Ein Mann - er ist Schriftsteller von Beruf, nachdenklich und ein wenig konfliktscheu - will die USA bereisen. Zunächst nach New York City, dann weiter Richtung Maine. An seiner Seite eine meinungsstarke Osteuropäerin, die seit dreißig Jahren im Fränkischen zu Hause ist: seine Mutter.
Von Beginn an liegt ein Schatten auf der Unternehmung: Donald Trump ist seit kurzem Präsident der angeschlagenen Nation, und Celina hat ihrem Sohn kurz vor der Abreise eröffnet, dass sie, anstatt die zweite Reisewoche bei einem Jugendfreund in Texas zu verbringen, die ganze Zeit mit ihm zusammenbleiben wird. Dann hat sie auch noch einen Unfall. Mit gebrochener Nase und zwei blauschwarzen Veilchen zieht sie überall die Aufmerksamkeit wohlmeinender Fremder auf sich.
Der leise Ärger des Sohnes wird zunächst von Sorge überlagert. Auf der Autoreise an die Küste Neuenglands aber beginnt ein Konflikt aufzubrechen, der viel darüber verrät, wie Männer mit Frauen, wie Mütter mit Söhnen sprechen, ein Konflikt, der nicht nur das Leben der beiden und ihr Verhältnis zueinander prägt. Davon erzählt Matthias Nawrat in sehr komischen, fein austarierten Szenen. Immer im Hintergrund: America the beautiful, der derangierte Sehnsuchtsort.
Von Beginn an liegt ein Schatten auf der Unternehmung: Donald Trump ist seit kurzem Präsident der angeschlagenen Nation, und Celina hat ihrem Sohn kurz vor der Abreise eröffnet, dass sie, anstatt die zweite Reisewoche bei einem Jugendfreund in Texas zu verbringen, die ganze Zeit mit ihm zusammenbleiben wird. Dann hat sie auch noch einen Unfall. Mit gebrochener Nase und zwei blauschwarzen Veilchen zieht sie überall die Aufmerksamkeit wohlmeinender Fremder auf sich.
Der leise Ärger des Sohnes wird zunächst von Sorge überlagert. Auf der Autoreise an die Küste Neuenglands aber beginnt ein Konflikt aufzubrechen, der viel darüber verrät, wie Männer mit Frauen, wie Mütter mit Söhnen sprechen, ein Konflikt, der nicht nur das Leben der beiden und ihr Verhältnis zueinander prägt. Davon erzählt Matthias Nawrat in sehr komischen, fein austarierten Szenen. Immer im Hintergrund: America the beautiful, der derangierte Sehnsuchtsort.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Jutta Person liest Matthias Nawrats Roman über eine Mutter-Sohn-Reise im Sommer 2018 nach New York und weiter bis nach Maine mit Rührung. Wie der Autor das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn und die darunter liegenden Emotionen sowie die Umgebung und Zufallsbekanntschaften beschreibt, oft beiläufig, "aus dem Augenwinkel", findet Person stark, weil trotz aller Beiläufigkeit treffend. Heraus kommt laut Person ein "uramerikanisches Alltagspanorama" und ein komisches, feinfühliges, manchmal melancholisches Porträt von Mutter und Sohn.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021New York ist riesig, sagte meine Mutter
Familienaufstellung I: Matthias Nawrat schildert in "Reise nach Maine" ein kleines Unglück, das einen großen Konflikt offenbart.
Von Jan Wiele
Es ist ein Roman der sehr beiläufigen Sätze. Zum Beispiel beim Gespräch mit einem Taxifahrer, das etwas an eine Szene aus Jim Jarmuschs Film "Night on Earth" erinnert: "New York ist riesig, sagte meine Mutter. Absolut, sagte er. Er fragte, woher wir kämen. Aus einer Stadt in Franken, Bamberg, sagte meine Mutter. Interessant, sagte er. Das kenne er nicht. Es ist in Bayern, sagte meine Mutter."
Das scheinbar belanglose Gespräch offenbart doch subtil schon etwas von dem, worum sich dieser Roman über die auf den ersten Blick fast erschreckend schlicht beschriebene "Reise nach Maine" dreht, die der Buchtitel verspricht - nämlich um einen tiefen Konflikt zwischen zwei Generationen und zwischen zwei Menschen: Mutter und Sohn. Und so, wie der Erzähler nur annähernd, aber an abweichenden Lebensdaten erkennbar eben doch nicht ganz mit dem Autor übereinzustimmen scheint, ist auch der Roman weniger beiläufig, als er zunächst wirken mag.
