eine Art Don Quijote, schmeichelt ihm einmal eine russische Fotografin, die mit einem Journalisten an einem Buch arbeitet, Titel: „Reise nach Karabach“. Nein, er sei kein Don Quijote, entgegnet Gio. „Ich spiele nur seine Rolle. In Wirklichkeit bin ich Goglikos Kumpel und verstehe gar nichts von dieser Welt.“ „Sehr witzig“, erwidert die Journalistin. Ja wirklich, sehr witzig, diese nun doch noch zu entdeckende „Reise nach Karabach“.
CHRISTOPH BARTMANN
Man versteht, dass dieser
Roman ein Kultbuch wurde
Ein Don Quijote will der Held
dieser Geschichte nicht sein
Aka Morchiladze: Reise nach Karabach. Roman. Aus dem Georgischen von Iunona Guruli.
Weidle Verlag, Bonn 2018. 176 Seiten, 20 Euro. E-Book 13,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2018Wer dieses Lied hört, ist in Lebensgefahr
Ach so, und außerdem war Krieg: Mit Aka Mortschiladse ist ein Autor aus Georgien zu entdecken, der sehr welthaltig, aber auch literarisch avanciert von den kaukasischen Wirren erzählt.
Wie soll das sein, wenn man ans Himmelstor kommt und eine Knarre in der Hand hält? Solches fragen sich die Figuren aus den Erzählungen Aka Mortschiladses, und dies mag einen ersten Hinweis geben auf die Mischung aus Komik und Kriegswirklichkeit, die seine Literatur durchzieht.
Denn ja, will es auch auf den ersten Blick nicht so scheinen oder zugespitzt klingen: Aka Mortschiladse ist ein Kriegsschriftsteller. Nur nicht so einer, der dieses Thema ständig in den Mittelpunkt stellt; er streift es eher beiläufig.
In dem Buch, das den 1966 in Tiflis geborenen Mortschiladse (nach anderer Schreibweise: Morchiladze) in Georgien berühmt gemacht hat, geraten die beiden Hauptfiguren aus Versehen in ein Kriegsgebiet: Die georgischen Schmalspurganoven Gio und Gogliko wollen eigentlich nur im Nachbarland Aserbaidschan Drogen kaufen, fahren aber, ohne es zu wissen, über die Grenze nach Bergkarabach und finden sich plötzlich mitten im blutigen Konflikt zwischen Tataren und Armeniern. Die Geschichte spielt im Jahr 1992, als in Georgien nach dem Zerfall der Sowjetunion selbst bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, von denen die jungen Männer allerdings vor ihrer Fahrt nicht allzu viel mitbekommen haben. Nun plötzlich wird mit einem Maschinengewehr auf ihren Wagen geschossen, dann werden sie von Tataren gefangengenommen: "Wir waren im Arsch. Ich hatte keine Ahnung, was abging, wohin sie uns brachten, was sie mit uns vorhatten."
Die Erzählung in der Ich-Form durch den prahlerisch und derb redenden Gio gibt dem Roman den Anstrich einer klassischen Road Novel, aber durch die unberechenbare Kriegssituation kippt die Stimmung bald ins Unheimliche. Als Gio bei einer Befreiungsaktion aus den Händen der Tataren in jene der Armenier gerät, sprechen die ihn zunächst jovial mit "Bruder" an, doch plötzlich ist er nicht mehr sicher, ob sie ihn nicht in Wahrheit als Gefangenen, als Verhandlungsmasse betrachten. Und das bringt ihn schließlich selbst in Versuchung, gewalttätig zu werden.