Nicht nur ist diese Mutter eine Letztes-Wort-Fetischistin, sondern sie bringt ihren Sohn, obwohl dieser sich auf die Reise gefreut hat, bald durch ihre übergriffige Art in ein Dilemma. Er möchte ihr eigentlich eine Freude machen und kann sie zugleich doch manchmal nicht ertragen: "Etwas an dieser schrecklichen Rationalität und auch der Art und Weise, wie diese Rationalität ihr Leben zu durchdringen schien, machte mich plötzlich wütend. Wieder einmal hatte sie es geschafft, sich als Leidtragende hinzustellen und doch ihren Willen zu bekommen."
Dann aber kippt die Stimmung, als die Mutter im Hotel stürzt und sich die Nase bricht. Plötzlich ist sie wirklich die Leidtragende, und der Sohn hat Mitleid. Nachdem der Schreck überstanden ist und sie aus der Ambulanz kommen, scheint ihm das Gesicht der Mutter in der Abendsonne am East River zu leuchten wie das einer jungen Frau. Und mehr noch, der Sohn hat infolge ihres Sturzes nun Angstträume um seine Mutter, als wäre sie das Kind.
Trotz dieser Vertauschung der Familienrollen ist der Konflikt um die "schreckliche Rationalität" natürlich nicht weg, als die Reise dann aus New York hinaus Richtung Maine weitergeht. Die Mutter putzt und saugt etwa bei einem Tankstopp den Leihwagen, den der Sohn für sauber hielt. Man müsse das Auto "ja nicht zumüllen", sagt sie, während er keine Anzeichen dafür erkennt. Solche kleinen Zänkereien scheinen indes nur stellvertretend zu stehen für den größeren Zank, den alten zwischen Eltern und Kindern, um die sichere Arbeitsstelle. Sie bezeichnet seine Schriftstellerei als Hobby, er als Beruf.
Aber als etwas Unerwartetes passiert und die beiden von einem verwitweten, redseligen Mann aufgehalten werden, während sie eine Bleibe für die Nacht suchen, merkt man, dass eigentlich auch der Sohn die Rationalität seiner Mutter verinnerlicht hat, indem er ständig zum Aufbruch drängt und kein Stück von der Gelassenheit des Alten zu haben scheint. Aufschlussreich, wie der Sohn den Abschied von diesem Mann beschreibt: "Er sah aus, als schwebte er mit seiner Veranda im Nichts. Und wir fuhren los und schauten auf diese beleuchtete Insel zurück, bis sie hinter den Bäumen in der nächsten Kurve verschwand."
So ist die Reise im Grunde für beide eine Lockerungsübung. Und wieder folgt ein Rollentausch: War eben noch die Mutter die Überkorrekte, ist es nun der Sohn, der davor warnt, im amerikanischen Hinterland auf Privatbesitz einfach spazieren zu gehen, wie man es im deutschen öffentlichen Raum tut, und erst recht davor, dass die Mutter, obwohl nicht als Fahrerin des Leihwagens eingetragen, auch mal lenkt - einfach weil sie gerade Lust dazu hat. Die Beschreibungen und Dialoge solcher Szenen geben dem Buch einen Hauch von Komik, wenn der Sohn anerkennt: "Sie schaltete genau im richtigen Moment."
Aber gerade, als es witzig wird, wird es doch schnell wieder ernst. Die Mutter stellt plötzlich unumwunden klar: " Du interessierst dich nicht für mich als Person. Du machst es nur aus Pflichtgefühl."
Das stürzt den Sohn zuletzt in sehr grundsätzliche Fragen über seine Familie, über die Ehe seiner aus "Osteuropa" stammenden Eltern, die in Deutschland auseinanderging. Die Realität der Reise, die zu diesem Zeitpunkt an den Ort Camden in Maine geführt hat, geht dem Erzähler dabei über in die Welt seiner Erinnerung, ist eigentlich nur Folie für seine Heimatstadt und die Kindheit dort. Und eine Begegnung mit Künstlern in deren eigentümlichem Skulpturenpark aus riesigen Holz-Glas-Konstruktionen ("Es sind Leute, die ich früher kannte") gerät zum Spiegelbild der Familien- und Beziehungsaufstellung, die diese Geschichte für ihren Erzähler wohl letztlich darstellt.
Die Natur von Maine hilft schließlich dabei, eine Entfremdungserfahrung klar zu formulieren, wobei das Traurige daran kaum hervorgehoben wird, die Entfremdung wird vielmehr protokollarisch festgehalten. Matthias Nawrat erzählt, wie stets, sehr präzise und hält manchmal einfach nur fest, was an Sinneseindrücken festzuhalten ist - ohne jegliche Überhöhung. Das kann seinerseits befremdlich wirken, soll es ja vielleicht auch. Und wenn die Reise nach Maine dann scheinbar unspektakulär zu Ende geht, mit einer Rückkehr nach New York über Highways und Zuggleise, unter Stromleitungen und durch Industrieviertel, wähnt man sich in die Stimmung eines alten Liedes versetzt, das den einsamen Wanderer par excellence beschreibt: John Hartfords "Gentle on My Mind". Aber ganz beiläufig wird dann noch erwähnt, dass Mutter und Sohn die letzten Stunden der Reise im Bryant Park verbringen. Und der war am Anfang des Buches als beider Sehnsuchtsort beschrieben worden.
Matthias Nawrat: "Reise nach Maine". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 218 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Familienaufstellung I: Matthias Nawrat schildert in "Reise nach Maine" ein kleines Unglück, das einen großen Konflikt offenbart.
Von Jan Wiele
Es ist ein Roman der sehr beiläufigen Sätze. Zum Beispiel beim Gespräch mit einem Taxifahrer, das etwas an eine Szene aus Jim Jarmuschs Film "Night on Earth" erinnert: "New York ist riesig, sagte meine Mutter. Absolut, sagte er. Er fragte, woher wir kämen. Aus einer Stadt in Franken, Bamberg, sagte meine Mutter. Interessant, sagte er. Das kenne er nicht. Es ist in Bayern, sagte meine Mutter."
Das scheinbar belanglose Gespräch offenbart doch subtil schon etwas von dem, worum sich dieser Roman über die auf den ersten Blick fast erschreckend schlicht beschriebene "Reise nach Maine" dreht, die der Buchtitel verspricht - nämlich um einen tiefen Konflikt zwischen zwei Generationen und zwischen zwei Menschen: Mutter und Sohn. Und so, wie der Erzähler nur annähernd, aber an abweichenden Lebensdaten erkennbar eben doch nicht ganz mit dem Autor übereinzustimmen scheint, ist auch der Roman weniger beiläufig, als er zunächst wirken mag.
Nicht nur ist diese Mutter eine Letztes-Wort-Fetischistin, sondern sie bringt ihren Sohn, obwohl dieser sich auf die Reise gefreut hat, bald durch ihre übergriffige Art in ein Dilemma. Er möchte ihr eigentlich eine Freude machen und kann sie zugleich doch manchmal nicht ertragen: "Etwas an dieser schrecklichen Rationalität und auch der Art und Weise, wie diese Rationalität ihr Leben zu durchdringen schien, machte mich plötzlich wütend. Wieder einmal hatte sie es geschafft, sich als Leidtragende hinzustellen und doch ihren Willen zu bekommen."
Dann aber kippt die Stimmung, als die Mutter im Hotel stürzt und sich die Nase bricht. Plötzlich ist sie wirklich die Leidtragende, und der Sohn hat Mitleid. Nachdem der Schreck überstanden ist und sie aus der Ambulanz kommen, scheint ihm das Gesicht der Mutter in der Abendsonne am East River zu leuchten wie das einer jungen Frau. Und mehr noch, der Sohn hat infolge ihres Sturzes nun Angstträume um seine Mutter, als wäre sie das Kind.
Trotz dieser Vertauschung der Familienrollen ist der Konflikt um die "schreckliche Rationalität" natürlich nicht weg, als die Reise dann aus New York hinaus Richtung Maine weitergeht. Die Mutter putzt und saugt etwa bei einem Tankstopp den Leihwagen, den der Sohn für sauber hielt. Man müsse das Auto "ja nicht zumüllen", sagt sie, während er keine Anzeichen dafür erkennt. Solche kleinen Zänkereien scheinen indes nur stellvertretend zu stehen für den größeren Zank, den alten zwischen Eltern und Kindern, um die sichere Arbeitsstelle. Sie bezeichnet seine Schriftstellerei als Hobby, er als Beruf.