"Reise nach Karabach" ist ein Kurzroman, aber er hat dennoch Tiefe. Er endet mit der bitteren Erkenntnis, dass für den Protagonisten das Banditentum und die Todesgefahr mehr Reiz haben als sein Leben in Tiflis. Und die im Grunde melancholische Konstitution des Helden - er leidet am meisten an einer unglücklichen Liebe zu einer Prostituierten, die seine Familie nicht duldet, und droht zuletzt verrückt zu werden - wirft auch ein Licht auf die für Mortschiladse wesentliche Einsicht, dass die Geschichte ein nicht endendes Klagelied ist.
Diese Einsicht steht im Herzen von seinem literarischen Opus magnum "Santa Esperanza". Das sonderbare traditionelle Klagelied der fiktiven Inselgruppe im Schwarzen Meer, auf der das Buch spielt, scheint vom Gesang der Sirenen in der Odyssee abzustammen: Jedenfalls führt es für manche seiner Hörer zum Tod, in diesem Fall allerdings, weil sie sich unsterblich in die Sängerin verlieben und aus Verzweiflung umbringen.
Die phantasievoll ausgeschmückte Anekdote, die einen Bogen von der Antike zur heutigen Tourismusindustrie schlägt, zeigt, wie Mortschiladse die Welt der Märchen und Sagen augenzwinkernd mit jener der Moderne zu verknüpfen weiß: So gibt es neben Tonkonserven auf Santa Esperanza bald auch "Klageliederclubs", die allerdings von englischen Kolonialisten reglementiert werden.
Die Spannung zwischen autochthoner Kultur und Kontrolle von außen führt zum ernsten Kern des Buches. Auch hier kommt er beiläufig in die Erzählung, aber er kommt: der Krieg. Der erfundene Vielvölkerstaat mit der verheißungsvoll klingenden Hauptstadt Santa City, dessen Geschichte Mortschiladse unter vielfältigen Anspielungen auf georgische Geschichte und Kultur weit zurückspinnt und in dem sich außer Georgiern auch Osmanen, Genovesen und "Anglesen" tummeln, nicht gerechnet das fiktive Volk der "Sungalen": dieser Staat funktioniert leider nicht ohne gewalttätige Auseinandersetzungen, und am Ende (jedenfalls wenn man das Buch chronologisch liest), steht der Einmarsch einer britisch-türkisch-russischen Friedenstruppe.
Die konkrete historische Erzählsituation der "Reise nach Karabach" weicht in "Santa Esperanza" einer munter durch die Zeiten springenden. Der Erzähler in diesem "Kosmos aus Romanen", so der Untertitel, pflegt bisweilen einen distanzierten Ton wie im alten Epos, da können schon mal in drei Sätzen ganze Biographien oder sogar ganze Epochen abgehandelt werden. "Einige beginnen und andere beenden hier ihr Leben", heißt es etwa lakonisch in der Zusammenfassung eines der Unter-Bücher des Buches.
Ob man diese in linearer Reihenfolge lesen sollte, ist allerdings fraglich - und hier kommt der künstlerisch-experimentelle Zug von Mortschiladses Schreiben ins Spiel. Die Erzählung setzt sich zusammen aus vier mal neun einzelnen Heften, die nach den Symbolen Weinrebe, Brombeere, Distel und Säbel geordnet sind und die Struktur eines Kartenspiels haben.
Im Vorwort eines Erzählers, der als Exilgeorgier in London lebt und offenbar einiges mit dem Autor gemeinsam hat, wird die prinzipielle Eigenständigkeit jedes Erzählhefts betont und auch die Möglichkeit, die Hefte in verschiedener Reihenfolge oder ganz durcheinander zu lesen. Das erinnert an Romanexperimente wie die des magischen Realisten Julio Cortázar ("Rayuela") oder Italo Calvinos Tarotkarten-Roman "Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen". Die Aufhebung der Linearität hat aber wohl nicht nur spielerischen Selbstzweck, sondern erzielt im Hinblick auf das Kriegsthema einen bedrückenden Effekt: nämlich das Gefühl, dass nach dem Krieg immer schon wieder vor dem Krieg ist. Wenn also am Ende die viertausend Kampfstiefel der UN-Mission auf einer der Inseln landen und dort den Frieden garantieren sollen, weiß man schon aus früheren Heften, wie das misslingt.