Aber als etwas Unerwartetes passiert und die beiden von einem verwitweten, redseligen Mann aufgehalten werden, während sie eine Bleibe für die Nacht suchen, merkt man, dass eigentlich auch der Sohn die Rationalität seiner Mutter verinnerlicht hat, indem er ständig zum Aufbruch drängt und kein Stück von der Gelassenheit des Alten zu haben scheint. Aufschlussreich, wie der Sohn den Abschied von diesem Mann beschreibt: "Er sah aus, als schwebte er mit seiner Veranda im Nichts. Und wir fuhren los und schauten auf diese beleuchtete Insel zurück, bis sie hinter den Bäumen in der nächsten Kurve verschwand."
So ist die Reise im Grunde für beide eine Lockerungsübung. Und wieder folgt ein Rollentausch: War eben noch die Mutter die Überkorrekte, ist es nun der Sohn, der davor warnt, im amerikanischen Hinterland auf Privatbesitz einfach spazieren zu gehen, wie man es im deutschen öffentlichen Raum tut, und erst recht davor, dass die Mutter, obwohl nicht als Fahrerin des Leihwagens eingetragen, auch mal lenkt - einfach weil sie gerade Lust dazu hat. Die Beschreibungen und Dialoge solcher Szenen geben dem Buch einen Hauch von Komik, wenn der Sohn anerkennt: "Sie schaltete genau im richtigen Moment."
Aber gerade, als es witzig wird, wird es doch schnell wieder ernst. Die Mutter stellt plötzlich unumwunden klar: " Du interessierst dich nicht für mich als Person. Du machst es nur aus Pflichtgefühl."
Das stürzt den Sohn zuletzt in sehr grundsätzliche Fragen über seine Familie, über die Ehe seiner aus "Osteuropa" stammenden Eltern, die in Deutschland auseinanderging. Die Realität der Reise, die zu diesem Zeitpunkt an den Ort Camden in Maine geführt hat, geht dem Erzähler dabei über in die Welt seiner Erinnerung, ist eigentlich nur Folie für seine Heimatstadt und die Kindheit dort. Und eine Begegnung mit Künstlern in deren eigentümlichem Skulpturenpark aus riesigen Holz-Glas-Konstruktionen ("Es sind Leute, die ich früher kannte") gerät zum Spiegelbild der Familien- und Beziehungsaufstellung, die diese Geschichte für ihren Erzähler wohl letztlich darstellt.
Die Natur von Maine hilft schließlich dabei, eine Entfremdungserfahrung klar zu formulieren, wobei das Traurige daran kaum hervorgehoben wird, die Entfremdung wird vielmehr protokollarisch festgehalten. Matthias Nawrat erzählt, wie stets, sehr präzise und hält manchmal einfach nur fest, was an Sinneseindrücken festzuhalten ist - ohne jegliche Überhöhung. Das kann seinerseits befremdlich wirken, soll es ja vielleicht auch. Und wenn die Reise nach Maine dann scheinbar unspektakulär zu Ende geht, mit einer Rückkehr nach New York über Highways und Zuggleise, unter Stromleitungen und durch Industrieviertel, wähnt man sich in die Stimmung eines alten Liedes versetzt, das den einsamen Wanderer par excellence beschreibt: John Hartfords "Gentle on My Mind". Aber ganz beiläufig wird dann noch erwähnt, dass Mutter und Sohn die letzten Stunden der Reise im Bryant Park verbringen. Und der war am Anfang des Buches als beider Sehnsuchtsort beschrieben worden.
Matthias Nawrat: "Reise nach Maine". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 218 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.10.2021Du drehst dich im Kreis
Matthias Nawrats Roman über einen Roadtrip als Liebesbeweis
„Im Sommer 2018 brach ich mit meiner Mutter zu einer Reise in die USA auf.“ Dieser stocknüchterne, ein bisschen langweilige, gänzlich undramatische Erstsatz verdeckt so etwas wie einen schwer zu löschenden Flächenbrand, denn er enthält mindestens vier Komponenten, die unter der Oberfläche miteinander reagieren: Sommer, Mutter, ich und USA. Der Sommer 2018, das waren unendlich heiße Wochen eines vorpandemischen Jahres, in denen man überall auf der Nordhalbkugel geplättet nach Schatten suchte.
In dieser Sommerhitze lässt der Schriftsteller Matthias Nawrat einen etwas stoffeligen Schriftsteller mit seiner dynamischen Mutter an der amerikanischen Ostküste entlang reisen – ein literarischer Roadtrip, auf dem der Ich-Erzähler Land und Leute von New York City bis ins Küstenstädtchen Camden, Maine, mit kleinen, präzisen Skizzen porträtiert und sich dabei selbst als Teil einer Familiengeschichte beobachtet, die vermeintlich undramatisch ist, aber voller Tücken steckt.
Genauer gesagt, steigert sich die Reise zu einem anfangs verhaltenen, dann immer deutlicheren Pingpong passiv-aggressiver Signale – wobei so eine Zuspitzung der Mischung aus „anstrengend, aber doch auch schön“ nicht gerecht würde, die diese Mutter-Sohn-Reise kennzeichnet. Der Schriftsteller protokolliert nicht nur seine Wut, sondern auch die Freude darüber, wenn der Mutter etwas gefällt; er lässt sich von ihrer jugendlichen Begeisterung anstecken, fürchtet sich vor ihrem Pragmatismus oder stellt sich ihre Jugend in Polen vor. Gleichzeitig ist aber auch die mütterliche Vorwurfs- und Klagemechanik am Werk. „Sie behauptete seit einigen Jahren immer wieder, dass weder mein Bruder noch ich gern Zeit mit ihr verbrachten, dass niemand von uns sie wirklich möge.“ Auch deshalb wird diese Reise unternommen, als Gegenbeweis gewissermaßen. Aber die alten Schnappmechanismen – sie die Leidtragende, er der Erpresste – lassen sich natürlich nicht so leicht aushebeln. Du drehst dich im Kreis, kontert er irgendwann, aber das gilt natürlich auch für ihn selbst.
Von Anfang an bestimmen besondere Umstände den emotionalen Verlauf: Der Sohn hatte eigentlich nur an eine Woche gedacht, aber er wird von der Mutter „ausgetrickst“ und deshalb verdoppelt sich die gemeinsame Zeit; nach einer Woche New York nehmen sich die beiden einen Mietwagen, um an die Küste des Bundesstaates Maine zu fahren. Dazu kommt, dass sich die Mutter gleich am ersten Tag verletzt: Sie stolpert in der Airbnb-Wohnung über einen Hocker und stürzt aufs Gesicht, die Nase scheint gebrochen. Im Krankenhaus von Brooklyn wird sie zwar erstversorgt, viel mehr passiert aber auch nicht, und weil die patente Mutter den physischen Schmerz anscheinend gut wegsteckt, geht der Urlaub weiter, begleitet von den mitfühlenden bis ehrlich besorgten Nachfragen wildfremder Menschen, ob in der New Yorker U-Bahn oder unterwegs in New Hampshire.
Der Motelbesitzer, die Kassiererin, der Künstler Mike oder die schwarze Chirurgin Maurice, bei der sie in Camden wohnen: Sie sind natürlich Zufallsbekanntschaften, aber zusammen ergeben sie ein uramerikanisches Alltagspanorama, das lange nachwirkt, gerade weil Matthias Nawrat alle Begegnungen wie nebenbei und aus dem Augenwinkel skizziert. Dieser Sensor für atmosphärische Feinheiten und vermeintlich Nebensächliches wirkt sich auch auf die Wahrnehmung der Umgebung aus: „Ein flüchtiges metallisches Hämmern drang an mein Ohr, dann das Geräusch eines aufdrehenden Motors aus einem der Gärten.“ Wie solche unterschwelligen Geräusche allmählich hochdrehen, zeigt sich dann auch in den Mutter-Sohn-Dialogen – und damit nochmal zurück zum passiv-aggressiven Pingpong. Er wirke schlecht gelaunt und erzähle nie, was ihn beschäftige, meint die Mutter. „Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren“, antwortet der Sohn. Sie: „Aber ich kann doch nicht die Einzige sein, die ständig etwas erzählt.“ Er: „Ich habe gerade nichts zu erzählen.“
Solche Dauerschleifen setzt die „Reise nach Maine“, die sich als Roman tarnt, voller Lakonie und Komik in Szene. Nawrat, der wie sein Ich-Erzähler polnische Eltern hat und in Bamberg aufwuchs, tariert diese spezielle Form der Feinfühligkeit, die Ausschläge sowohl ins Melancholische als auch ins Versponnene kennt, in seinen Romanen immer neu aus, zuletzt in „Der traurige Gast“ (2019) – einem Roman über einen empfindsamen Schriftsteller, der während des Attentats am Berliner Breitscheidplatz die Stadt und andere verloren wirkende Menschen beschreibt.