Trotzdem ist auch Mortschiladses Großroman von Humor geprägt. Er entsteht etwa bei der karikierenden Darstellung eines britischen Reiseschriftstellers namens Edmond Clever und einer italienische Klatschspaltenjournalistin namens Monica Uso di Mare, die sich einen Reim auf das Leben der Esperanza-Inseln zu machen versuchen. Oder auch bei der bisweilen shandyhaft umständlichen Schilderung der dortigen Kaffeehaus- und Tabakpfeifenkultur zwischen morgen- und abendländischer Tradition. Auch der überraschende Wechsel der Textsorte vom Epos zum Theaterstück zum Wikipedia-Eintrag hat komische Effekte.
Der Märchenton und viele Anklänge an Schelmenromane verschiedener Literaturen und Epochen allerdings lassen - das war schon bei Cervantes oder Grimmelshausen früher nicht anders - leicht die bittere, manchmal katastrophale Realität dahinter vergessen. Dann plötzlich scheint sie grausam auf, wenn man begreift, dass man gerade die Schilderung eines Auftragsmordes in einem nicht enden wollenden Streit zwischen zwei seit Jahrhunderten verfeindeten Familien gelesen hat.
Vielleicht könnte man diese Erzählweise in einer etwas prekären Metapher mit dem vergleichen, was in Amerika "drive-by-shooting" heißt: ein Kugelhagel im Vorbeifahren mit potentiell verheerender Wirkung. Aber es bleibt nicht immer nur beim teilnahmslosen Bericht von solchen Katastrophen, man hört manchmal auch plötzlich bittere Philosophie durchsickern, etwa aus dem Mund einer weiteren Spiegelfigur des Autors, eines desillusionierten Schriftstellers names Luka: "Jeder Habenichts kann ein Gewehr halten. Zeigt mir aber einen Habenichts, der freiwillig darauf verzichtet."
JAN WIELE
Aka Morchiladze: "Reise nach Karabach". Roman.
Aus dem Georgischen von Iunona Guruli. Weidle Verlag, Bonn 2018. 174 S., br., 20,- [Euro].
Aka Mortschiladse: "Santa Esperanza". Ein Kosmos aus vielen Romanen.
Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani. Mitteldeutscher Verlag,
Halle 2018. 760 S., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ach so, und außerdem war Krieg: Mit Aka Mortschiladse ist ein Autor aus Georgien zu entdecken, der sehr welthaltig, aber auch literarisch avanciert von den kaukasischen Wirren erzählt.
Wie soll das sein, wenn man ans Himmelstor kommt und eine Knarre in der Hand hält? Solches fragen sich die Figuren aus den Erzählungen Aka Mortschiladses, und dies mag einen ersten Hinweis geben auf die Mischung aus Komik und Kriegswirklichkeit, die seine Literatur durchzieht.
Denn ja, will es auch auf den ersten Blick nicht so scheinen oder zugespitzt klingen: Aka Mortschiladse ist ein Kriegsschriftsteller. Nur nicht so einer, der dieses Thema ständig in den Mittelpunkt stellt; er streift es eher beiläufig.
In dem Buch, das den 1966 in Tiflis geborenen Mortschiladse (nach anderer Schreibweise: Morchiladze) in Georgien berühmt gemacht hat, geraten die beiden Hauptfiguren aus Versehen in ein Kriegsgebiet: Die georgischen Schmalspurganoven Gio und Gogliko wollen eigentlich nur im Nachbarland Aserbaidschan Drogen kaufen, fahren aber, ohne es zu wissen, über die Grenze nach Bergkarabach und finden sich plötzlich mitten im blutigen Konflikt zwischen Tataren und Armeniern. Die Geschichte spielt im Jahr 1992, als in Georgien nach dem Zerfall der Sowjetunion selbst bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, von denen die jungen Männer allerdings vor ihrer Fahrt nicht allzu viel mitbekommen haben. Nun plötzlich wird mit einem Maschinengewehr auf ihren Wagen geschossen, dann werden sie von Tataren gefangengenommen: "Wir waren im Arsch. Ich hatte keine Ahnung, was abging, wohin sie uns brachten, was sie mit uns vorhatten."