In „Reise nach Maine“ gibt es einen Moment, in dem der Sohn über den Geruch der mütterlichen Handcreme nachdenkt, die in ihm sowohl Abwehr („vielleicht sogar Ekel“) als auch Mitgefühl und Zuneigung auslöst. In ihren ersten Jahren in Deutschland hat die Mutter in einer Wäscherei und im Altenheim gearbeitet, seither ist sie allergisch auf einige Seifen. Auch jetzt, in Rente, cremt sie die Hände mehrmals täglich ein, was die Haut gepflegt wirken und glänzen lässt, wie der Sohn registriert. Aber ganz egal, wie gepflegt die Hände jetzt auch sind: Man muss an geradezu archaisch zerschundene Mutterhände denken, an den ganzen Terror von Aufopferung, Pflicht und Fürsorge. Dieser Kreislauf, den Nawrat mit lapidarer Raffinesse untersucht, hat auch seine tragikomischen Seiten, wenn etwa der Sohnespyjama wieder gefaltet auf dem Kopfkissen liegt. Das Karussell dreht sich immer weiter, der Schriftsteller weiß das und setzt sich zum Schreiben ins Café – zum Glück.
JUTTA PERSON
Sensor für atmosphärische Feinheiten: der Autor Matthias Nawrat.
Foto: J. Bauer
Matthias Nawrat:
Reise nach Maine.
Roman. Rowohlt,
Hamburg 2021.
218 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Matthias Nawrats Roman über einen Roadtrip als Liebesbeweis
„Im Sommer 2018 brach ich mit meiner Mutter zu einer Reise in die USA auf.“ Dieser stocknüchterne, ein bisschen langweilige, gänzlich undramatische Erstsatz verdeckt so etwas wie einen schwer zu löschenden Flächenbrand, denn er enthält mindestens vier Komponenten, die unter der Oberfläche miteinander reagieren: Sommer, Mutter, ich und USA. Der Sommer 2018, das waren unendlich heiße Wochen eines vorpandemischen Jahres, in denen man überall auf der Nordhalbkugel geplättet nach Schatten suchte.
In dieser Sommerhitze lässt der Schriftsteller Matthias Nawrat einen etwas stoffeligen Schriftsteller mit seiner dynamischen Mutter an der amerikanischen Ostküste entlang reisen – ein literarischer Roadtrip, auf dem der Ich-Erzähler Land und Leute von New York City bis ins Küstenstädtchen Camden, Maine, mit kleinen, präzisen Skizzen porträtiert und sich dabei selbst als Teil einer Familiengeschichte beobachtet, die vermeintlich undramatisch ist, aber voller Tücken steckt.
Genauer gesagt, steigert sich die Reise zu einem anfangs verhaltenen, dann immer deutlicheren Pingpong passiv-aggressiver Signale – wobei so eine Zuspitzung der Mischung aus „anstrengend, aber doch auch schön“ nicht gerecht würde, die diese Mutter-Sohn-Reise kennzeichnet. Der Schriftsteller protokolliert nicht nur seine Wut, sondern auch die Freude darüber, wenn der Mutter etwas gefällt; er lässt sich von ihrer jugendlichen Begeisterung anstecken, fürchtet sich vor ihrem Pragmatismus oder stellt sich ihre Jugend in Polen vor. Gleichzeitig ist aber auch die mütterliche Vorwurfs- und Klagemechanik am Werk. „Sie behauptete seit einigen Jahren immer wieder, dass weder mein Bruder noch ich gern Zeit mit ihr verbrachten, dass niemand von uns sie wirklich möge.“ Auch deshalb wird diese Reise unternommen, als Gegenbeweis gewissermaßen. Aber die alten Schnappmechanismen – sie die Leidtragende, er der Erpresste – lassen sich natürlich nicht so leicht aushebeln. Du drehst dich im Kreis, kontert er irgendwann, aber das gilt natürlich auch für ihn selbst.
Von Anfang an bestimmen besondere Umstände den emotionalen Verlauf: Der Sohn hatte eigentlich nur an eine Woche gedacht, aber er wird von der Mutter „ausgetrickst“ und deshalb verdoppelt sich die gemeinsame Zeit; nach einer Woche New York nehmen sich die beiden einen Mietwagen, um an die Küste des Bundesstaates Maine zu fahren. Dazu kommt, dass sich die Mutter gleich am ersten Tag verletzt: Sie stolpert in der Airbnb-Wohnung über einen Hocker und stürzt aufs Gesicht, die Nase scheint gebrochen. Im Krankenhaus von Brooklyn wird sie zwar erstversorgt, viel mehr passiert aber auch nicht, und weil die patente Mutter den physischen Schmerz anscheinend gut wegsteckt, geht der Urlaub weiter, begleitet von den mitfühlenden bis ehrlich besorgten Nachfragen wildfremder Menschen, ob in der New Yorker U-Bahn oder unterwegs in New Hampshire.
Der Motelbesitzer, die Kassiererin, der Künstler Mike oder die schwarze Chirurgin Maurice, bei der sie in Camden wohnen: Sie sind natürlich Zufallsbekanntschaften, aber zusammen ergeben sie ein uramerikanisches Alltagspanorama, das lange nachwirkt, gerade weil Matthias Nawrat alle Begegnungen wie nebenbei und aus dem Augenwinkel skizziert. Dieser Sensor für atmosphärische Feinheiten und vermeintlich Nebensächliches wirkt sich auch auf die Wahrnehmung der Umgebung aus: „Ein flüchtiges metallisches Hämmern drang an mein Ohr, dann das Geräusch eines aufdrehenden Motors aus einem der Gärten.“ Wie solche unterschwelligen Geräusche allmählich hochdrehen, zeigt sich dann auch in den Mutter-Sohn-Dialogen – und damit nochmal zurück zum passiv-aggressiven Pingpong. Er wirke schlecht gelaunt und erzähle nie, was ihn beschäftige, meint die Mutter. „Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren“, antwortet der Sohn. Sie: „Aber ich kann doch nicht die Einzige sein, die ständig etwas erzählt.“ Er: „Ich habe gerade nichts zu erzählen.“
Solche Dauerschleifen setzt die „Reise nach Maine“, die sich als Roman tarnt, voller Lakonie und Komik in Szene. Nawrat, der wie sein Ich-Erzähler polnische Eltern hat und in Bamberg aufwuchs, tariert diese spezielle Form der Feinfühligkeit, die Ausschläge sowohl ins Melancholische als auch ins Versponnene kennt, in seinen Romanen immer neu aus, zuletzt in „Der traurige Gast“ (2019) – einem Roman über einen empfindsamen Schriftsteller, der während des Attentats am Berliner Breitscheidplatz die Stadt und andere verloren wirkende Menschen beschreibt.
In „Reise nach Maine“ gibt es einen Moment, in dem der Sohn über den Geruch der mütterlichen Handcreme nachdenkt, die in ihm sowohl Abwehr („vielleicht sogar Ekel“) als auch Mitgefühl und Zuneigung auslöst. In ihren ersten Jahren in Deutschland hat die Mutter in einer Wäscherei und im Altenheim gearbeitet, seither ist sie allergisch auf einige Seifen. Auch jetzt, in Rente, cremt sie die Hände mehrmals täglich ein, was die Haut gepflegt wirken und glänzen lässt, wie der Sohn registriert. Aber ganz egal, wie gepflegt die Hände jetzt auch sind: Man muss an geradezu archaisch zerschundene Mutterhände denken, an den ganzen Terror von Aufopferung, Pflicht und Fürsorge. Dieser Kreislauf, den Nawrat mit lapidarer Raffinesse untersucht, hat auch seine tragikomischen Seiten, wenn etwa der Sohnespyjama wieder gefaltet auf dem Kopfkissen liegt. Das Karussell dreht sich immer weiter, der Schriftsteller weiß das und setzt sich zum Schreiben ins Café – zum Glück.
JUTTA PERSON
Sensor für atmosphärische Feinheiten: der Autor Matthias Nawrat.
Foto: J. Bauer
Matthias Nawrat:
Reise nach Maine.
Roman. Rowohlt,
Hamburg 2021.
218 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Unter der schimmernden Sprache liegen heimliche Abgründe. Wenn man sich am Ende fragt, ob überhaupt etwas passiert ist, merkt man, dass im Grunde alles passiert ist, was unter Menschen passieren kann. Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung 20210726