Die Erzählung in der Ich-Form durch den prahlerisch und derb redenden Gio gibt dem Roman den Anstrich einer klassischen Road Novel, aber durch die unberechenbare Kriegssituation kippt die Stimmung bald ins Unheimliche. Als Gio bei einer Befreiungsaktion aus den Händen der Tataren in jene der Armenier gerät, sprechen die ihn zunächst jovial mit "Bruder" an, doch plötzlich ist er nicht mehr sicher, ob sie ihn nicht in Wahrheit als Gefangenen, als Verhandlungsmasse betrachten. Und das bringt ihn schließlich selbst in Versuchung, gewalttätig zu werden.
"Reise nach Karabach" ist ein Kurzroman, aber er hat dennoch Tiefe. Er endet mit der bitteren Erkenntnis, dass für den Protagonisten das Banditentum und die Todesgefahr mehr Reiz haben als sein Leben in Tiflis. Und die im Grunde melancholische Konstitution des Helden - er leidet am meisten an einer unglücklichen Liebe zu einer Prostituierten, die seine Familie nicht duldet, und droht zuletzt verrückt zu werden - wirft auch ein Licht auf die für Mortschiladse wesentliche Einsicht, dass die Geschichte ein nicht endendes Klagelied ist.
Diese Einsicht steht im Herzen von seinem literarischen Opus magnum "Santa Esperanza". Das sonderbare traditionelle Klagelied der fiktiven Inselgruppe im Schwarzen Meer, auf der das Buch spielt, scheint vom Gesang der Sirenen in der Odyssee abzustammen: Jedenfalls führt es für manche seiner Hörer zum Tod, in diesem Fall allerdings, weil sie sich unsterblich in die Sängerin verlieben und aus Verzweiflung umbringen.
Die phantasievoll ausgeschmückte Anekdote, die einen Bogen von der Antike zur heutigen Tourismusindustrie schlägt, zeigt, wie Mortschiladse die Welt der Märchen und Sagen augenzwinkernd mit jener der Moderne zu verknüpfen weiß: So gibt es neben Tonkonserven auf Santa Esperanza bald auch "Klageliederclubs", die allerdings von englischen Kolonialisten reglementiert werden.
Die Spannung zwischen autochthoner Kultur und Kontrolle von außen führt zum ernsten Kern des Buches. Auch hier kommt er beiläufig in die Erzählung, aber er kommt: der Krieg. Der erfundene Vielvölkerstaat mit der verheißungsvoll klingenden Hauptstadt Santa City, dessen Geschichte Mortschiladse unter vielfältigen Anspielungen auf georgische Geschichte und Kultur weit zurückspinnt und in dem sich außer Georgiern auch Osmanen, Genovesen und "Anglesen" tummeln, nicht gerechnet das fiktive Volk der "Sungalen": dieser Staat funktioniert leider nicht ohne gewalttätige Auseinandersetzungen, und am Ende (jedenfalls wenn man das Buch chronologisch liest), steht der Einmarsch einer britisch-türkisch-russischen Friedenstruppe.
Die konkrete historische Erzählsituation der "Reise nach Karabach" weicht in "Santa Esperanza" einer munter durch die Zeiten springenden. Der Erzähler in diesem "Kosmos aus Romanen", so der Untertitel, pflegt bisweilen einen distanzierten Ton wie im alten Epos, da können schon mal in drei Sätzen ganze Biographien oder sogar ganze Epochen abgehandelt werden. "Einige beginnen und andere beenden hier ihr Leben", heißt es etwa lakonisch in der Zusammenfassung eines der Unter-Bücher des Buches.
Ob man diese in linearer Reihenfolge lesen sollte, ist allerdings fraglich - und hier kommt der künstlerisch-experimentelle Zug von Mortschiladses Schreiben ins Spiel. Die Erzählung setzt sich zusammen aus vier mal neun einzelnen Heften, die nach den Symbolen Weinrebe, Brombeere, Distel und Säbel geordnet sind und die Struktur eines Kartenspiels haben.
Im Vorwort eines Erzählers, der als Exilgeorgier in London lebt und offenbar einiges mit dem Autor gemeinsam hat, wird die prinzipielle Eigenständigkeit jedes Erzählhefts betont und auch die Möglichkeit, die Hefte in verschiedener Reihenfolge oder ganz durcheinander zu lesen. Das erinnert an Romanexperimente wie die des magischen Realisten Julio Cortázar ("Rayuela") oder Italo Calvinos Tarotkarten-Roman "Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen". Die Aufhebung der Linearität hat aber wohl nicht nur spielerischen Selbstzweck, sondern erzielt im Hinblick auf das Kriegsthema einen bedrückenden Effekt: nämlich das Gefühl, dass nach dem Krieg immer schon wieder vor dem Krieg ist. Wenn also am Ende die viertausend Kampfstiefel der UN-Mission auf einer der Inseln landen und dort den Frieden garantieren sollen, weiß man schon aus früheren Heften, wie das misslingt.
Trotzdem ist auch Mortschiladses Großroman von Humor geprägt. Er entsteht etwa bei der karikierenden Darstellung eines britischen Reiseschriftstellers namens Edmond Clever und einer italienische Klatschspaltenjournalistin namens Monica Uso di Mare, die sich einen Reim auf das Leben der Esperanza-Inseln zu machen versuchen. Oder auch bei der bisweilen shandyhaft umständlichen Schilderung der dortigen Kaffeehaus- und Tabakpfeifenkultur zwischen morgen- und abendländischer Tradition. Auch der überraschende Wechsel der Textsorte vom Epos zum Theaterstück zum Wikipedia-Eintrag hat komische Effekte.
Der Märchenton und viele Anklänge an Schelmenromane verschiedener Literaturen und Epochen allerdings lassen - das war schon bei Cervantes oder Grimmelshausen früher nicht anders - leicht die bittere, manchmal katastrophale Realität dahinter vergessen. Dann plötzlich scheint sie grausam auf, wenn man begreift, dass man gerade die Schilderung eines Auftragsmordes in einem nicht enden wollenden Streit zwischen zwei seit Jahrhunderten verfeindeten Familien gelesen hat.
Vielleicht könnte man diese Erzählweise in einer etwas prekären Metapher mit dem vergleichen, was in Amerika "drive-by-shooting" heißt: ein Kugelhagel im Vorbeifahren mit potentiell verheerender Wirkung. Aber es bleibt nicht immer nur beim teilnahmslosen Bericht von solchen Katastrophen, man hört manchmal auch plötzlich bittere Philosophie durchsickern, etwa aus dem Mund einer weiteren Spiegelfigur des Autors, eines desillusionierten Schriftstellers names Luka: "Jeder Habenichts kann ein Gewehr halten. Zeigt mir aber einen Habenichts, der freiwillig darauf verzichtet."
JAN WIELE
Aka Morchiladze: "Reise nach Karabach". Roman.
Aus dem Georgischen von Iunona Guruli. Weidle Verlag, Bonn 2018. 174 S., br., 20,- [Euro].
Aka Mortschiladse: "Santa Esperanza". Ein Kosmos aus vielen Romanen.
Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani. Mitteldeutscher Verlag,
Halle 2018. 760 S., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main